Die Erde dreht sich bekanntlich einmal im Jahr um die Sonne. Von uns aus gesehen, scheint es aber so zu sein, dass die Sonne eine kreisförmige Bahn um die Erde beschreibt. Der Astrologie wird vielfach vorgeworfen, sie ignoriere diesen grundlegenden Unterschied. In Wirklichkeit ist er für die astrologischen Horoskopdeutungen jedoch nicht von Bedeutung.
Diesen in den Himmel projizierten Kreis nennt man »Ekliptik«. Die Ekliptik wird in zwölf gleich große Abschnitte gegliedert, denen die Namen der zwölf Stern- bzw. Tierkreiszeichen zugeordnet sind. Zwischen 24. August und 23. September durchläuft die Sonne gerade den Abschnitt Jungfrau, weswegen dieses Tierkreiszeichen auch das »Sonnenzeichen« genannt wird.
Beginnen wir jetzt mit der Betrachtung des Sonnen- oder Tierkreiszeichens, dem dieser Band gewidmet ist, um zunächst einmal herauszufinden, was denn nun »typisch Jungfrau« ist.
Wie wird man eine Jungfrau?
Kinder des Himmels
Wer Anfang April um Mitternacht in südlicher Richtung in den Himmel schaut, sieht nahe am Horizont das große Sternbild Jungfrau. Natürlich braucht es etwas Phantasie, um aus den vielen Sternen einen liegenden Rumpf, zwei Beine, einen Arm und einen langgestreckten Hals mit Kopf zu erkennen. Auf sehr frühen Darstellungen wird dieses Sternbild als eine Frau abgebildet, die in jeder Hand Ähren hält. Adam Gefugius (1565) zeichnete sie als Engel mit einem der Erde zugewandten Gesicht. Albrecht Dürer (1471–1528) wiederum malte sie von hinten mit wehendem Faltenkleid und gewaltigen Engelsflügeln. Aber auf allen bekannten Darstellungen ist sie eingeschlungen in den Tierkreis (Zodiak), verbunden mit den beiden Schalen der Waage, und sie berührt mit dem Kopf den Leib des Löwen. Der hellste Stern, der fast genau auf der Ekliptik liegt, ist Spica, was »Ähre« oder »Kornähre« heißt. So verweist uns bereits das Sternzeichen am Himmel auf eine Verbindung zwischen Ernte, Reife und einer jungfräulichen Gestalt.
Das Himmelszeichen Jungfrau führt den Menschen in sehr tiefe und verborgene Räume seiner Seele. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen; man braucht vor allem Zeit und Offenheit. Aber wer sich einlässt, dem offenbart sich sein allerinnerstes Sein.
Kinder ihrer Jahreszeit
Wenn die Abende länger und kühler werden und der erste Nebel aus den Wiesen steigt, beginnt die Zeit der Jungfrau. Am Tag ist die Luft klar, weit reicht der Blick, nur manchmal gießen graue Wolken kalten Regen übers Land. Die Bäume halten in ihrem Wachstum inne und überlassen ihre letzte Kraft den Früchten, bis diese, gereift, loslassen vom Stamm. Die Blätter beginnen sich allmählich zu verfärben. Die Natur ahnt den Winter, obwohl er noch Monate entfernt ist. Tiere, die die kalte Jahreszeit verschlafen, richten sich ihr warmes Lager ein. Andere legen Vorräte an für die Zeit, in der die Erde ihre gebende Hand verschlossen hält. Die Vögel versammeln sich für ihren großen, gemeinsamen Flug in den Süden. Die meisten Jungtiere haben ihre Eltern verlassen und suchen sich einen eigenen Platz. Die einen finden ihn in einer großen Herde oder in einem Rudel, andere gehen ihren eigenen Weg, ohne den Schutz der erfahrenen, älteren Generation.
Kinder der Kultur
Die am spätesten reifenden Getreidearten wie der Hafer und verschiedene Erdfrüchte werden jetzt eingebracht. Am 24. August, dem Beginn der Jungfrauzeit, ist Bartholomäustag. Nach dem Volksmund wachsen jetzt die Fische und Nutztiere nicht mehr in die Länge, sondern setzen nur noch an Fleisch zu und dürfen daher bald geschlachtet werden. In Italien, Griechenland und anderen südlichen Ländern beginnt im September die Jagd.
Bei den übrigen kirchlichen Feiertagen ab September (Mariä Geburt am 8., Mariä Namen am 12. und Mariä sieben Schmerzen am 15. September) ist der Bezug zur Jungfrau schon vom Namen her gegeben. Der Lambertustag (17. September) gilt auf dem Land als Schlusstermin für die Ernte.
Auch im Altertum gab es im späten August und im September Erntedankfeste. Am 21. August gedachte man in Rom Ops, der Göttin des Überflusses, und am 25. August des Korngottes Consus. Dazwischen fanden Zirkusspiele statt. In Athen veranstaltete man um den 19. September zu Ehren der Kornmutter Demeter ein Fest. Sie wurde wie das Sternbild der Jungfrau immer mit Ähren dargestellt.
Während der Bauer wieder aufs Feld hinausgeht, der Städter nach seinem Urlaub in den Betrieb oder ins Büro zurückmuss, beginnt auch für die Kinder der Alltag der Schule wieder. Der Müßiggang des Sommers ist vorüber. Und wie sich die Natur auf den Winter vorbereitet, richtet auch der Mensch seinen Blick über den Augenblick hinaus: Wer die kalte Jahreszeit überleben will, muss jetzt die Tage nutzen. Nur wer vorwärtsschaut, an die Zukunft denkt, gewinnt gegen die Zeit. Im Zeichen Löwe ist der Mensch gefangen vom Augenblick, jetzt sieht er über ihn hinaus. Er weiß, dass sich erst morgen auszahlt, was heute getan wird.
Symbol ewiger Jugend
Wie das Tierkreiszeichen Zwillinge ist auch die Jungfrau ein Sinnbild aus dem Reich der Menschen. Der Name bzw. Archetyp taucht in Märchen, Mythen und in der Vorzeit unserer Geschichte auf. In manchen Kulturen sollen Jungfrauen geopfert worden sein, um grausame Götter milde zu stimmen. Oder sie verbrachten ihr Leben als Tempelpriesterinnen und hüteten wie die Vestalinnen Roms das heilige Feuer. Frauen, die ins Kloster gehen, werden als »Jungfrauen« bezeichnet; und natürlich denkt man bei dieser Bezeichnung besonders an die heilige Jungfrau Maria. Heute benennt man mit dem Begriff einen Menschen, der keinerlei sexuellen Kontakt hat, rein, unbefleckt, eben jungfräulich ist.
Zwischen den Welten
Jedes einzelne der Tierkreiszeichen symbolisiert eine bestimmte existenzielle Seinsweise, und jeder Abschnitt greift das Thema des vor ihm liegenden auf und entwickelt es weiter. Die Jungfrau ist das sechste Zeichen in diesem Zyklus. Unmittelbar vor ihr befindet sich der Löwe. Er verkörpert die Kulmination des Ichs. So wie der Löwe der König der Tiere ist, zeigen Löwegeborene etwas von einer königlichen Selbstverständlichkeit. Sie genügen sich, einmal idealtypisch betrachtet, selbst, leben im Hier und Jetzt und nehmen aus ihrer Umwelt nur das wahr, was zu ihrer Bedürfnisbefriedigung und Wunscherfüllung taugt.
Die Jungfrau als darauffolgendes Zeichen greift diese Thematik auf und führt sie weiter, indem sie die Ichhaftigkeit mit der Wirklichkeit aller anderen Existenzen und mit der Vergänglichkeit konfrontiert. Aus dem »Ich bin, was ich bin« des Löwen wird »Ich bin, was ich kann«, und aus dem »Ich lebe im Jetzt« wird »Ich lebe mit der Zeit, die ist und die kommt«. Die Jungfraumenschen kennen zweifelsohne das Löweprinzip, sie tragen es in sich, aber sie haben es zugleich verloren, weil sie wissen, es ist nicht das einzige und allein gültige. Dass sie über das Hier und Jetzt hinausschauen können, macht sie weise, aber auch melancholisch, nachdenklich und verhalten. Sie haben sozusagen das »Paradies der Selbstverständlichkeit« verloren.
Mit der Jungfrauzeit weicht der Sommer. Die ersten Nebel künden vom Wechsel der Jahreszeit. Obwohl er noch Monate entfernt ist, mahnt der Winter.
Auf das menschliche Leben bezogen, spiegelt der Löwe die herrliche Zeit der Sechs- bis Zehnjährigen wider, dieses in der Regel kolossale ungebrochene Selbstverständnis, dieses selige Gefühl, ein Leben ohne Ende zu genießen. Die Jungfrau steht für die Pubertät und die Freuden des Erwachsenwerdens. Sie symbolisiert aber auch die Qual der Erkenntnis, immer älter zu werden und irgendwann zu vergehen. Die Endlichkeit des Lebens und das Wissen um den Zyklus Geburt, Kindheit, Jugend, Alter, Tod ist ein zentrales Thema der Jungfraumenschen.
Auf die Jungfrau folgt die Waage, welche die Vollendung des Außenraums, des Du, die anderen symbolisiert. Dieses Du und auch die Wirklichkeit draußen (der beginnende Herbst sowie der sich mit ihm ankündigende Winter, das Alter und der Tod), das alles steht vor dem Jungfrausymbol wie ein riesengroßes Frage- und Ausrufezeichen zugleich. Hautnah berührt es die Jungfrau, es mahnt und droht.
Bildlich gesprochen könnte man die Zeichen Widder bis Löwe auch mit den Bewohnern einer Stadt vergleichen, die von hohen Mauern umgeben ist. Die Zeichen Waage bis Fische wiederum wären dann die Leute außerhalb. Innerhalb herrschen Frühling und Sommer, pulsiert das Leben. Außerhalb sind Herbst und Winter, dort wohnen die Angst, die Nachdenklichkeit, das Alter und der Tod. Diejenigen, die innerhalb der Stadtmauern leben, kümmert es wenig, was draußen geschieht. Selbst wenn einer von ihnen stirbt, nimmt ihnen das höchstens vorübergehend das herrliche Gefühl, am Leben zu sein. Die draußen Verweilenden wiederum können zwar in die Stadt hinein, aber das Leben dort interessiert sie wenig, es erscheint ihnen zu »platt«, zu unbeschwert, zu seicht, zu wenig tief. Natürlich kennen auch die von außerhalb, also die Tierkreiszeichen Waage bis Fische, das Gefühl ausgelassener Freude, aber eher flüchtig, sie wissen, dass »Spaß ohne Ende« und ein Leben von Moment zu Moment keine zentralen Themen des Daseins sind.
Die Jungfrau befindet sich am Übergang. Sie ist sowohl drinnen in der Stadt als auch draußen. Sie kennt und lebt die unbeschwerten Freuden genauso wie Tiefe und Vergänglichkeit. Sie gehört jedoch weder richtig zum inneren noch zum äußeren Kreis. Sie hat eine eher neutrale Position, beobachtet, nimmt wahr,...