1 Wenn der Blitz einschlägt
Jugend und Alter
Als ich etwa zwölf Jahre alt war, kam mein Vater eines Tages mit einem Buch in der Hand in mein Zimmer. Er war zu dem Zeitpunkt in seinen Vierzigern.
»Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er.
Es war eine Autobiografie des Dichters Robert Graves. Vorn auf dem Buchdeckel sah man ein Foto von Graves in seinen jungen Jahren: schwarzhaarig, attraktiv und voller Lebenskraft und Zuversicht. Mein Vater drehte das Buch auf die Rückseite, um mir ein Foto des aktuellen Graves zu zeigen: mit weißem Haar, einem runzeligen Gesicht und Augen, in denen das Leid stand.
»Schau dir das an«, sagte mein Vater und drehte das Buch immer wieder hin und her, um mir die erschreckende Transformation von Jugend zu Alter und umgekehrt zu zeigen. »Das kannst du nicht verstehen«, fügte er hinzu. Er warf mir das Buch aufs Bett und verließ den Raum so plötzlich, wie er gekommen war.
Ich hatte nicht einen Ton gesagt. Ich nahm wohl seine Unbeholfenheit und die Schärfe seines Impulses wahr, aber er hatte Recht. Ich verstand nicht, was er meinte. Ebenso wenig, wie ich später Suzuki Rōshi verstehen konnte, als er von der Freude am Altwerden sprach. Jetzt, mit vierundsechzig, verstehe ich und bin meinem Vater für den damaligen Impuls mir gegenüber dankbar. Die Alten verstehen die Jungen besser als andersherum. Er wollte mich über die Kluft hinweg, die Alt und Jung trennt, mit dem Zauberstab dieses schwer erkämpften Wissens berühren, schaffte es jedoch nicht. Er konnte mir nur die beiden Fotos zeigen und mir wünschen, auf die bestmögliche Weise erwachsen zu werden.
Anstelle von »Alles wandelt sich« hätte Suzuki ebenso gut sagen können: »Alles altert.« Und genau das versuchte mein Vater mir damals zu zeigen.
Vom Verstand her wissen wir das. Wir wissen, dass alles altert, denn wir sehen es überall um uns herum. Einen Großteil unseres Lebens schenken wir dem kaum Beachtung – es ist so selbstverständlich wie das Haus, in dem wir leben, oder die Luft, die wir atmen. Mit dem Älterwerden jedoch können wir diese Tatsache immer weniger leugnen. Altern ist nicht einfach Wandel, sondern unwiderruflicher Wandel – im Guten wie im Bösen. Wir haben die lang ersehnte Beförderung nicht erhalten, und jetzt wird sie nie mehr kommen. Oder wir haben sie bekommen, was unser Leben verändert hat. Wir sind arm. Oder wir waren einmal arm und sind es jetzt nicht mehr. Wir haben ein böses Knie, das auch eine Operation nicht richten wird. Oder vielleicht hat die OP funktioniert, und jetzt können wir uns von dem Schmerz, mit dem wir so lange gelebt haben, verabschieden. Wir wollten immer Kinder haben, sind jetzt aber zu alt dafür. Oder wir haben zu unserer unendlichen Freude ein Kind adoptiert. Auf die eine oder andere Weise besteht unser Leben aus »Dingen, die geschahen, um zu geschehen«.
Unwiderruflicher Wandel ist anders, weil es kein Zurück mehr gibt. Die damit verbundenen Triumphe stärken uns; von den Verlusten sind wir gezeichnet. Die eigentliche Frage jedoch lautet: Was machen wir damit? Das Buch kann Ihnen behilflich sein, die Antwort zu finden. In weiten Teilen unserer heutigen Welt leben die Menschen länger als je zuvor. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 45 Jahren, heute liegt sie bei 80. Es ist heute absolut realistisch, älter als 80, 90 oder sogar 100 zu werden. Das lässt die Fünfziger und Sechziger zu einer Lebensphase werden, in der wir das Tempo nicht drosseln, sondern selbst dann eher hochfahren, wenn es eigentlich keinen Grund dazu gibt. Die Gesellschaft hat – genau wie wir – in vieler Hinsicht noch keinen neuen Umgang mit diesen neuen Fakten gefunden. Wir sollten die Aussicht auf ein längeres Leben mit ganz neuen Augen betrachten und uns fragen, wie wir dieses zusätzliche Zeitgeschenk sinnvoll nutzen wollen.
Meine Antwort lautet: Das Älterwerden bietet die perfekte Chance, unser Inneres zu erkunden und uns in spiritueller Praxis zu üben. Warum das gut wäre, hat das Bild von dem gealterten Robert Graves, an das ich mich noch lebhaft erinnere, gut eingefangen. Graves’ weißes Haar und sein verrunzeltes Gesicht schienen meinen Vater eine Geschichte des Verlustes zu erzählen, wie sie ihm bereits selbst durch die Enttäuschungen seiner mittleren Jahre vertraut war. Ich dagegen sah etwas anderes darin, das mich neugierig auf das Buch machte. Das Gesicht des alten Robert Graves schien mir das Gesicht eines Weisen zu sein, der etwas Wichtiges wusste. Ich wollte wissen, was das war und wie er dieses Wissen gewonnen hatte. Und während ich las und Graves’ Lebensgeschichte von der Jugend über das Erwachsenendasein bis in sein hohes Alter verfolgte, bekam ich eine Ahnung davon, was es bedeutet, so ein ganzes Leben von Anfang bis Ende zu leben. Da ich jetzt selbst dem Ende des Lebens näher stehe als dem Anfang, wird mir plötzlich klar, dass meine damalige Lektüre der eigentliche Beginn meiner Studien zum vorliegenden Buch war.
Hierin geht es darum, das Altern mit spiritueller Praxis zu verbinden. Das Buch enthält viele spirituelle Übungen, Anregungen und Ideen, die Ihnen das Altern erleichtern mögen. Als Prämisse gilt jedoch, dass wir die Erfahrung des Alterns als Zugang zu einer spirituellen Praxis betrachten, die über einzelne Religionen oder Glaubensrichtungen hinausweist.
Wenn der Blitz einschlägt
Als mein Vater mit dem Buch von Graves in mein Zimmer hineinplatzte, wollte er, glaube ich, sagen, dass ihm gerade all seine Jugendträume entglitten. Wohin führte ihn jetzt sein Weg? Was sollte er jetzt tun?
Mein Vater – ein Autodidakt, der abends die griechischen Philosophen las und eingehend über alles nachdachte – war da auf eine universelle Wahrheit gestoßen. Ähnliches habe ich inzwischen oft gehört, wenn ich mit Menschen über ihre Erfahrungen des Altwerdens spreche. Ich nenne es: »Wenn der Blitz einschlägt«.
»Wenn der Blitz einschlägt« ist der Augenblick, in dem wir wirklich realisieren, dass wir alt werden, und voll und ganz erkennen, welche Bedeutung dies auf unser Leben hat, und zwar von seinem unerkannten Anfang bis hin zum unbekannten Ende. Bis dahin leben wir, egal wie alt wir sind, die meiste Zeit, ohne darüber nachzudenken, wohin uns das Leben führt oder was es bedeutet. Sobald der Blitz jedoch eingeschlagen hat, ist alles anders. Wir haben einen Wendepunkt erreicht. Wir haben aufgehört, die Dinge so zu sehen, wie wir sie uns vorstellen. Zumindest für einen Augenblick erkennen wir sie nun als die, die sie wirklich sind.
Der Blitz kann auf scheinbar verstörende oder negative Weise einschlagen, wie beispielsweise mein Vater es erlebte, er kann sich aber auch gleich positiv ausdrücken wie bei Katherine, 57 Jahre alt und Stabschefin eines Lokalpolitikers.
An einem Sommernachmittag saßen wir zusammen in ihrem Wohnzimmer. Ich bewunderte die glitzernden Blätter einer Espe vor dem Fenster, während Katherine noch ein wenig formell auf meine Fragen antwortete. Als ich sie jedoch fragte, was sie denn am Älterwerden besonders mochte und genoss, sagte sie plötzlich strahlend: »Meine Enkelin!«
Und schon griff sie nach einem Fotoalbum, das auf dem Kaffeetisch lag. Die nächsten Minuten schauten wir ihre neuen Familienfotos an. Erst als sie auch noch ihren Laptop holen wollte, um mir auf Facebook weitere Fotos zu zeigen, erhob ich Einspruch.
Im weiteren Verlauf des Interviews fragte ich Katherine, ob sie sagen könne, wie die Geburt ihres Enkelkindes ihre Sicht auf das Altern verändert habe.
Sie wurde nachdenklich. »Vielleicht klingt es ja komisch«, sagte sie schließlich, »aber es hat mir das Gefühl gegeben, als wäre mein Leben wirklich von Bedeutung. Ist das nicht seltsam?« Sie lachte. »Bei meinen eigenen Kindern hatte ich dieses Gefühl nicht, und dabei habe ich ziemlich viel erreicht in meinem Leben.«
Mein Vater und Katherine stehen hier für die beiden Seiten des Alterns: auf der einen Seite das runzelige Gesicht des gealterten Robert Graves, auf der anderen das fröhliche Lachen einer frischen Großmutter. Das Bedauern und das Feiern sind zwei gleichrangige Facetten des Alterns. Im Verlauf des Buches werden sich diese beiden Aspekte in ihren verschiedenen Gestalten und Stimmen zeigen.
So war es auch bei Alan und Christina, einem Ehepaar, das sich eines Morgens, als das Telefon klingelte, im Dschungel des Alterns verlor.
Alan und Christina
Das erste Mal traf ich sie bei einer Benefizveranstaltung für die buddhistische Gruppe, zu der sie gehörten. Sie waren ein kontaktfreudiges, freundliches Paar in ihren Fünfzigern. Alan war hochgewachsen und athletisch gebaut, er hatte grau meliertes Haar. Nachdem wir uns einige Minuten unterhalten hatten, wusste ich, dass er Geschichtslehrer am Gymnasium und Leichtathletiktrainer war. Christina, eine schlanke Frau mit blassem Teint, war Malerin und bereitete gerade eine Einzelausstellung vor.
Als sie fragten, was ich beruflich mache, erklärte ich, ich sei gerade dabei, ein Buch über das Älterwerden zu schreiben. »Fällt Ihnen dazu etwas ein?«, fragte ich sie.
»Nein«, antwortete Alan mit einem etwas unbehaglichen Lachen. »Ich verdränge das lieber.«
Christina fügte hinzu: »Darüber reden wir nicht gern.«
An dem Abend gingen wir nicht weiter auf das Thema ein, wir redeten bald über anderes. In den darauffolgenden Tagen jedoch kam mir unser Gespräch immer wieder in den Sinn. Wieso war es diesen zwei gebildeten, intelligenten Menschen so unangenehm gewesen, über ein Thema zu sprechen, das sie beide anging? Christinas Bemerkung »Darüber reden wir nicht gern« hatte mich neugierig gemacht. Ich fragte...