Kleptomanie, Sucht oder Zwang
Das erste Mal gestohlen habe ich bereits als Kind. Damals waren es kleine Dinge wie Kaugummis oder mal ein Eyeliner. Um ehrlich zu sein, habe ich es nie als unrecht empfunden, immerhin hat sich sogar meine Mutter über die kleinen Geschenke gefreut, die ich für sie ergaunern konnte. Lass dich bloß nicht erwischen, war ihr einziger Ratschlag an mich.
In meiner Jugend, mit circa dreizehn Jahren, gab es dann erneut eine kurze Phase, in der ich häufig gestohlen habe; hier war es aber viel mehr so, dass ich mich von meiner damaligen Klassenkameradin habe mitreißen lassen. Eines Tages kam dann, was kommen musste: Man ertappte uns auf frischer Tat. Meine Freundin hatte es übertrieben und sich ihre Tasche mit Parfüm und Schminkutensilien regelrecht vollgestopft. Ich habe mich an diesem Tag nicht getraut etwas mitzunehmen, ich fühlte mich beobachtet und war auf Flucht eingestellt. Als meine Freundin genug hatte, gab sie mir ein Handzeichen, und ich lief langsam in Richtung Ausgang. Draußen angekommen, fiel die Anspannung von mir ab und ich war erleichtert. Wir marschierten in Richtung U-Bahnhof, als zwei Männer uns dazu aufforderten, stehen zu bleiben. Ich war wie gelähmt und ahnte was jetzt kommt. Immer wieder sagte ich mir innerlich: Keine Angst, du hast nichts getan…du hast nichts getan! Aber wie heißt es so schön: mitgegangen, mitgehangen. Die zwei Kaufhausdetektive führten uns in einen abgelegenen Raum und riefen die Polizei. Nach einem längeren Prozedere fanden wir uns auf dem Revier und in einer Ausnüchterungszelle wieder. Man versuchte, unsere Eltern zu erreichen, was den Herren in meinem Fall zuerst nicht gelang. Ich war panisch! Wie soll ich hier nur rauskommen. Innerlich kroch in mir die Panik empor, ich fing an zu schwitzen, mir wurde schwindelig. Eingesperrt zu sein, das war für mich der blanke Horror. Sogar meine Klassenkameradin, die üblicherweise ein großes Mundwerk hatte, war verstummt. Nach knapp drei Stunden kam ihr Vater, um sie abzuholen, man konnte ihm deutlich ansehen, wie es in ihm brodelte. In der Zwischenzeit erreichte man auch meine Mutter, die aufgrund ihrer Angsterkrankung nicht in der Lage war, zum Revier zu kommen. Der Vater meiner Freundin fuhr mich also nach Hause, es herrschte großes Schweigen im Auto, und ich ahnte, was ihr später noch blühte.
Für mich war an diesem Punkt das Abenteuer „Diebstahl“ erledigt. Nie wieder wollte ich eingesperrt sein, und im Nachhinein vermute ich, dass man uns bewusst so lange dort drinnen sitzen ließ. Meine Mutter verlor kein Wort darüber, es war, als wäre nie etwas passiert.
Elf Jahre später:
Ich war bereits dreifache Mutter und lebte seit sieben Jahren in einer chaotischen Beziehung mit einem Mann, der gerne trank und zur damaligen Zeit arbeitslos war. Es herrschte chronischer Geldmangel bei uns, und ich musste wirklich jeden Pfennig umdrehen. Ich hatte mich bereits hoch verschuldet, denn nur über den Versandhandel bot sich mir die Möglichkeit, unsere Wohnung schön einzurichten, den Kindern tolle Geschenke zu machen oder uns hübsch einzukleiden.
Eines Tages stand ich im Laden bei uns um die Ecke, ich schob meinen jüngsten Sohn vor mir her und packte Milch, Brot und Co. unten in den Einkaufskorb meines Kinderwagens. Nun war ich auf der Suche nach Zahnpasta. Im entsprechenden Gang angekommen, fiel mein Blick auf die Sammlung elektrischer Zahnbürsten im Regal. So eine wollte ich schon immer haben! Mein Körper fing an zu kribbeln, mein Herz klopfte wie verrückt, als ich die Packung in die Hand nahm, um sie mir anzusehen. Der Laden war leer, es gab noch keine Kameras, und man kannte und grüßte mich. Ich fühlte mich unbeobachtet und legte die Zahnbürste oben in das Verdeck meines Kinderwagens. Noch habe ich ja nichts getan, redete ich mir ein, während ich die restlichen Lebensmittel meines Einkaufszettels zusammensuchte und in Gedanken durchrechnete, ob ich für den Notfall genug Geld dabei hätte. Sollte die Kassiererin in mein Verdeck gucken wollen, würde ich einfach so tun, als hätte ich es dort vergessen. So etwas kommt doch vor, gerade dann, wenn man mit einem nörgelnden Kleinkind seinen Einkauf tätigt, dachte ich! Ich war so aufgeregt, mein ganzer Körper hat gekribbelt, ich fühlte mich wie ein Kind, kurz vor Weihnachten. An der Kasse angekommen, war ich plötzlich die Ruhe in Person, ich legte meinen Einkauf aufs Band, sammelte ihn wieder ein, um ihn im Kinderwagen zu verstauen, bezahlte und ging. Kaum draußen angekommen wurde ich von einer Euphorie heimgesucht, die ich schon lange nicht mehr empfunden habe. Es war himmlisch, ich freute mich so sehr über meine Errungenschaft und das Gefühl, das davon begleitet wurde, dass ich bereits im Kopf meinen nächsten Einkauf für morgen plante.
Rückblickend war das der Punkt, an dem der Zwang zu stehlen anfing. Für die nächsten drei Jahre war er mein täglicher Begleiter.
Ich versorgte meine Familie mit elektrischen Zahnbürsten und Handys, welche damals tatsächlich noch in Lebensmittel-Fachgeschäften zu erwerben waren. Ich stahl schöne Dinge, die wir uns nicht leisten konnten, dazu zählten auch Unmengen an Lebensmitteln, die mir sonst einfach zu teuer waren. Ich versuchte mich in immer neuen Geschäften, suchte neue Herausforderungen und wurde immer routinierter in meinen Handlungen. Zuletzt besuchte ich tagtäglich einen beliebten Klamottenladen, der auch schöne Kinderkleidung anbietet. Das Geschäft war mit Kameras ausgerüstet und es gab drei Ladendetektive in verschiedenen Schichten, die ich schnell und sicher als solche entlarven konnte. Da die Kleidungsstücke zum Teil gesichert waren, schleppte ich immer einen Schraubenzieher mit mir herum. Mit ihm konnte ich schnell und sicher diese Sicherungen heraushebeln, um sie dann in anderen Kleidungsstücken zu verstauen, welche ich zurückhängte. Die Art wie oder wann ich Dinge einsteckte, machte ich von den Situationen abhängig. Ich stahl plötzlich Dinge, die ich gar nicht brauchte, es ging jetzt nicht mehr um den Artikel an sich, sondern um das Gefühl, das nun immer schwerer zufriedenzustellen war. Mein Zwang hatte sich verselbstständigt.
Ich sammelte kistenweise Klamotten zu Hause, welche ich nicht gebrauchen konnte, da sie mir entweder nicht gefielen oder schlichtweg nicht passten. Da wir immer noch an chronischem Geldmangel litten, fing ich an, die Kleidung über einen Kleinanzeigenmarkt zu verkaufen, von dem Geld kaufte ich uns allen dann schöne Dinge. Eines Tages stand ich bei dem besagten Klamottenladen an der Kasse, um etwas umzutauschen, und mir kam eine Idee. Zu Hause angekommen, schnappte ich mir die teure Lederjacke, welche ich circa zwei Wochen zuvor dort geklaut hatte, packte sie in eine passende Tüte und fuhr zurück zum Laden. Ich stellte mich an die Kasse, und als ich an der Reihe war, erklärte ich der Verkäuferin, dass mein Mann die Jacke für mich gekauft habe, sie mir aber nicht richtig passe und ich sie deshalb umtauschen möchte. Als sie den Kassenbon verlangte, tat ich verstört und log, dass er vorhin noch in der Tüte war und unterwegs sicher rausgeflogen ist. Das Wetter war passend, und die nette Verkäuferin händigte mir mein Geld aus. Mein Kopf ratterte abermals, und so war ich in den nächsten Wochen damit beschäftigt, nahezu jeden Laden dieser Kette, innerhalb Berlins, aufzusuchen, um meine Ware umzutauschen. Teils gab es Geld, teils auch nur Gutscheine. Häufig tauschte ich die Waren noch an dem Tag um, an dem ich sie gestohlen hatte. Das Spiel wurde immer gefährlicher.
Eine lange Zeit gab es in meinem Kopf kaum etwas Anderes. Mein Tag war davon bestimmt, den Diebstahl zu planen, daran zu denken und zu handeln. Es verfolgte mich bis in die Träume, in denen ich immer größere Dinge stahl, in immer besser bewachten Geschäften, nur um das Gefühl wieder zu erlangen, welches den Kreislauf damals in Gang brachte.
Meine Gefühle stumpften aber irgendwann ab, die Vorfreude blieb fast gänzlich aus, und auch sonst konnte ich diese Anfangseuphorie nie wieder erreichen. Es war einfach zu sehr Routine geworden, ich hatte keine Angst und fühlte mich sicher. Zu meiner Schande muss ich gestehen, auch nie ein schlechtes Gewissen gehabt zu haben, obgleich ich immer wusste, dass ich Unrecht tue! Ich vermute, das liegt daran, dass ich es als Kind nie anders gelernt habe.
Es kam eine Zeit, in der es mir psychisch sehr schlecht ging, ich litt an Depressionen, Ängsten und diversen somatoformen Beschwerden, darunter das chronische Hyperventilations-Syndrom, welches es mir kaum noch ermöglichte das Haus zu verlassen. Ich verlagerte meine Tätigkeit an den PC, bestellte Dinge, von denen ich dann behauptete, ich hätte sie nie erhalten. Ich bestellte Dinge und änderte dafür meinen Namen, da mich aufgrund meiner Schulden kein Versandhaus mehr belieferte. Mein Tag war davon bestimmt, im Internet Dinge zu kaufen. Ein Kreislauf war durchbrochen…der Nächste fing an - die Kaufsucht.
Im Jahr 2011 beantragte ich Privatinsolvenz, in deren Rahmen legte ich auch jene Schulden offen, die ich auf „fremde“ Namen gemacht hatte.
Ich wurde angeklagt, es kam zu einem...