Alles eine Frage der Perspektive (CMS)
Ich war eineinhalb Jahre alt, als ein Zeh meines linken Fußes anschwoll und sehr schmerzte. Er war entzündet. Meine Eltern taten, was alle Eltern tun, sie gingen mit mir zum Kinderarzt. Der Kinderarzt gab ihnen die Überweisung in ein Krankenhaus, in dem sie mich hilfesuchend vorstellten. Mein Vater hielt mich in den Armen, als der Arzt den Beiden erklärte: „Der Zeh muss amputiert werden, am besten, Sie lassen das Kind gleich da.“ Selbst wenn mein Vater bis dahin nicht gewusst hätte, dass er schnell laufen konnte, - ab diesem Moment hatte kein Mensch Zweifel daran. Er machte kehrt und flüchtete. Mit mir in den Armen. Abgesehen davon, dass ich - als heute immer noch glückliche Besitzerin von zehn gesunden Zehen - meinem Vater sehr dankbar bin; die Entzündung setzte sich tatsächlich fort. Sie nahm Besitz vom nächstgelegenen großen Gelenk, um sich einzunisten, meinem linken Knie. Jetzt könnte man sagen: "Siehst du, hätte man den Zeh amputiert, wäre dir das alles erspart geblieben!" Allerdings bin ich durch meine inzwischen jahrzehntelange Erfahrung und Beobachtung von Krankheitsverläufen sicher, dass durch das Abnehmen eines Körperteiles etwas Anderes geschehen wäre, weil es einfach bestimmt war, dass ich ein Geschenk erhalte. Ein Geschenk in Form einer Herausforderung, die mich dahin bringen sollte, wo ich heute stehe.
Ich war also immer noch eineinhalb Jahre alt, als diese Entzündung ins linke Kniegelenk eingezogen war. Die Folge war neben medikamentösen Behandlungen, um Rötung, Schwellung, Hitze, Schmerz zu unterdrücken, ein Gips, der von der Hüfte reichte bis zum Fuß. Belastung verboten, Laufen erst einmal gestrichen. Stehenbleiben war angesagt. Was man als Eineinhalbjährige so macht, wenn man stehen oder sitzen bleiben muss? Das kann ich Ihnen sagen: Man spielt mit Klopapier! Stundenlang! Meine Mutter sagt heute noch, dass selbst sie meine Hingabe an diese spezielle Papiersorte nicht verstehen konnte. Dabei kann man damit viel anstellen; man kann es aufwickeln, zerknüllen, wieder ent - wickeln und ent - falten. Immer und immer wieder. Wenn das kein interessantes Erlebnis ist! So kam ich also in früher Kindheit schon dazu, die Prozesse des Lebens zu begreifen. Zerknirscht sein, Verwicklungen erleben und sich immer wieder daraus ent–wickeln, die Ent–faltung erfahren. Ist das nicht wunderbar? Auf diese und ähnliche Weise verbrachte ich vier weitere Jahre meines Lebens. Nein, nicht ausschließlich mit Klopapier, wohl aber mit, kaum waren sie abgeklungen, stets wiederkehrenden Entzündungen, Medikamenten, Umschlägen, Bein hoch, den Gips raus aus der Badewanne, während der Rest meines Körpers baden durfte, auf dem Po rutschen, statt, wie andere Kinder sich auf den Beinen zu bewegen. Ich wurde Meisterin der Langsamkeit und darin, einen guten Blick für die Trittsicherheit, Schnelligkeit und Gangart der Füße meiner Mitmenschen zu bekommen. Ich lernte, dass Andere schneller sind und höher als ich, weil auf zwei Beinen laufend. Lachend konnten sie über Hindernisse springen, Fangen spielen oder, wenn sie etwas angestellt haben, einfach wegrennen. Das alles habe ich mir gründlich und in aller Ruhe und Gelassenheit ansehen können. Doch ich konnte noch etwas Anderes. Ich fühlte die Unterschiede der Fußböden in meinem Elternhaus. Ob es die kalten Fliesen in der Küche waren, auf denen ich mich mit Po und Händen fortbewegte oder der weiche, flauschige Teppichboden im Wohnzimmer. Die Holztreppe im Flur habe ich am meisten geliebt. Die Wärme und der Geruch des Holzes, das meine Mutter immer wieder auf Knien putzte und pflegte, damit es heute immer noch aussieht wie neu, ist mir heute noch in Erinnerung. Wenn ich eine Zeit lang so da saß oder lag, im Sommer oft im Garten, rückten die Stimmen der Menschen um mich herum und der Klang der vorbeifahrenden Autos immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen nahm ich den Gesang der Vögel wahr, als gäbe es nichts Anderes auf dieser Welt. Ganze Geschichten erzählten sie den lieben, langen Tag. Ich erlebte ihre unterschiedlichen Stimmungen von unendlicher Lebensfreude, Liebesgesängen bis hin zu eifersüchtigen Streitgesprächen oder Beschimpfungen der konkurrierenden Balzgenossen und natürlich angsterfüllten Warnschreien vor todbringenden Feinden. Eine Welt in der Welt öffnete sich mir mehr und mehr. Die Bäume unseres Gartens wurden zu meinen Freunden. Je länger ich unter ihnen lag, fühlte ich, wie sie sich miteinander verständigten, wie auch die Insekten, die sich in den und um die wunderbaren Blüten der bunten Blumen tummelten. All das nahm ich tief mit all meinen Sinnen in mich auf, wie auch das Blau und Weiß des Himmels, der eine ganz eigene, andere Sprache spricht, als die Erde, über die meine Hände sanft streichelten, während ich in friedlicher Geborgenheit auf ihr liegen konnte.
Als die Zeit kam, in der ich in den Kindergarten gebracht werden sollte, wurde ich aus meinem friedlichen Leben jäh herausgerissen. Doch mein Köper wusste sich zu helfen, indem er Fieber produzierte, was mir vor der lärmenden, beängstigenden Kinderschar eine Zeit lang Erholung schenkte. Diese Welt passte so gar nicht zu der, die ich bis dahin kannte. So zog ich es vor, meistens irgendwo an einer Wand auf meinem Stühlchen zu sitzen und hingebungsvoll meine Füße zu betrachten. Ich konnte mit den anderen Kindern einfach nichts anfangen. Erst als man meinen Cousin in meine Gruppe integrierte, traute ich mich, meinen Stuhl näher an die Kinder zu rücken und ab und zu mal eins davon anzuschauen. So durfte ich zwei Dinge erleben: Wie man sich als Außenseiter fühlt und die Dankbarkeit für einen Menschen, der auftaucht und einem Sicherheit und Geborgenheit vermittelt. Ich kann mich nicht daran erinnern, gelitten zu haben. Ich habe das alles beobachtet und zur Kenntnis genommen und eine tiefe Liebe und Dankbarkeit empfunden für alle, die versucht hatten, mich zu verstehen.
Dann wurde ich fünf und mein Knie wurde zum ersten Mal operiert. Die Ärzte taten ihr Bestes, meine Eltern pflegten mich liebevoll und meine drei Jahre jüngere Schwester musste von Geburt an Verständnis zeigen für ihre gehbehinderte, ältere Schwester. Das tat sie auch. Es äußerte sich so, dass sie schon sehr früh ihre eigenen Wege ging, ausprobierte, was man nur ausprobieren kann, ohne Rücksicht auf Risiken oder die Nerven unserer Eltern. Sie war das Gegenteil von mir. Rebellisch, eigensinnig, temperamentvoll, quirlig.
Nach dieser ersten Knieoperation wurde irgendwann wieder einmal der Gips entfernt. Ich wollte mich auf zwei Beine stellen und loslaufen und – knickte ein. Aha, ich hatte Kraft im Liegen gesammelt, die Erinnerung an's Laufen war wohl in meinem Kopf gespeichert, aber die Muskeln machten nicht mit. Weil kaum noch welche da waren. Also hieß es zum x-ten Mal: Laufen lernen. ‚Willst du im Leben vorwärts kommen, musst du etwas dafür tun.’ Ich habe etwas dafür getan und lief dann auch irgendwann. Wie lange, weiß ich heute nicht mehr, denn die Entzündung kehrte wieder und wieder und wieder in dieses Knie zurück. Eine Ursache wurde nicht gefunden, therapiert wurde wie bisher, bis schließlich die zweite Operation folgte. Da sich keiner der bisherigen Ärzte mehr an "den Fall" herantraute, wurde ich in eine 300 km entfernte Klinik nach Düsseldorf gebracht, in der sich ein Professor meiner annahm. Seine Prognosen waren nicht gerade zuversichtlich. Weil mein Körper inzwischen insgesamt sehr geschwächt war, wurde mein Überleben sehr in Frage gestellt, abgesehen von der Vermutung, dass in mir etwas "Bösartiges" wuchs, was mein Leben dann früher oder später sowieso beenden würde. Und wenn ich entgegen solcher Prognosen Glück hätte, sei es immer noch sehr wahrscheinlich, dass man das Bein amputieren müsse. Heute denke ich, ein geschäftstüchtiger Arzt nutzte die Angst meiner Eltern. Er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Es war Zeit für mich, mit meiner Einstellung zu meinem Leben und Sterben eine eigene Bahn einzuschlagen.
Da meine innig geliebte Großmutter, mit der ich die vergangenen Jahre aufgrund ihrer Krebserkrankung gemeinsam liegend verbracht hatte, inzwischen im Sterben lag, lagen die Nerven meiner Eltern blank. Meiner Mutter wurde empfohlen, mit mir während der Wochen des Aufenthaltes im Krankenhaus zu übernachten. Es kam der Tag der Operation. Meine Mutter weinte. Ich durfte meinen ‚abgeliebten’ Teddy bis zur Tür des OP-Saales in den Armen halten. Als ich in meinem Krankenbett von meiner Mutter weggeschoben wurde, konnte ich ihr noch schnell etwas sagen, was mir sehr wichtig war: "Mama, weine nicht. Wenn ich jetzt sterbe, werde ich bei Gott sein. Du weißt doch, dass es mir dann gut geht. Besser, als jetzt. Mach dir um mich keine Sorgen." Das war meine tiefe Überzeugung und so konnte ich mich vertrauensvoll in die Hände der Ärzte begeben. Dass meine Mutter traurig war, obwohl sie doch wusste, dass Gott im für sie schlimmsten Fall mich zu sich nehmen würde, konnte ich damals überhaupt nicht nachvollziehen. Die Ärzte gaben offensichtlich ihr Bestes, mein Körper genau so und so erwachte ich irgendwann aus der Narkose. Ich bat meine Mutter, die Bettdecke zu heben, damit ich sehen konnte, ob das linke Bein noch dran sei. Dem Himmel sei Dank, ich hatte noch beide Beine! Dann folgte eine Zeit sorgenvoller Blicke des Pflegepersonals, irgendwie hatte ich immer das Gefühl, von Spannung umgeben zu sein. Währenddessen hatte ich Schulkameraden, die mir täglich in unbeirrbarer Treue das in der Schule Gelernte, inklusive Hausaufgaben per Post zusandten. Ich lernte, was zu lernen war, schrieb die Arbeiten, die die anderen in der Schule schrieben, im Krankenhaus. Was ich nicht verstand, erklärte mir meine Mutter, die...