Vom Werden eines Schamanen
Galsan Tschinag: Schamane wird man nicht, das ist man. Das ist die eine Seite der Wahrheit. Die andere ist: Der Schamane wird aufgebaut. Es geht ja um ein besonderes Talent, um die Fähigkeit, mehr hören, mehr sehen, mehr wahrnehmen zu können als andere. Das ist in meiner Weltecke eine kostbare Gabe. Hierzulande gibt es geniale Menschen mit allen möglichen Fähigkeiten. Aber weil die Wissenschaft davor steht und die Paragrafen, haben die Menschen Angst, ihre Fähigkeiten zu zeigen, sie zu leben. Sie sind scheu oder schämen sich. Sie befürchten, in die Psychiatrie gesteckt zu werden. Deshalb verstecken sich viele Menschen mit ihren besonderen Fähigkeiten.
Bei uns achten die Leute darauf, wenn sich der erste Wahnsinn gelegt hat, welche Aussagen vom Schamanen, der Schamanin kommen. Wenn so etwas auftaucht, Hellsehen, Vorausschau, Gedankenübertragung, das wird bewusst gelebt, das ist kein Grund, sich zu schämen, sondern ein Grund, sich zu freuen. Vielleicht beginnt damit etwas Großes, etwas Geniales. Alle Menschen nehmen daran Anteil. Und fangen an, diesen Menschen aufzubauen, ihm Selbstsicherheit zu geben, der- oder diejenige soll seine/ihre Fähigkeiten weiterentwickeln. Jeder Schamane, jede Schamanin, jeder Khan (König) ist auch des Volkes gemeinsames Werk, alle werden aufgebaut, bestärkt in ihren Fähigkeiten. Die anfänglichen Quoten, dass man Zutreffendes aussagt oder vorhersagt, sind zum Verzweifeln niedrig. Ein junger Schamane macht zehn Aussagen, fünf sind falsch, fünf sind richtig. Aber die nomadische Gesellschaft ist eine sanfte, gutmütige Gesellschaft. Die nicht getroffenen Aussagen werden einfach weggeschickt, vergessen, der ist ja noch jung, der muss ja erst werden. Die wenigen zutreffenden Aussagen werden weitererzählt, groß propagiert, es wird Werbung gemacht. (Lacht) Dadurch kommen immer neue Erwachsene, und das sind die künftigen Kunden. Mit jedem neuen Kunden wird man sicherer. Man bekommt Festigkeit unter den Füßen, man bekommt Gewissheit in den Fingern, und man bekommt Klarheit im Kopf.
Und dann kommt noch hinzu: Auch beim Schamanen ist ein Teil Begabung, der Rest ist harte Arbeit, Bildung, Ausbildung, Lernen und nochmals Lernen. Ich bin mit etwa vier bis fünf Jahren schon in die Lehre gekommen. Die erste Ausbildungsstunde – schrecklich.
Die Schamanin2 hat erkannt, der Junge ist wach, der kann es aufnehmen. Deswegen hat sie sich mit mir abgequält und ich mich mit ihr. Zum Beispiel: In der ersten Stunde hatte ich einen Felsen anzusingen, musste einen hohen dunklen Felsen ansingen. Die Schamanin hat mir zwei Zeilen gesagt: »Du sollst so anfangen. Singe ihn an und sag mir dann, was der Fels zu dir sagt.«
Ich singe und singe … Nichts – tauber, toter Fels. Ich war auch überzeugt davon, dass der Fels mir nichts sagen würde. Was kann so ein tauber toter Fels mir sagen? Also war ich selbst nicht überzeugt. Dann wiederholten sich diese Stunden Tag für Tag. Jeden Tag dasselbe, bis zur Heiserkeit. Blasendruck, Darmdruck. Nein, nein, die lässt mich nicht gehen, lässt mich stehen, bei Hitze, bei Wind. Alle anderen Kinder spielen, spielen, ach wie schön. Ich möchte auch wegrennen. Aber die sitzt da und gerbt Felle und näht Sachen, kocht dies und jenes. Und ich soll wieder zum Felsen hin singen und wieder, weiter, weiter … Irgendwann ist die Grenze erreicht, dass ich anfange, so ein klein bisschen wahnsinnig zu werden, und dann höre ich plötzlich: Der Fels spricht doch. Aber das war nicht der Fels, den ich zu sehen und zu kennen geglaubt habe. Das war ein Fels in mir. In mir hat etwas gesprochen, ich habe in mir also den Felsen gesehen und ihn gespürt. Und dann wusste ich und weiß es seitdem: Alles ist in uns …
Mit jedem Patienten bekommt man mehr Wärme und Sanftmut in der Seele. Man verliebt sich in das Leben, in das Universum, in jeden Menschen, in jeden Patienten ein wenig. Ja, als Heiler muss man sich in jeden seiner Patienten ein bisschen verlieben. In jedem Mann einen Bruder, vielleicht in einem alten Mann einen Vater, in einem jüngeren Mann einen Sohn und in einer jüngeren Frau eine Tochter, in einer älteren Frau eine Mutter sehen. Wenn das also geschieht, dann ist man auf einem richtigen Wege. Ich werde immer besser. Das geschieht sogar innerhalb eines Seminars. Wenn ich die ersten drei Patienten weich geknetet habe, spüre ich in den Fingern die Gewissheit mehr als vorher. Von Patient zu Patient werde ich besser, von Erfolg zu Erfolg. Aber auch von Niederlage zu Niederlage. Jede Niederlage, jeder Patient, der sich gegen mich gewehrt, der blockiert hat und der mir eine Schlappe geschenkt hat, ist eine gute Lehre. Gemeint ist die schamanische Lehrmeisterin
So wie Patient und Arzt einander beeinflussen, so helfen sich auch Heiler und Patient. Aber der Patient hilft dem Heiler genauso. Wenn der Patient dem Heiler entgegenkommt und ihn annimmt, dann geschieht Heilung sehr schnell. Ich baue an dem gesundenden Patienten auf, und der Patient baut am Heiler genauso auf. Das ist gegenseitig. So wird der Schamane aufgebaut. Ich bin ja ein Ergebnis von vielen Jahren.
Klaus Kornwachs: Der Schamane ruft seine zehntausend Geister … Sind das deine Helfer?
GT: Ich bin der Sekretär der guten Geister, ich bin der Geisterdompteur. Ich bin der Schlafraum eines großen Heeres von Geistern, ich muss sie nur wecken. Ich unterhalte sie, und sie unterhalten mich. Ich sage ja, alles ist beseelt, begeistet, die ganze Natur ist begeistet. Ich verbünde mich mit den Kräften der Natur. Ich fühle mich als Teil, als Splitter des Universums, ich bin nicht getrennt. Wie ich in einem Gedicht sagte: Wenn ich Stein bin, bin ich einfach Stein, ich ruhe. Wenn ich durch die Steppe gehe, bin ich Gras, ich wachse, raschle, verdorre. Gehe ich im Wasser, dann fließe ich und verstehe die Sprache des Wassers. Alles hat seinen eigenen Geist, es gibt zum Beispiel gute und böse Steine. Manche Steine wollen in Ruhe gelassen werden. Das ergibt in heutigen Zeiten einen Doppelsinn, Uran ist ja ein Gestein, das man besser nicht mit sich herumträgt. Wenn ich mich vollkommen mit der Natur vereine, dann lege ich die Person Galsan weg, ich bin dann einfach Stein, ich habe keine andere Aufgabe. Wenn man diese Fähigkeit erreicht hat, steht einem die Natur zur Verfügung, steht einem bei, wenn man sie ruft. Ich weiß auch, ich bin vom Himmel geliebt, er steht hinter mir. Ich kann ihn jederzeit herbeibitten, herbeibeschwören, und er ist da. Die Gebete geben mir selbst Festigkeit.
Trance, Gesang, Widerstand
KK: Welche Technik benutzt du, um dieses Einssein mit allem zu erreichen? Ist das eine Art Meditation, ein Leerwerden, wie man es aus dem Buddhismus kennt?
GT: Die Schamanen machen das nicht, sie haben eine andere Technik. Aber die Schamanen können sich sehr schnell in die Lage der anderen versetzen. Sie heben ab, sie fahren aus sich heraus, gehen in Trance. Wenn man das als junger Mensch einigermaßen geübt und einige Male gut gekonnt hat, dann gelingt es einem immer leichter. Die ersten Male sind die schwierigsten. Ich habe mich mit Kräutern vollgeraucht, ich musste mich mit Gewalt verdummen, mich vergessen.
KK: Was ist Trance in diesem Verständnis? Ein Rauschzustand? Ein veränderter Bewusstseinszustand?
GT: Das ist ein Rausch, ja, ich berausche mich an meinem eigenen Gesang, an der eigenen Weisheit. Gesang, das bedeutet ja, Texte, Verse aus dem Stegreif zu singen. Man erfindet auch eine Weise, eine Melodie. Der Schamane ist immer gleichzeitig ein Dichter und Komponist, der seine Musik sofort realisiert. Welche Melodie ich mir wähle, das ist Spinnerei. Der Schamane versteht schon etwas vom Improvisieren. (Singt) Beliebig lang halten … Und wenn mir nichts einfällt, einfach wiederholen: Lei lei lei tralalala – frei gewählt.
KK: Wenn ich lange alleine bin, dann stelle ich plötzlich fest, dass ich zuweilen singe. Eine Melodie, die nicht aus meinem Repertoire kommt.
GT: Die Melodie hat einen gefunden.
KK: Eine völlig neue Melodie, und das für mich Verblüffende: Ich singe auch Silben und Worte dazu, die ich aber nicht verstehe. Ich kann auch nicht sagen, aus welcher Sprache ich singe und ob das überhaupt eine Sprache ist.
GT: Da wärst du ja auf dem richtigen Weg zum Schamanen. (Lacht) Die Melodien fliegen auf einen zu – genau so ist das. Man ertappt sich bei irgendeiner unverständlichen Melodie. Woher ist sie gekommen? Aus Brasilien oder aus Nepal, zu einem irgendwie hereingeflogen. (Singt) Und das passt sich meistens der Arbeit an, die man macht. Wenn ich Holz hacke (Singt) … Es ist auf dem Wege, sich zu einer Melodie zu entwickeln. (Singt) Das kann auch der Name von einem jungen Weib sein, das man irgendwo auf dem Bahnhof getroffen hat, wie man ihr den Koffer getragen und alles Gute gewünscht hat. Wie heißt das Mädelchen? (Singt)
Ja, man ertappt sich, und man wundert sich, aber keine Angst, bitte, wenn die Melodie einmal da gewesen ist, kommt sie immer wieder. Schau, alles hat seinen Schlüssel, sein Lied, Steine sind eingefrorener Gesang, sie singen dir, wenn du sie belebst. Stein ist mein Gefährte, der mit mir redet. Alles hat seinen Gesang, die Gräser, die Bäume, wenn eine Melodie zu dir kommt, singst du den Gesang des Lebens mit. Das...