Manchmal genügen ein paar Takte Musik –
Und ich bin in einer anderen Welt.
Manchmal genügt eine Blume –
Und ich entdecke die Erde und den Himmel.
Autor unbekanntiv
I. Die spirituelle Dimension
Spiritualität ist eine im Menschen prädisponierte, nicht erst extern erworbene, sondern eine aus dem Inneren heraus wirkende (intrinsische) Eigenschaft, die sich auf Phänomene und Erfahrungen bezieht, die über die allgemein sinnlich erfahrbare Welt hinausreichen. Sie gilt als eine universelle Grundkategorie menschlichen Lebens. Was Spiritualität im Einzelnen ist, lässt sich allerdings nur schwer sagen. Etymologisch leitet sich der Terminus „Spiritualität“ vom lateinischen Wort „spiritus“ = Geist (gleich Atem, Odem, Hauch oder Seele) ab. Eine differenzierte etymologische Analyse findet sich bei R. Ruhland (2008). Inhaltliche Ähnlichkeit besteht mit den griechischen Begriffen „pneuma“ und „psyche“.
Wenn auch der Begriff Spiritualität heute an Bedeutung gewinnt, so gilt dies eher für einen kleineren Teil der Menschen. Im Allgemeinen wirkt er veraltet und befremdend. Er ist auch erst seit wenigen Jahrzehnten im Gespräch. Das aber heißt nicht, dass sein Inhalt bis dahin keine Bedeutung gehabt hätte. Im Gegenteil: Das, was wir heute unter „spirituell“ verstehen, war Jahrhunderte lang wie selbstverständlich voll in das Bewusstsein und das Erleben der Menschen aller Kulturen und Religionen integriert. Unter Spiritualität lässt sich eine Grundeigenschaft des Menschen verstehen, die darauf gerichtet ist, über das physisch-materiell Vorgefundene und sinnlich Wahrnehmbare hinaus Sinnhintergründe und universale Gültigkeiten zu „sehen“ oder zu erleben, die dem eigenen Leben mit seiner Begrenztheit und Vergänglichkeit ein geistiges Gegengewicht und bereichernde Orientierung geben können. Sie wird als Intuition, als Ergriffensein, als Ahnung oder als „plötzliche Idee“ erlebt, für die wir keine hinreichende Erklärung finden. Als Beispiele für spirituelles Erleben oder Bewusstsein seien kurz genannt:
- das Ergriffensein von der Herrlichkeit der Welt angesichts eines Sonnenaufgangs,
- das innere Bewegt-sein von einer wunderhaften Heilung oder von einer nicht zu erwarten gewesenen Problemlösung („Zufall“),
- übersinnliche mystische Erfahrungen, Visionen bis zu Ekstasen,
- religiöser Glaube und Gebet,
- das Verwandelt-werden durch ein Kunstwerk (Musik, Dichtung, Malerei u. ä.).
Vielleicht können kurz zwei Strophen des Gedichtes „Mondnacht“ von Josef v. Eichendorff deutlich machen, was gemeint ist:
Es war, als hätt der Himmel | Und meine Seele spannte |
Die Erde still geküsst, | Weit ihre Flügel aus, |
Daß sie im Blütenschimmer | Flog durch die stillen Lande, |
Von ihm nun träumen müsst. | Als flöge sie nach Haus. |
Das spirituelle Bewusstsein erweitert unser Wachbewusstsein. Man könnte von einem Überbewusstsein sprechen, einem Terminus, der schon seit Anfang des vorigen Jahrhunderts zur Kennzeichnung „übernatürlicher“ Erfahrungen verwendet wurde und einen Unterschied zum „Unterbewusstsein“ markieren sollte. Über Intuition, Ahnungen oder sonstige unerklärliche Begebnisse erfährt der Mensch eine tiefe Verbundenheit mit einer erweiterten Wirklichkeit. Sie reicht über das eigene Ich und über materielle Bedeutsamkeiten des Lebens hinaus bis in „kosmische“ Ganzheiten und letztgültige Wahrheiten. Über die Antenne des spirituellen Bewusstseins erschließt sich ihm eine transzendentale Dimension, über die er den begrenzten Wert der Alltagsdinge erkennen kann. Das Unerklärliche dieser subjektiven Erfahrungen, die aber von den betreffenden Menschen als absolut real erlebt werden.
Über das spirituelle Bewusstsein Erlebte oder Erkannte stellt sich letztlich eine religiöse Beziehung ein. Der Mensch erlebt ein Verbundensein mit dem Ganzen, mit einer „zentralen Ordnung“ bzw. einer numinosen oder göttlichen Macht, die sich als Urquelle von Sinn erweist. Über das Verhältnis von Spiritualität und Religion bestehen unterschiedliche Auffassungen. Der amerikanische Religionspsychologe Kenneth Pargament (1997) versteht unter Spiritualität die „höchst individualisierte Suche nach dem Sinn einer Verbindung mit einer transzendenten Macht“ (zit. b. Oser a. o. 953). Für den Münchener Religionswissenschaftler Michael von Brück beruht Spiritualität auf „etwas Allgemein-Menschlichem“, was den Menschen veranlasst, der Frage nachzugehen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Brück 2013, 19). Diese Frage sei letztlich eine „zutiefst religiöse Frage“, auch wenn sie unter Umständen von einem Atheisten gestellt würde. Es lässt sich zwar faktisch eine Spiritualität ohne Religiosität beobachten, aber es lässt sich keine Religiosität ohne Spiritualität denken.
Die Fähigkeit zu spirituellem Erleben verdanken wir unserem Bewusstsein, einem Begriff, der schwer erklärbar ist; denn es handelt sich nicht um ein physikalisches Phänomen. Bewusstsein besteht nicht aus Materie. Materie besitzt kein Bewusstsein. Man kann es nicht wie materielle Objekte beobachten, messen und wiegen. Es beruht auf subjektiver Erfahrung. Trotzdem sind wir absolut sicher, dass es das Bewusstsein gibt. Insofern kann man in ihm eine Anomalie gegenüber der materiellen, physikalischen Welt sehen (Russell 2009).
Um zu verdeutlichen, was wir unter Bewusstsein als einer Fähigkeit verstehen, innere Erfahrungen zu machen, vergleicht der englische Physiker und Psychologe Peter Russell diese mit dem Licht eines Projektors: Das Bewusstsein erhellt und interpretiert die Bilder, die „im Geiste“ erscheinen, auch wenn sie nicht objektivierbar sind. Sie stellen deshalb für die Wissenschaft ein hartes Problem dar, da sie nach deren bisher geltendem Paradigma die Phänomene unserer inneren Welt, also unseres Bewusstseins, nicht erklären kann. Das Bewusstsein ist aber allgegenwärtig. Russell (2009) spricht von „einer fundamentalen Qualität der Natur“. Sie kann nicht aus der Materie stammen, da diese unempfindsam und erfahrungsunfähig ist.
Die Inhalte des Bewusstseins beziehen sich auf Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle oder Träume in verschiedenen Intensitäten. Als spirituelles Bewusstsein, das über sinnliche Erfahrungen hinausreicht, lässt sich durch intensive Meditation sogar bis zum sogenannten reinen Bewusstsein steigern, das heißt bis zu einer „Befreiung“ von aller an Raum und Zeit gebundenen Erfahrung. Was bei einer solchen „Erleuchtung“ erlebt wird, bezieht sich auf keinerlei Objekte, sondern ist ein Gewahrwerden von Unendlichkeit, ein Eintauchen in eine ewig gültige Bewusstheit, in den Bereich des Göttlichen. Reale Belege dafür lassen sich bei Yogis, Mystikern oder Heiligen aus allen Jahrhunderten finden (Russell 2009).
Das Außergewöhnliche an diesem Befund liegt darin, dass diese alten Einsichten den Erkenntnissen der Quantentheorie entsprechen. Mystiker beschrieben ihre spirituellen Gipfelerfahrungen mit Begriffen des Lichts. Sie wurden als „Erleuchtete“ bezeichnet. Gott als das Licht ist zentraler Bestandteil der Religion. Von der Quantentheorie wissen wir, dass das Bewusstsein auf der Basis von Licht funktioniert. Es wird sogar mit ihm gleichgesetzt. Es ist ebenso wie Licht nichts Materielles und bewegt sich mit Lichtgeschwindigkeit. Es hat keinen Ort oder Raum. Durch das Bewusstsein werden Raum und Zeit transzendiert. Dies belegen u. a. auch Nahtod-Erfahrungen.
Dabei ist anzumerken, dass unser Dasein und unsere Weltsicht zwar an die Bedingungen von Raum und Zeit gebunden sind, dass aber das, was wir über die Sinne und über die Bedingungen von Raum und Zeit über die physische Welt um uns herum erfahren, nur von uns konstruierte Abbilder sind. Es handelt sich also bei dem, was wir sinnlich wahrnehmen, überhaupt nicht um die wirkliche physische Welt. Schon Immanuel Kant hatte festgestellt, dass „die Dinge an sich“ nicht erfahrbar sind. Das heißt, dass das Bewusstsein, insbesondere das spirituelle Bewusstsein, eine Brücke in diese andere Welt darstellt, und dass wir somit auch Teile dieser anderen Welt sind. Licht und Bewusstsein sind demnach fundamental wichtige Größen. Wenn das physische Licht im Universum fundamental ist, so gilt dies auch für das Bewusstsein. Ohne das Licht gäbe es keine Erfahrung (Russell 70). Das heißt: „Wir benötigen heute dringender als je zuvor ein Weltbild, welches die spirituelle Suche im unbegrenzten Raum mit einbezieht. Auf dem Brachliegen der spirituellen Kräfte in unserer Zeit beruhen so viele unserer Krisen (111). Was heute gefragt ist, wäre eine gegenseitige Annäherung von Wissenschaft und Religion, um ein neues Weltbild entstehen zu lassen.
Spirituelles Bewusstsein im Wandel
Die Inhalte, Ausdrucksformen und Bedeutsamkeiten spirituellen Lebens haben sich im Laufe der Geschichte gewandelt und fortgebildet. Es ist davon auszugehen, dass die Menschen schon in den ersten Jahrtausenden in einer magisch-religiösen Welt, d. h. in einer geradezu unmittelbaren Verbindung mit „übernatürlich“ wirkenden Mächten gelebt haben. Die dabei entstandenen inneren Bilder sind später z. T. auch in die Religionen eingegangen und bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben, wie der bekannte US-amerikanische Religionssoziologe Robert N. Bellah in seinem...