Einleitung
I. Schuld und Versöhnung
1. Schuld und Versöhnung in der Gesellschaft
In unserer Gesellschaft begegnet man zwei extremen Einstellungen:
Fehlen von jeglichem Schuldbewusstsein
Viele Menschen in unserer Konsum-, Leistungs- und Lustgesellschaft haben sich vom Thema Schuld und Sünde und damit auch von Versöhnung verabschiedet. Sie leben nach dem Motto: Gut ist, was gefällt, was Lust und Vergnügen bereitet oder was dem eigenen Weiterkommen, der Besitzmehrung und dem Erfolg dient. Denke positiv, setze eine freundliche und liebenswürdige Maske auf, verwirkliche dich selbst … Die einschlägigen Ratgeber in den Bücherregalen bieten dabei durchaus wertvolle Lebenstipps an, die jedoch, isoliert betrachtet, manchmal auf Kosten anderer und oft auch auf Kosten der eigenen Lebensbalance gehen. Fehler und Schwächen sind nach Möglichkeit zu verbergen, zu verstecken und zu vertuschen. Vergehen werden solange geleugnet, bis man erwischt und überführt wird. Dass dieses Konzept recht erfolgreich ist, lernt man an der Berichterstattung über prominente Vorbilder (ein Blick in die Tageszeitung liefert hinreichend Beispiele dafür).
Leiden an schweren (irrationalen) Schuldgefühlen
Auf der anderen Seite werden viele Menschen von unerträglichen, oft irrationalen Schuldgefühlen gequält und regelrecht zerfleischt.
Die Frage „Was habe ich nur falsch gemacht?“ frisst die Seele auf, wenn z. B. eine Ehe gescheitert und die Trennung unausweichlich ist. Nicht selten geben sich die Kinder die Schuld dafür, dass sich die Eltern getrennt haben.
„Was haben wir nur falsch gemacht?“, fragen sich verzweifelte Eltern, wenn ihr Sohn oder ihre Tochter Drogen nimmt, auf die schiefe Bahn geraten ist oder sich von ihnen entfremdet und keinen Kontakt mehr mit ihnen hat.
Auch kleinere oder größere Lebenswenden, wie Schulwechsel, Arbeitslosigkeit, Erreichen des Pensionsalters, der Tod eines Partners, Umzug in eine andere Stadt oder ins Altersheim können von Schuldgefühlen begleitet werden, wenn die neue Situation nicht mehr als so befriedigend empfunden wird wie das Leben vorher.
Schuldgefühle haben die Tendenz, sich immer höherzuschaukeln und zu einem wuchernden Monster zu werden, so dass sie in keinem Verhältnis zur tatsächlichen, objektiven Schuld stehen (falls überhaupt von Schuld gesprochen werden muss).
Der Glaube der Kirche kennt Mittel und Wege, mit beiden Extremen fertig zu werden, Menschen zur Umkehr zu bewegen, aus dem Gefängnis von Schuld und Schuldgefühlen zu befreien und einen neuen Weg zum Leben zu öffnen.
2. Beichten in der Krise
Das wirkungsvollste Mittel der Kirche gegen das Böse ist das Sakrament der Buße. Doch gerade die stärkste Waffe ist seit vielen Jahren stumpf geworden; das Beichtsakrament steckt in einer anhaltenden Krise. Gründe dafür sind nicht nur gesellschaftliche Entwicklungen (Säkularisierung, Zeitgeist, „Moderne“), sondern auch der bisherige Umgang der Kirche mit Schuld und Versöhnung. So weist Bernd Jochen Hilberath darauf hin, „dass auch die herkömmliche Beichtpraxis und Bußkatechese mitverantwortlich dafür sind, dass die Zeitgenossen heute auf Distanz zu dieser konkreten Gestalt kirchlichen Bußvollzugs gegangen sind. Einseitigkeiten bei der Gewissenserforschung […] haben häufig dazu beigetragen, dass die Bußerziehung nicht befreiend, sondern versklavend auf Menschen gewirkt hat.“ (Hilberath, S. 3)
Aus den möglichen Gründen für den massiven Rückgang der Beichtpraxis in vielen Pfarreien lassen sich praktische Folgerungen für Versöhnungswege (und andere Formen der Bußpraxis) ableiten.
Das Feuer der Hölle
Die Beichte wurde in der Vergangenheit missbraucht, um den Menschen Angst einzujagen: Angst vor einem strafenden Gott, Angst vor dem Feuer der Hölle, Angst vor der ewigen Verdammnis. Die befreiende Dimension (Erlösung) des Sakramentes wurde vernachlässigt. Selbst nach dem II. Vatikanum wurde Kindern bei Beicht- und Erstkommunionvorbereitungen gedroht, dass sie in die Hölle kommen, wenn sie nicht beichten, dass sie vor dem Empfang der heiligen Kommunion Wasser getrunken haben. Solche und ähnliche negative Erfahrungen tradieren sich, auch wenn man sie nicht selbst gemacht hat.
Deshalb ist es wichtig, dass Versöhnungswege befreiende und positive Erfahrungen im Umgang mit Schuld ermöglichen, die mit dem Leben von heute zu tun haben.
Mündigkeit
Ein Postulat der Aufklärung ist inzwischen zum Allgemeingut geworden: „Der vernünftig denkende Mensch kann sich durch den Gebrauch seines freien Willens die Normen seines Handelns selbst geben.“ (Arnold 1998, S. 51) Markus Arnold stellt fest, dass die Kirche im Hinblick auf das Bußsakrament eine Entwicklung in der westlichen Welt nicht ernst genommen hat: „Die Entwicklung von der Unmündigkeit (Heteronomie, Fremdbestimmung) zur Mündigkeit (Autonomie, Selbstbestimmung) des Menschen.“ (Ebd.) Auch Bernd Lutz bemerkt, dass die Beichte von vielen als „das ‚Herrschaftsinstrument‘ einer autoritären, lebens- und lustfeindlichen Moralinstanz“ betrachtet wird. (Lutz, S. 3) Er zitiert in diesem Zusammenhang aus dem Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“ der Würzburger Synode: „Hat die Praxis unserer Kirche nicht zuweilen den Eindruck genährt, dass man die kirchliche Schuldpredigt bekämpfen müsse, wenn man der realen Freiheit der Menschen dienen wolle? Und war so die kirchliche Praxis nicht ihrerseits am Entstehen dieses verhängnisvollen Unschuldswahns in unserer Gesellschaft beteiligt? Unsere christliche Predigt der Umkehr muss jedenfalls immer der Versuchung widerstehen, Menschen durch Angst zu entmündigen.“ (Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“, S. 93) Aufgeklärte und gebildete Menschen, denen Freiheit und Selbstbestimmung wichtig sind, lassen sich das nicht gefallen. Wer den Versöhnungsweg geht, ist Sünder, aber nicht Objekt, sondern Subjekt; er macht sich auf den Weg.
Gemeinschaftsverlust
Die geschichtliche Entwicklung des Bußsakramentes zur Privatbeichte hatte zur Folge, dass der Gemeinschaftsbezug verloren gegangen ist, der beim Sakrament der Versöhnung noch bis ins Mittelalter gegeben war. Auch wenn gemeinsame Bußfeiern diesem Trend ein wenig gegensteuern wollen, wird Kirche in der Regel nicht als „Umkehrgemeinschaft“ wahrgenommen; wie der Glaube ist auch der Umgang mit Sünde und Schuld ins Private abgeschoben worden. „Gegen die Privatisierung und das Verdrängen von Schuld ist es hilfreich, wenn sich die Kirche als Umkehrgemeinschaft erweist, indem sie das Thema bewusst hält (u. a. durch feste Bußzeiten) und ritualisierte Formen der Schuldverarbeitung und -vergebung (Beichte, Bußgottesdienste, Werke der Barmherzigkeit, Wallfahrten etc.) in situationsgerechter Weise anbietet und dazu motivierend einlädt. Als Umkehrgemeinschaft erweist sie sich auch, indem sie dem/der Einzelnen hilft, seinen/ihren individuellen Umkehrweg zu gehen, und ihn/sie stützt, indem sie den Sünder nicht ausgrenzt, sondern Beziehung aufrechterhält und sucht.“ (Lutz, S. 6)
Die Form des Versöhnungsweges kann ebenfalls dazu beitragen, die Gemeinschaftsbedeutung von Schuld und Versöhnung neu zu entdecken bzw. zu stärken, und Kirche als Umkehrgemeinschaft zu erleben.
Entwicklung zum Kindersakrament
Für viele Katholiken hat sich die Beichte zu einem einmaligen Kindersakrament entwickelt, das für das weitere Glaubensleben keine Bedeutung mehr hat oder selbst bis ins hohe Alter ein Kindersakrament bleibt: Es werden immer dieselben lächerlichen Sünden gebeichtet. Eine 90-jährige Dame bekennt bei jeder Beichte: „Ich habe genascht.“
Die Liste der Probleme, die die Beichte in die Krise geführt haben, könnte noch lange weitergeführt werden. Aber schon hier wird deutlich, dass nach neuen Wegen des Umgangs mit Schuld und der Erfahrung von Versöhnung gesucht werden muss – nicht zuletzt auch deshalb, um die Krise des Beichtsakraments zu überwinden.
3. Das Bußsakrament – ein kostbarer Schatz der Kirche
Beichten befreit und hilft zum Leben
„Wer regelmäßig beichtet, braucht keinen Psychiater“, sagte mir vor Jahren der Mesner meiner Heimatpfarrei. Die Beichte ist eine Möglichkeit, sich mit Gott, mit den Mitmenschen und mit sich selbst zu versöhnen. Es ist eine Form, mit sich selbst ins Reine zu kommen und die Beziehungen zu den Menschen, mit denen man das Leben teilt, zu stärken. Deshalb kann Beichten die Lebensqualität verbessern und eine echte Lebenshilfe sein.
Beichten macht sensibler für die eigenen Schwächen, aber auch für die Schwächen und Nöte anderer. Das „Erkenne dich selbst“ der Antike ist eine Voraussetzung für ein gutes Leben, für ein glückliches und erfülltes Leben, für ein Leben in Fülle, oder wie das Sprichwort sagt: „Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.“ Es hilft zu erkennen, dass man nicht perfekt ist. Das ist ungemein befreiend und entlastend. Die Stärken und positiven Eigenschaften können verbessert werden. Es gelingt eher zu sagen: „Ich bin o.k.!“, und zu sich selber zu stehen, trotz Schatten, Ecken und Kanten, trotz Sünde und Schuld ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Beichten kann zum Leben befreien, indem Schuld nicht verdrängt oder auf die Umstände, auf Sachzwänge oder auf andere Menschen abgeschoben wird, sondern aufgearbeitet und eine neue Art zu Leben ermöglicht wird. Die Vergebung der Sünden setzt einen neuen Anfang. Es geschieht Versöhnung mit sich selbst und mit anderen, Frieden mit Nachbarn, Freunden, Verwandten und Familienmitgliedern.
Das Bußsakrament lässt erfahren: Gott hat mich lieb! Er steht zu mir in unerschütterlicher Treue!
Diese hier geschilderten Erfahrungen sind jedoch nicht...