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E-Book

Tibethaus Journal - Chökor 55

AutorTibethaus Deutschland
VerlagTibethaus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9783931442989
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,00 EUR
Das Tibethausjournal Chökor, das halbjährlich erscheint, kann auf eine 20-jährige Geschichte zurückblicken. Artikel rund um das Thema Tibet - Buddhismus, Gesellschaft, Kultur, Kunst, Wissenschaft, Heilkunde, Biografien und Reisen - gehören zum Themenspektrum.

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Leseprobe

Seit mehr als zwei Jahren interviewt Annette Kirsch in regelmäßigen Abständen S.E. Dagyab Rinpoche, aber auch viele seiner Verwandten und Freude, um seine Biographie zusammenzustellen. Diese Interviews sind das Rohmaterial, aus dem die Texte für das Buch entstehen werden – und nicht identisch mit dem eigentlichen Buchmanuskript.

In jedem Chökor veröffentlichen wir Ausschnitte aus den Interviews, die viele kleine, manchmal skurrile, manchmal auch traurige Anekdoten aus dem Leben Rinpoches beleuchten.

Der Wecker auf der umgedrehten Schüssel


Schon als kleines Kind hatte Rinpoche neben der Mutter noch andere Bezugspersonen. In den ersten Monaten seines Lebens wurde er beispielsweise von einem alten Mönch umsorgt, während seine Mutter bei den Tieren auf der Weide war. Später, als er nach Dagyab gezogen war, lebten einige männliche Verwandte mit ihm zusammen in seiner Residenz.

Akhu Lodrö Tenpa, ein Bruder seines Vaters, war zwar nicht von Anfang an dabei. Er kam aber Ende der 40er Jahre aus Minyak, Rinpoches Geburtsort, nach Dagyab und war dem Kyabgön von da an ein enger Begleiter, bis dieser mit 19 Jahren auf der Flucht vor den Chinesen Tibet verließ.

Dagyab Rinpoche erzählt die Geschichte seines Onkels:


Damals hat meine Mutter Akhu Lodrö Tenpa nachgeholt. Ich schätze, er war vielleicht Mitte 40.

Annette Kirsch: Dann ist er um 1900 geboren?

Dagyab Rinpoche: Ja, schätzungsweise. Später wurde er vom Dagyab-Labrang1 zum Opfer- bzw. Ritualmeister ernannt. Er hatte zwar gar keine Ahnung von den Ritualen. Aber weil er mein Verwandter war, musste der Labrang ihm irgendeinen Titel geben. Und weil der Platz des Ritualmeisters noch nicht besetzt war, ist er mehr oder weniger zufällig da reingerutscht.

Aber er hat kein einziges Mal ritualmäßig assistiert. Weil er es nicht konnte. Er saß als Ritualmeister neben dem Thron. Speisemeister, Kleidermeister und Ritualmeister – diese Drei mussten neben dem Thron sitzen, ganz in meiner Nähe, direkt am Fuß des Throns. Seine Aufgabe wurde von meinem Stiefvater Lobsang Tsültrim, dem Speisemeister, übernommen. Er selbst saß nur auf seinem Platz.

Wichtig ist, dass er öfter bei mir geschlafen hat, in Dagyab. Wir sind dann auch zusammen nach Lhasa gegangen, und dort wurde er der Hauptverwalter des Dagyab-Labrang in Drepung.

Ich hatte in Zentraltibet2 zwei Labrangs3, einen in Drepung und einen in Lhasa, und er hat den von Drepung übernommen. Da gab’s nicht viel zu tun, nicht zu viel zu verwalten. Einfach nur, wenn jemand mir z. B. Geschenke gab, mussten sie aufbewahrt werden. Und dann schliefen wir immer zusammen in einem Zimmer. Er schlief quasi neben mir. Und er hatte es sehr gerne, wenn man den Wecker sehr laut hört.

A.K.: Sie hatten Wecker?

D.R.: Ja, einen Wecker. Und der war ohnehin schon laut genug, aber für Akhu-la Lodrö genügte das nicht. Er hat die Schüssel fürs Gesichtwaschen auf den Kopf gestellt, darauf den Wecker, dadurch tickte er lauter. Es ging nicht um den Alarm, sondern um das Ticken. Tk, tk, tk, tk, tk, das musste, das wollte er immer laut hören.

A.K.: Warum?

D.R.: Ich weiß nicht. Jedenfalls hatte er das gerne so, immer, er machte es jeden Abend so. Er brachte die Schüssel, stellte sie auf den Kopf und stellte den Wecker darauf. Und morgens weckte er mich. Er sagte immer zunächst: „Rinpoche, Rinpoche!“ Und dann, wenn ich mich nicht weiter rührte, sagte er: „Asha, asha!“ Das heißt im Minyak-Dialekt mehr oder weniger: „Hallo, hallo!“ Und dann, wenn ich mich immer noch nicht rührte, sagte er: „Wangden, Wangden!“, rief also meinen Kindernamen. Bevor ich ein Rinpoche wurde, hieß ich Tsering Wangden.

A.K.: Und wie haben Sie dann reagiert?

D.R.: Dann, ja … irgendwie … jedenfalls war das ein Prozess. Wie ich geweckt wurde. Ja, das ist die Erinnerung.

Ich weiß nicht, ob ich das schon erzählt habe: Als hoher Lama durfte man 24 verschiedene Dinge4 tun, die man als normaler Mönch im Kloster nicht tun darf. Aber dafür musste man sich eine Genehmigung holen, und zwar vom Disziplinator, dem Drepung Tsogchen Shengo. Diese Genehmigung kostete Geld, und zwar „Tamka Karpo“. Tamka Karpo heißt Silbermünze. Ich glaube, jede Genehmigung kostete eine oder zwei Silbermünzen, ich weiß nicht mehr genau. Jedenfalls benötigte Akhu-la mehrere dieser Tamka Karpos. Das ist eine komische Sache: Es ging nicht nur darum, dass mit Tamka Karpos bezahlt wurde, sie mussten auch besonders sauber sein. Und sie mussten auch gut klingen. Und wenn er, mein Onkel, zu dem Tsogchen Shengo, dem Disziplinator ging, dann stand dort extra ein Stein, auf den man jede einzelne Münze werfen musste, ob sie gut klingt. Damit wurde die Echtheit geprüft. Wenn es kein echtes Silber war, dann klang es vielleicht schlecht. Dann wurde die Münze nicht akzeptiert. Wenn jemand zu mir kam für eine Audienz, dann brachte er solches Geld, solche Silbermünzen immer mit. Und jedes Mal guckte Akhu-la und warf die Münze auf den Boden, ob sie gut klingt oder nicht. Das war seine Hauptaufgabe, sein Hauptinteresse, das hatte er immer im Kopf.

Dagyab Rinpoche als Jugendlicher in Lhasa © Privatbesitz

Zweimal im Jahr mussten die Genehmigungen eingeholt werden, glaube ich. Und wenn wir, oder wenn er keine saubere Silbermünze hatte, dann musste er zur Schmiede gehen, sie saubermachen lassen. Der Schmied reinigte das Silber. Ganz sauber, ganz glänzend. Er hatte schlechte Augen, und guckte immer ganz aus der Nähe. Ganz nah vor die Augen hielt er die Münze, und er drehte sie immer um, ob sie gut ist oder nicht. Dann warf er sie zum Schluss auf den Boden, das hab’ ich in Erinnerung.

A.K.: Da sehen Sie ihn noch vor sich, wie er bei Ihnen im Raum stand und Sie irgendwo saßen …?

D.R.: Ja, ja. Er hatte einen Schnurrbart, bisschen eine hohe Stirn, er war nicht sehr groß. Und er war nicht besonders gesprächig und nicht besonders intelligent und klug oder was auch immer. Und er hatte nie Mönchsroben angezogen. Auch in Drepung trug er immer eine Chuba5.

A.K.: Aber er war Mönch?

D.R.: Ja, theoretisch.

A.K.: Praktisch dann nicht?

D.R.: Ja. Aber warum? Keine Ahnung warum. Früher natürlich, in Dagyab, hatte er immer die Roben an. Aber seitdem wir in Lhasa waren, habe ich in Erinnerung, dass er immer in Chuba war.

A.K.: Also, meine Fantasie wäre jetzt: Wenn er Mönch war und die Gelübde gehalten hat und trotzdem keine Robe anzog, dann könnte das ja auch ein Zeichen von großer Bescheidenheit sein, dass er die Vorzüge einer Robe6 nicht in Anspruch nahm, aber die Gelübde trotzdem reinhielt. Oder ist das, wäre das …?

D.R.: Keine Ahnung.

A.K.: Ist das nicht zulässig, so zu denken?

D.R.: Ich glaube, das ist ein bisschen zu tief, bisschen zu weit hergeholt.7

Vielleicht waren die Roben einfach nur unbequem.

Ich denke eher so. Aber jedenfalls … ja, das war sein Verhalten. Er hatte immer Chuba an. Aber ich habe keine Erinnerung, dass wir zusammen saßen, zusammen gegessen haben und so. Oder irgendwie gemütlich zusammen ein Gespräch geführt haben – daran habe ich keine Erinnerung. Wir aßen immer getrennt.

A.K.: Wer hat mit Ihnen gegessen?

D.R.: Niemand.

A.K.: Der Speisemeister hat serviert?

D.R.: Das war in Dagyab so. In Drepung bringt Nyendag, mein Koch, das Essen.

A.K.: Und waren noch Leute anwesend, ein Lehrer etwa?

D.R.: Nein, niemand.

A.K.: Ein Diener saß vielleicht irgendwo auf dem Boden, und Sie waren am Tisch und das Essen kam?

D.R.: Ja, wahrscheinlich. Aber meistens war ich allein, und die andern aßen draußen im Vorzimmer. Ja, das war seine Geschichte.

A.K.: Das war der Onkel Akhu Lodrö Tenpa.

Akhu Lodrö Tenpa und Rinpoches Mutter in Lhasa © Privatbesitz

D.R.: Genau. Akhu heißt Onkel, und zwar „Onkel väterlicherseits“.

A.K.: Aber warum heißt der berühmte Autor Akhu Sherab Gyatso so?

D.R.: In Amdo, wo Akhu Sherab Gyatso8 herkommt, ist Akhu mehr oder weniger eine...

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