1. Übersicht
Dr. Zschiedrich, Freiburg
Überarbeitete Fassung von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Neumann, Freiburg
Zusammenfassung
Die von Hippel-Lindau-Erkrankung ist eine genetische Erkrankung. Die ursächlichen Mutationen im VHL-Gen können von den Eltern vererbt oder auch spontan aufgetreten sein. Durch den Gendefekt kommt es zu Wucherungen von gefäßreichen Tumoren, die in der Netzhaut des Auges, im Zentralnervensystem (Gehirn, Rückenmark und Innenohr), den Nieren, Nebennieren, in der Bauchspeicheldrüse und den Nebenhoden bzw. den breiten Mutterbändern auftreten können. Die Diagnose wird anhand von klinischen Kriterien und/oder einer genetischen Untersuchung gestellt. Hiernach sind regelmäßige Kontrolluntersuchungen an einem spezialisierten Zentrum von großer Wichtigkeit, um medizinische Komplikationen durch das Tumorwachstum - insbesondere der potentiell bösartigen Nieren- und Pankreastumoren - frühzeitig zu erkennen und nach Möglichkeit zu verhindern.
Einführung
Die von Hippel-Lindau (abgekürzt: VHL) Erkrankung ist eine genetische Erkrankung, die also in den Erbanlagen Eingang durch ein zufälliges, Mutation genanntes, Ereignis gefunden hat und weitervererbt werden kann. Dieser genetische Defekt der intrazellulären Sauerstoffregulierung kann zu blutgefäßreichen Zellwucherungen führen. Diese treten vor allem als Angiom in der Netzhaut des Auges, als Hämangioblastom im Gehirn oder Rückenmark, als endolymphatische Sack-Tumoren (ELST) im Innenohr, als Nierenzellkarzinom, als Phäochromozytom der Nebennieren, seriöses Zystadenom/neuroendokriner Tumor der Bauchspeicheldrüse oder als papilläres Zystadenom des Nebenhodens bzw. der breiten Mutterbänder auf. Typisch für die VHL-Erkrankung ist das Auftreten von mehreren dieser Tumoren, die wiederum selbst wiederholt (multipel) und bei paarigen Organen (Augen, Nieren, Nebennieren) beidseitig (bilateral) auftreten können.
Eine seltene Erkrankung – eine diagnostische Herausforderung
Ungefähr jeder 36.000ste Mensch ist Träger einer VHL-Erbanlage und somit Betroffener. Durch die Seltenheit, die vielgestaltige Erscheinungsform und das variierende Alter der Patienten bei Erstauftreten der Erkrankung kann es mitunter sehr schwierig sein, die richtige Diagnose zu stellen. Oft wird erst im Laufe einer Krankengeschichte klar, dass es sich überhaupt um eine VHL-Erkrankung handeln könnte. Deshalb sollen hier nachfolgend die wichtigsten Diagnose-Kriterien beschrieben werden.
Familiäres Vorkommen, Geschlecht und Alter
Die VHL-Erkrankung tritt typischerweise in Familien gehäuft auf. Sie folgt dabei einem sog. autosomal-dominanten Erbgang. Das bedeutet, dass beide Geschlechter betroffen sein können und keine Generation übersprungen wird. Die Wahrscheinlichkeit der Weitervererbung an ein Kind liegt bei 50 Prozent. Die Erkrankung tritt in der Regel bei den Betroffenen auch klinisch in Erscheinung. Die Ausprägung ist jedoch stark variabel. Schon bei Geburt lässt sich die Mutation nachweisen. Tumoren treten aber erst mit zunehmendem Alter auf und haben in der Regel frühestens ab dem 6. Lebensjahr Bedeutung. Die meisten Tumoren verursachen zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr Krankheitszeichen (Symptome). Die Ausprägung der Erkrankung ist bei Frauen und bei Männern ohne klinisch relevanten Unterschied. Die Altersverteilung wird durch Abbildung 1 weiter verdeutlicht.
Abbildung 1:
Altersverteilung der Veränderungen von Augen (Angiomatosis retinae), ZNS, Nieren und Nebennieren (Phäochromozytome) bei 337 Patienten mit von Hippel-Lindau-Erkrankung. Die Kurven stellen eine sog. kumulierte Altersverteilung dar. Man kann entnehmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit (Prozent) bei einem bestimmten Alter Veränderungen gesehen wurden.
Die VHL-Erkrankung hat in jeder Familie einen Anfang, d.h. eine Person, bei der sie zum ersten Mal auftritt. Häufig bleibt unklar, wer diese erste Person ist bzw. war. Bei dieser Person ist die Mutation zum ersten Mal vorhanden; solche Mutationen nennt man folglich auch Neu- (oder Spontan-)mutationen. Auch heute werden immer wieder Neumutationen beobachtet. Bei diesen Patienten wird bedauerlicherweise nicht selten die VHL-Erkrankung recht spät erkannt. Es besteht somit die besondere Herausforderung, bei erstmaligem Auftreten der VHL-typischen Tumoren zu prüfen, ob sie Ausdruck der VHL-Erkrankung sind.
Häufigkeit der betroffenen Organe und Schwere der Erkrankung
Bedeutsam ist, dass von Familie zu Familie sich erhebliche Unterschiede für die betroffenen Organe und Unterschiede zum Alter bei Auftreten der Veränderungen auch innerhalb einer Familie zeigen. Tabelle 1 zeigt eine mittlere Häufigkeitsverteilung betroffener Patienten.
Tabelle 1:
Häufigkeitsverteilung der Manifestationen. Man erkennt, dass es große Schwankungen gibt, die durch die unterschiedlichen untersuchten Populationen der Studien und letztlich der individuellen Ausprägung der VHL-Erkrankung resultieren. Die gezeigten Daten wurden einer publizierten Zusammenfassung aller Studien der Dänischen Koordinationsgruppe für VHL entnommen.
Die Häufigkeitsverteilung berücksichtigt nicht die Zahl, die Größe und die Lokalisation der Tumoren. Hiervon hängt jedoch die Schwere der Erkrankung ab. Auch hierbei besteht eine große Variabilität. Die VHL-Erkrankung kann somit als harmlose Anomalie und auch als lebensbedrohende Erkrankung mit allen Zwischenstufen auftreten. Hierin gehen aber auch Behandlungsfolgen ein. Ein allgemeiner Gradmesser zur zusammenfassenden Schwerebeurteilung, in der alle Einzelmanifestationen eingehen, existiert allerdings nicht.
Neben der punktuellen Beurteilung stellt die dynamische Entwicklung, d.h. die Aktivität der Erkrankung mit der Beurteilung von Tumorwachstum und Neuentstehung von Tumoren einen weiteren Aspekt der Schwere der Erkrankung dar. Bedauerlicherweise sind Voraussagen hierzu schwer möglich. Ein Marker, anhand dessen Konzentration im Blut sich die Schwere der VHL-Erkrankung erkennen ließe, existiert nicht.
Diagnose und Klassifikation (Typen) der VHL-Erkrankung
Die Diagnose von Hippel-Lindau-Erkrankung wird anhand klinischer Kriterien, d.h. den Tumormanifestationen und der Familienbefunde gestellt. Alternativ oder ergänzend ist bei begründetem Verdacht oder Familienzugehörigkeit zu VHL-Betroffenen eine molekulargenetische Untersuchung möglich. Heute lassen sich folgende Konstellationen als Minimalkriterien unabhängig voneinander formulieren:
Diagnosekriterien
- Ein(e) Patient(in) mit
1.1. einem Angiom der Netzhaut
oder einem Hämangioblastom des ZNS plus
1.2. einem Tumor in Auge, ZNS, Nieren, Nebennieren, Pankreas, Ohr, Nebenhoden/breite Mutterbänder.
Anstatt dem 2. Tumor können Pankreaszysten stehen.
- Zwei Blutsverwandte, von denen eine(r) ein retinales Angiom oder ein Hämangioblastom des ZNS aufweist und der (die) zweite ein Kriterium entsprechend 1.2. zeigt.
- Ein Patient mit einem Kriterium entsprechend 1.2. und einer VHL-Mutation.
- Ein Mitglied einer VHL-Familie mit nachgewiesener Mutation, wie sie in dieser Familie bekannt ist.
Traditionell unterscheidet man in Typen der VHL-Erkrankung je nach Vorkommen von Phäochromozytomen. Während früher mit bzw. ohne, d.h. ausschließliches Vorkommen bzw. Fehlen von Phäochromozytomen als Kriterien galten, ist dies inzwischen in dominierendem Vorkommen bzw. weitestgehendem Fehlen von Phäochromozytomen geändert worden.
Typ 1: | VHL (Familien) mit weitestgehendem Fehlen von Phäochromozytomen |
Typ 2: | VHL (Familien) mit dominierendem Vorkommen von Phäochromozytomen |
Typ 2A: | VHL (Familien) wie Typ 2 mit weitestgehendem Fehlen von Nierenkarzinomen |
Typ 2B: | VHL (Familien) wie Typ 2 mit häufigem Auftreten von Nierenkarzinomen |
Typ 2C: | VHL (Familien) mit dominierendem Auftreten von Phäochromozytomen, aber Fehlen aller anderen Organmanifestationen |
Symptome und Therapie
Es gibt keine Symptome, die für die von Hippel-Lindau-Erkrankung insgesamt typisch sind. Die Symptome entstehen vielmehr durch die einzelnen Tumoren in den verschiedenen Organen.
Diagnostik und Therapie richten sich somit auf die Einzelkomponenten aus. Hier folgen alle Möglichkeiten dem technischen Fortschritt der einzelnen Disziplinen. Die Betroffenen nehmen somit an den Entwicklungen der modernen Medizin teil. Genannt seien Kernspintomographie, atraumatische Neurochirurgie, nierenerhaltende Karzinomchirurgie, endoskopische Nebennierenerhaltende Chirurgie.
Immer noch sind viele Probleme ungelöst. Von zentralem Interesse ist das funktionelle Verständnis der genetischen Störung, was immer wieder zu der Frage einer medikamentösen Behandlung führt; eine Antwort ist weiterhin nicht abschließend gegeben. Komplikationen mit dauerhaften Gesundheitsstörungen haben ihre Ursache entweder in der Erkrankung selbst oder sind Behandlungsfolge....