»Goldenes, hunderttürmiges Mütterchen Prag«
Familiärer Hintergrund
Richard (links) und sein Bruder Alois Wedenig im Vrchlického sady, einem Park nahe dem Hauptbahnhof, Prag, um 1926.
Es gibt Fotografien, die das Gefühl vermitteln, als würden sie alles über einen Menschen offenbaren – als wäre das Wesen, die Seele, der Charakter in dem einen, winzigen Bruchteil einer Sekunde eingefangen worden. Eine solche Aufnahme gibt es auch von Richard Wadani und seinem Bruder – eine der wenigen Fotografien aus Kindheitstagen, die den Krieg überdauert haben. Die Aufnahme entstand im Vrchlického sady, einem Park nahe dem heutigen Prager Hauptbahnhof. Sie zeigt den etwa vierjährigen Richard und seinen um zwei Jahre älteren Bruder Alois während eines sonntäglichen Spaziergangs im Jahr 1926. Die Szenerie auf den ersten Blick: bürgerlich, geordnete Verhältnisse. Fein gekämmte Buben in gebügelten Matrosenanzügen, wie sie damals in ganz Europa in Mode waren.
Alois, der Ältere, lächelt in die Kamera. Kokett, ein bisschen verschämt vielleicht, doch freundlich. Richard hingegen – Riša, wie er von Mutter und Bruder gerufen wird – in einer leicht abgewandten, seitlichen Pose: Skeptisch, die Situation kritisch taxierend, schaut er in die Kamera. Ein bisschen aufmüpfig, kämpferisch. Ich brauche das alles nicht, scheint sein Blick zu sagen. Das Naturell der beiden Buben im Schnappschuss erfasst: Alois, der Weichere und Strebsame, der später einmal in einem Büro arbeitet, politisch in der Angestelltengewerkschaft organisiert ist, Krawatten und Anzüge trägt, gerne mit den Mädchen tanzen und ins Kaffeehaus geht. Der sein Soldatendasein in der Kriegsmarine der Wehrmacht nicht überleben wird. Richard, der Robuste. Der sich nichts gefallen lässt, der früh beginnt, sich politisch zu interessieren, der Demonstrationen liebt und illegale Plakate klebt. Dessen Schule die Straße ist. Der alle Kämpfe austrägt, die Obrigkeit austrickst und schneller laufen kann als die Polizei. Der sich auf Sportplätzen und in Werkstätten zu Hause fühlt und mit den Mädchen lieber am Lagerfeuer als im Kaffeehaus sitzt. Der der Wehrmacht mit Schwejk’scher Schlauheit Paroli bietet und im Oktober 1944 zu den Alliierten desertiert.
Die charakterliche Unterschiedlichkeit der Brüder wird in Richards Erinnerungen immer wieder deutlich. Dabei beschreiben diese Erzählungen und Geschichten freilich nicht nur den Bruder, sondern auch sich selbst:
»Mein Bruder war ein sehr anständiger Mensch. Er war erst bei der Sozialistischen Jugend, dann bei der Gewerkschaftsjugend und Angestelltengewerkschaft. Selbstverständlich immer noch links. Aber wie sie mich von der Universitätsklinik verletzt nach Hause gebracht haben, weil mein Auge eingeschlagen war – weil wir uns mit den Faschisten geprügelt haben –, da hat er gesagt: Ich würde an deiner Stelle da nicht mitmachen. Das war halt der Unterschied! Er hat mich unterstützt, aber selbst mitgegangen ist er nicht. Er hat wohl plakatiert für die Gewerkschaftsjugend, aber so wie wir, wo wir uns gegenseitig mit den gegnerischen Gruppen aufgelauert haben – also das nicht.«
Als Richard sich diese Verletzung zuzieht, ist er ungefähr sechzehn Jahre alt. Die Straßen Prags kennt er wie seine Westentasche. Hier, in der pulsierenden Hauptstadt der jungen Tschechoslowakei, ist er groß geworden: »Reingewachsen in eine Jugend«, die, wie er selbst sagt, geprägt war »von der damaligen revolutionären Entwicklung«, in der sich die zeitgenössische politische Lage auf allen Ebenen – auch der familiären – widerspiegelt.
Vrchlického sady, wo die eingangs beschriebene Aufnahme der beiden Buben entstand, lag in unmittelbarer Nachbarschaft zur Wohnadresse der Wedenigs. Eine kleine, beengte Wohnung in der Rubešova: »Fünf Minuten zum Zentrum. Drei Minuten vom Deutschen Theater und sieben Minuten vom Bahnhof, nicht weit von den königlichen Weinbergen, Hausnummer 5, das war unsere erste Adresse.«
Tatsächlich lag die Wohnung speziell für Richards Vater günstig, in direkter Nähe zu dessen Arbeitsplatz. Paul Wedenig, von Beruf Mechaniker, hatte zu einem nicht näher geklärten Zeitpunkt als Arbeiter beim Bühnenpersonal des Neuen Deutschen Theaters in Prag angeheuert, wo er es nach dem Ersten Weltkrieg im Laufe der Zeit bis zum Bühnenmeister brachte. Seine Aufgabe war im Wesentlichen die Überwachung des Bühnenaufbaus der laufenden Theaterproduktionen, in denen während der 1920er und 1930er Jahre nicht nur Publikumslieblinge wie Gisela Werbezirk, Adrienne Gessner, Paula Wessely, Paul Hörbiger, Hans Moser oder Max Reinhardt gastierten,1 sondern in denen sich vor allem die politischen Gegensätze zwischen Deutschen und Tschechen kristallisieren sollten.
Aus welchen Gründen und über welche Wege es den aus Kärnten stammenden Paul Wedenig – geboren am 1. Jänner 1892 in St. Jakob an der Straße bei Grafenstein – nach Prag verschlug, ist unklar. Ohne Zweifel bot Prag, das ab Mitte des 19. Jahrhunderts einen kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hatte, für den Sohn einer mittellosen Magd mehr berufliche Chancen und Möglichkeiten als das agrarisch geprägte Kärnten. Eventuell lernte Paul Wedenig dort auch Richards Mutter Wilma Janoschek kennen – wo und wann die beiden einander allerdings tatsächlich zum ersten Mal begegnet sind, bleibt ebenso im Dunklen wie die Motive für Pauls Umzug von einer kleinen gemischtsprachigen Kärntner Landgemeinde ins multikulturelle, urbane Prag.
Aus den Akten des Österreichischen Kriegsarchivs geht jedenfalls hervor, dass Richards Vater bereits an der Adresse Rubešova 5 gemeldet war, als er am 13. Oktober 1914 in den königlichen Weinbergen durch das k. k. Landwehr-Bezirkskommando gemustert wurde. Knapp zwei Wochen später, am 26. Oktober, wurde er zum Landsturm-Infanterieregiment Nr. 7 eingezogen, von wo aus er am 11. November 1916 zum Telegraphenregiment transferiert wurde. Wenige Tage später, am 25. November 1916, findet sich schließlich der letzte Eintrag zu Paul Wedenigs Soldatengeschichte: die Beförderung zum Landsturm-Gefreiten, was de facto bedeutet, dass er zeit seines Militärdienstes eine sehr niedrige Charge blieb und sich in keiner Weise hervortat.2 Die weitere Spur von Richards Vater lässt sich erst wieder mit seiner Eheschließung aufnehmen. Europa befand sich noch im Krieg, als Paul am 15. Juni 1918 in der Prager Ludmillakirche die gebürtige Wienerin Wilhelmine (Wilma) Janoschek heiratete – auch die Kirche im Grätzl der damaligen Wedenig-Wohnung gelegen, direkt am Friedensplatz, dem heutigen Námestí Míru.
Es sollte keine glückliche Ehe werden. Was das Paar jedoch teilte, war die Erfahrung einer schwierigen und armutsgeprägten Kindheit. Wie Paul, der als unehelicher Sohn der Magd Aloisia Wedenig recte Wadani – ohne festen Wohnsitz, Vater unbekannt – in Kärnten geboren wurde,3 begann auch Wilma ihr Leben am 9. Februar 1890 im achten Wiener Gemeindebezirk unter schwierigen sozialen und ökonomischen Vorzeichen.4 Ihre Geburt wurde in einem Wiener Findelhaus angezeigt, was de facto bedeutet, dass sich über ihre Herkunftsfamilie noch weniger in Erfahrung bringen ließ als über jene von Paul. Gesichert erscheint lediglich, dass der Name von Wilmas Mutter Johanna lautete und dass diese zum Zeitpunkt der Geburt einunddreißig Jahre alt war. Es war allerdings nicht die Mutter selbst, die das Baby dem Findelhaus übergab, sondern eine gewisse Anna Pisek, geborene Janoschek. Sie fungierte auch als Namensgeberin, wobei unklar bleibt, ob es sich bei Anna Pisek um die leibliche Großmutter handelte. Die Heimatzuständigkeit dieser Frau lag jedenfalls in Böhmen, und eben dorthin wurde das Findelkind Wilma am 20. Februar 1890 – elf Tage nach seiner Geburt – auch abgeschoben, und zwar laut Findelhausprotokoll an die Schneiderin Marie Balek, wohnhaft im böhmischen Janowitz 59 bei Wottitz (heute Janovice u Votic).5 Von dort wurde Wilma zu einem unbekannten Zeitpunkt an ein Kloster im Prager Stadtbezirk Karlín weitergereicht, wo sie offenbar längere Zeit in katholischer Obhut verblieb. Im Alter von sechzehn Jahren landete sie schließlich – quasi als letzte Station ihrer bewegten Kindheit – als Pflegekind bei einer Familie in der Prager Innenstadt: »Als gute Bedienerin, wie ich später festgestellt habe«, kommentiert Richard diesen Lebensabschnitt der Mutter und spricht damit die ökonomischen Ausbeutungsverhältnisse an, denen Waisen- und Pflegekinder bis tief ins 20. Jahrhundert ausgesetzt waren.
Die großelterlichen Herkunftsfamilien waren bei den Wedenigs aus naheliegenden Gründen kein Thema. Über die Kärntner Großmutter Aloisia Wedenig, die Richard gerne kennengelernt hätte und deren Grab er Jahrzehnte später in Kärnten vergeblich suchte, hatte der Vater wenig erzählt, zumal er...