Teil 1. Komplexität hoch drei! Die Komplexitätsfalle – die Komplexitätsdenke – die Komplexität des Faktors Mensch
A. Die Komplexitätsfalle
Komplexität ist das Kennzeichen der Moderne. Kein Mensch, der in der heutigen Zeit agieren möchte, kann sich ihr entziehen. Und erst recht nicht im Unternehmensumfeld: Sobald Sie in einen Markt eintreten, sind Sie mit Komplexität konfrontiert.
Komplexitätsbewältigung als zentrale Herausforderung
Komplexität macht uns oft Angst, weil der Mensch per se nicht dafür ausgelegt ist. Je komplexer die Situation, desto schwerer sehen wir die Konsequenzen unseres Handelns ab. Am einfachsten sind für uns überschaubare, klare Strukturen, aber die gibt es im komplexen Umfeld eben so oft nicht mehr.
Wir haben daher keine andere Wahl: Wenn wir in dieser Welt leben und handeln wollen, müssen wir uns mit ihrer Komplexität auseinandersetzen, die Chancen der Komplexität nutzen. Höhere Fähigkeiten erwachsen aus besserer Komplexitätsbewältigung!
Das ist möglich, wenn auch nicht so einfach. Intuitiv laufen wir nämlich wegen unserer instinktiven und angelernten Muster allzu leicht in die Fallen, die durch Komplexität entstehen.
Zunächst möchte ich Ihren Blick für die Fallen schärfen, um danach Ihre Chancen und Möglichkeiten aufzuzeigen.
1. Wie Ihr Unternehmen sich selbst blockiert und warum Sie nicht mehr, sondern anders arbeiten sollten
„Das kann ich nicht entscheiden!“, sagt der freundliche Servicetechniker zu mir. Vor drei Monaten habe ich einen immerhin 700 Euro teuren Geschirrspüler bei seiner Firma gekauft. Ich dachte mir, das ist ja eine bekannte Marke, kein No-Name-Produkt aus China, da kann man ja nichts falsch machen. Doch leider zeigt das Display schon wieder „EX“ an, um mir mitzuteilen, dass mein Geschirr leider nicht getrocknet wird und immer noch patschnass im Geschirrspüler steht. Der Kundendienst ist bereits zum dritten Mal da.
„Das kann ich nicht entscheiden.“
Beim ersten Mal wurden – nachdem die halbe Küche auseinandergebaut worden war, um an das Geschirrspüler-Innenleben zu kommen – nur einige Teile ausgetauscht. Beim zweiten Mal hat der Techniker bereits alle Teile, die man irgendwie austauschen kann, ausgetauscht. Vorher hatte er gesagt: „Das ist wirklich ungewöhnlich, dass das ein zweites Mal passiert. Ich rufe mal in der Zentrale an, ob wir den Geschirrspüler austauschen können. Ich kann das leider nicht entscheiden.“ In der Zentrale teilte ihm eine freundliche Dame am Telefon mit, dass keiner der Verantwortlichen zu erreichen sei, die seien alle im Meeting, er solle doch einfach alle relevanten Teile austauschen.
Beim dritten Mal „EX“ sagt der Techniker: „Wir als Techniker sind zwar vor Ort und kennen das Geschehen am besten, dürfen aber leider nicht entscheiden. Ich muss den Meister in der Zentrale anrufen!“ Er erfährt nach einigen Telefonschleifen: „Die Meister sind alle im Fuhrparkmeeting! Mindestens noch eine Stunde!“ Er seufzt und legt auf. Er erklärt mir, dass die Dienstwagen schon ziemlich heruntergekommen sind und von verschiedenen Automobilfirmen Angebote eingeholt wurden. Die müssten natürlich ausführlich geprüft und verglichen werden, deswegen seien die Meister kaum zu erreichen. Außerdem hat er den Eindruck, dass durch das aktuelle Kosteneinsparprogramm alle Entscheidungswege noch langsamer werden. Er könne jetzt nur noch über E-Mail eine Entscheidung erbitten. Auf seine Nachricht an den zuständigen Meister erhält er eine Abwesenheitsnotiz, er schickt an zwei weitere Adressen. Er klappt seinen Laptop zu und verlässt mich mit den aufmunternden Worten: „Da wird sich jetzt dann wohl schon einer drum kümmern und entscheiden, was zu tun ist!“
Zwei Wochen später ruft mich jemand aus der Zentrale an, dass der Geschirrspüler ausgetauscht wird:„Aber erst in ungefähr zwei Wochen, weil wir unsere Routenplanung optimieren müssen, da müssen wir Sie als Kunden einpassen …“
Diese Episode habe ich selbst erlebt – und wenn ich damals meine Geschirrspülmaschine nicht dringend gebraucht hätte, hätte ich vielleicht nur den Kopf geschüttelt. Konnte ich aber nicht! Und denjenigen Unternehmen, denen diese Art von Absurdität passiert, ob im Kundendienst oder sonst wo, müssten laut aufschreien ob ihrer eigenen Fehlbarkeit.
Leider ist es jedoch Fakt: Viele Unternehmen blockieren sich selbst, sind quasi gefangen und finden aus dieser Falle nicht mehr heraus. Sie schaffen sich eine Selbstblockade durch Strukturen wie Entscheidungswege, Arbeitsprozesse, Organigramme etc., die sie sich auferlegt haben, mit dem Ziel sich besser zu organisieren.
Ich habe dabei oft beobachtet: Die Manager sind guten Willens, die Widrigkeiten zu beheben. Sie wählen aber oft ungeeignete Lösungen, die die Komplexitätskosten wiederum erhöhen und den Beteiligten enormen Stress bereiten. Ich kenne keinen Manager, der gerne Entlassungs- oder Konfliktgespräche anstößt, gerne permanente „Restrukturierungen“ durchführt oder sich abends, nachts oder am Wochenende den Kopf über die Situation in der Firma zerbricht. Es ist kein Wunder, dass „Burnout-Erkrankungen“ zunehmen, wenn aus Produktivitätsgründen immer mehr Arbeit von immer weniger Köpfen erledigt werden soll. Die bisherige Lösung „Noch mehr arbeiten mit den bisherigen Methoden!“ stößt an ihre Grenzen.
Gleichzeitig gibt es in komplexen Systemen bei komplexen Vorhaben immer auch Zielkonflikte und Dilemmas, die aus psychologischer Sicht besonders stressen, denn sie implizieren: „Egal was du machst, du machst es falsch!“ Aufträge, die Manager erfüllen sollen, sind oft gestaltet nach dem Motto: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ Oder: „Werde produktiver (Sorge dafür, dass die Arbeit von weniger Menschen zu geringeren Kosten erledigt wird!) UND sorge für eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit (Diese wird dann akribisch in Mitarbeiterbefragungen erhoben.)!“
Stress durch Zielkonflikte und Dilemmas
Manager werden dann oft auf beide Ziele verpflichtet: Produktivitätssteigerung UND Mitarbeiterzufriedenheit. Die betroffenen Manager haben dann ein Dilemma, wenn sie beide Ziele als unvereinbar sehen, an beiden Zielen unverändert festhalten und darüber auch kein Dialog möglich scheint!
Für dieses zentrale Thema, einen besseren Umgang mit Komplexitätsdilemmas, biete ich Ihnen in diesem Buch Anregungen und Lösungen!
Die Lösungsfallen
Doch zunächst ein Blick auf die gut gemeinten Lösungsversuche in Unternehmen, die oft nicht nur wenig wirkungsvoll sind, sondern sogar häufig zusätzliche Probleme produzieren. Deshalb nenne ich sie Fallen.
Sehen Sie die Fallen in Ruhe an, denn ich wette, Sie finden sich in der ein oder anderen wieder. Nur wer die Fehler kennt, kann auch die Hebel identifizieren, an denen er ansetzen muss!
Die Zentralismus-Falle
Die ungünstige, weil uneffektive Bündelung von Entscheidungsprozessen, wie in der Geschirrspüler-Story, ist ein zentrales Problem in Unternehmen: Wenn Entscheidungen hauptsächlich im Kern, also vermeintlich „zentral“, gefällt werden oder nur gefällt werden dürfen, verlangsamt dies auf gefährliche Weise die Prozesse dort, wo das Unternehmen in Kontakt mit Kunden, Partnern etc. kommt. Dies schlägt in jeder Hinsicht negativ zu Buche, letztlich auch monetär.
Genauso gibt es das umgekehrte Phänomen: die Kohäsions-Falle!
Agilität und Kohäsion in Gefahr
Unternehmen lassen dezentral bzw. lokal praktisch jede Art von Lösung zu mit dem Effekt, dass es jeder anders macht. Folge ist, dass die Komplexitätskosten unnötig steigen und potenzielle Synergieeffekte nicht genutzt werden. Die Kohäsion geht verloren, genauso wie Überblick und Transparenz, wenn jeder vor Ort das Rad neu erfindet!
Die Zielkonflikt-Falle
Ungelöste Zielkonflikte führen zu Blockaden.
Besonders verheerend sind auch ungelöste Zielkonflikte, die in den Untergrund abwandern und von dort aus auf irritierende Weise ein Eigenleben führen: Wenn Mitarbeiter und Führungskräfte Unsicherheit bezüglich der Unternehmensziele empfinden oder sie gar für unvereinbar halten, hemmt dies alle Arbeitsprozesse, weil Entscheidungen nicht mehr nachvollzogen werden können. Unklarheiten dieser Art müssen auf Führungsebene beachtet und bestmöglich ausgeräumt werden – die Mitarbeiter müssen wissen, woran sie sind.
Die „Mehr-desselben“-Falle
Innovation bleibt auf der Strecke.
Die Tendenz, „Altbewährtes“ aufrechtzuhalten und fortzusetzen (obwohl sich dieses „Alte“ selten permanent bewährt hat), ist ein weiterer Stolperstein. Das Muster vom Typ „Mehr desselben!“, wenn es um Arbeitsprozesse etc. geht, steht echter Innovation im Weg. Statt neue und alte Probleme im Kontext der aktuellen Rahmenbedingungen zu diskutieren und nach besseren Lösungen zu suchen, werden schwierige Themen oftmals ausgespart. Am Ende wird so verfahren wie bisher:
- Unnötige Meetings mit möglichst vielen Teilnehmern.
- Meetings, die zu Multitasking-Einheiten geraten: Die Teilnehmer versuchen, dem Meeting quasi nebenbei zu folgen, und gleichzeitig Laptop und Handy zu bedienen. So ist man mental vermeintlich überall, de facto aber nirgends. Unser Arbeitsgedächtnis verfügt nur über eine begrenzte Speicherkapazität, Multitasking in größerem Rahmen ist deshalb per se zum Scheitern verurteilt.
- Protokollzwang zur besseren Dokumentation, obwohl dies...