Vorwort
»Modern sein heißt auf dem Wege sein, unmodern zu werden.«1
Marie von Ebner-Eschenbach ist die berühmteste österreichische und – neben Annette von Droste-Hülshoff – die berühmteste deutschsprachige Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts. Nach wie vor bewundert werden ihre Aphorismen, nicht zuletzt dank ihrer Verbreitung im Internet: »Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: – alle dummen Männer.« – »An Rheumatismen und an wahre Liebe glaubt man erst, wenn man davon befallen wird.« – »Jeder Mensch hat ein Brett vor dem Kopf – es kommt nur auf die Entfernung an.« – »Wer nichts weiß, muß alles glauben.« Oder, ebenso zeitlos gültig: »Der Gescheitere gibt nach! Eine traurige Wahrheit; sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.«2
Dass Ebner-Eschenbach als Figur aber heute in irgendeiner Weise sexy wäre, wird kaum jemand behaupten. Man verbindet mit ihr das etwas angestaubte Bild einer Matrone und einen Tugendkatalog ganz nach dem Geschmack des 19. Jahrhunderts: Güte, Mitleid, Weisheit, Mütterlichkeit, Mitmenschlichkeit, Tierliebe, Herzenswärme. Und, das schon auch, eine Reihe von klassischen Werken des Bürgerlichen Realismus, vielleicht den Roman Das Gemeindekind, gewiss einige Novellen, die es zu Lesebuchehren gebracht haben und je nach Geschmack als richtig schön traurig oder ein wenig rührselig gelten: Er laßt die Hand küssen, Die Spitzin und, natürlich, Krambambuli.
Das Schloss im mährischen Dorf Zdislawitz/Zdislavice, in dem die Schriftstellerin 1830 zur Welt kam, befindet sich heute in schlechtem Zustand und steht zum Verkauf. Der tschechische Staat, der seit geraumer Zeit Franz Kafka für die nationale Literaturgeschichte reklamiert, hat bis dato wenig Interesse an der übrigen deutschsprachigen Literatur auf seinem heutigen Territorium. Allein die tschechisch-mährische Germanistik hat sich der berühmten Landsmännin nachdrücklich angenommen.
Vor allem von Germanistinnen aus dem angelsächsischen Raum gibt es in der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte ein verstärktes Interesse daran, im Kanon des 19. Jahrhunderts nach bedeutenden Autorinnen zu suchen. Gefunden hat man neben der Droste im Grunde nur »die Ebner«. Andererseits hat sich das Muster einer kritischen Rezeption verfestigt, die der einst Gefeierten einen amodernen Hang zur Harmonisierung und ein konservatives Weltbild unterstellt, Ebner-Eschenbachs Image ist heute nicht nur das einer immer schon alten, sondern das einer altmodischen Frau. Was vor gut hundert Jahren Gegenstand der Verehrung war, ist zum Rezeptionshindernis geworden: Der »gute Mensch von Zdißlawitz«3 (Gertrud Fussenegger) wirkt abschreckend in seiner Biederkeit.
Warum also Ebner-Eschenbach? Was könnte an der Biographie einer Frau interessant sein, die in privilegierten Verhältnissen aufwuchs und zeitlebens verblieb, eine lange, offenkundig harmonische, kinderlose Ehe führte, berühmt und geehrt wurde und nach Erreichung eines biblischen Alters verschied? Weil das Bild der Literaturgeschichte sich von der Persönlichkeit der Dichterin und vor allem von deren Texten gelöst hat, weil es höchste Zeit ist, die »andere« Ebner-Eschenbach zu entdecken.
Auf diese Frage sei aber auch eine persönliche Antwort versucht. Krambambuli gehörte zu meinen frühesten Leseereignissen. Ich hatte die Ausgabe auf dem Dachboden meiner Großeltern gefunden und fieberte mit der armen, zwischen zwei Herren zerrissenen Hundeseele mit, aber auch mit dem in seiner Gekränktheit wie vernagelten Revierjäger Hopp. Als der Konflikt seinen Höhepunkt erreicht hatte, brach die Geschichte ab: Die letzten Seiten, ich wusste nicht, wie viele, fehlten in meinem Buch, eine bittere Enttäuschung zunächst. Weil ich aber ahnte, dass es kein gutes Ende nehmen würde mit dem von seinem rechtmäßigen Besitzer verstoßenen Krambambuli, mied ich jede Gelegenheit, die Erzählung zu Ende zu lesen. So dachte ich mir mein eigenes, versöhnliches Ende aus: Kinder sind ja selten Anhänger einer kompromisslosen Dramaturgie.
Jahre später erst habe ich gewagt, die Lektüre des richtigen Schlusses nachzuholen, und musste feststellen: Krambambuli funktioniert in jedem Fall, als offenes Fragment oder mit bitterem Ende: Tränen waren da auch bei mir unvermeidbar. Die Erzählung ist mir in lebhafter Erinnerung als ein Text, der zu rühren, aufzuwühlen und zu erschüttern vermag, der eine fremde Kreatur, quasi ein anderes Tier, dem eigenen Empfinden ganz nahe rückt. Mit dieser existentiellen Qualität steht die Novelle beispielhaft für eine Literatur des echten Pathos, eine Literatur, die ihre Leser nicht kalt lässt und ihre affektive und damit kathartische Wirkung auch nach hundert Jahren noch entfaltet. Ich habe die Geschichte später noch mehrmals gelesen, bin ihr auch mit dem philologischen Besteck zu Leibe gerückt: Sie hält das aus und erweist sich als ebenso vielschichtig wie kompakt komponiert. Meine Liebe zu Ebner-Eschenbach verdankt sich aber nicht der Entdeckung des Raffinements, sondern dem unmittelbaren Eindruck. Mit Sentimentalität oder Kitsch hat dieser nichts zu tun, denn die Realität wird von der Autorin nicht zum schöneren Bild zurechtgebogen und -gelogen. Nichts wird wieder gut: Der Wilderer ist tot, der Hund ist tot, der Jäger trauert um ihn.
Der dringlichste Grund, sich mit der Biographie einer Schriftstellerin zu befassen, liegt für mich immer in der Bedeutung ihres Werkes: das der Marie von Ebner-Eschenbach hält der strengsten Prüfung stand. Es zeichnet kein geschöntes, sondern ein realistisches Bild der Gesellschaft. Wer sich darauf einlässt, betritt keine muffige Stube in altdeutscher Eiche, sondern einen Raum von klassischer Modernität: Ebner-Eschenbachs Werk enthält »die erstaunlichsten Identifikationen mit dem Dunklen und Abgründigen«, es ist »nicht nur von leidenschaftlichen Gefühlstönen, es ist auch mit beißenden Ironien durchsetzt« (Gertrud Fussenegger).4 Und es vermag über den Abgrund der verstrichenen Zeit hinweg Leserinnen und Leser zu bewegen. Dies war auch der Grund für Ulrike Tanzer, Evelyne Polt-Heinzl und mich, die wichtigsten und aufregendsten Texte Ebner-Eschenbachs in einer neuen vierbändigen Leseausgabe dem Publikum von heute wieder zugänglich zu machen.
Abgesehen von seiner ästhetischen Qualität, erzählt ihr Werk auch die Geschichte ihrer Epoche als einer Zeit dramatischer Veränderungen. Marie von Ebner-Eschenbach hatte dieselben Lebensdaten wie Kaiser Franz Joseph: 1830 bis 1916. Wie keine andere literarische Stimme des Landes verkörpert sie das Franzisco-josephinische Zeitalter. Sie erlebte als junge Frau die Revolution von 1848 und die neoabsolutistische Gegenbewegung; sie erlebte den Krieg gegen Preußen, die kollektive Schmach von Königgrätz und die Reform der Donaumonarchie im Zuge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs; die Schleifung der Wiener Basteien und den Ringstraßenbauboom; die Blüte des Liberalismus und den Börsenkrach; den immer vehementer werdenden Streit der Nationalitäten, die antisemitische Stimmungsmache im Wien des Bürgermeisters Lueger; und zuletzt noch den Ersten Weltkrieg. Erspart blieb ihr der Zusammenbruch der Monarchie, den sie freilich vorausahnte.
Marie Baronin von Ebner-Eschenbach, geborene Baronesse Dubsky (ihr Vater wurde später in den Grafenstand erhoben), war eine Zerrissene zwischen den Epochen, den politischen und den literarischen Strömungen: Sie sympathisierte mit der bürgerlichen Revolution und war erschrocken über ihre Brutalität, sie wünschte sich konstitutionelle Reformen und hielt an der Monarchie fest, sie kritisierte den Adel scharf und glaubte an seine noble Bestimmung. Sie schrieb sozialkritische Texte und stand bei den Führern der Sozialdemokratie in hohem Ansehen, doch mit dem Sozialismus wollte sie nichts zu tun haben. Sie war nicht fromm, aber religiös und dachte antiklerikal. Sie unterstützte die Kämpferinnen für die Frauenemanzipation, doch sie bekannte sich nicht öffentlich zu ihnen. Sie nahm in vielem Rücksicht auf ihre Familie, die von einem weiblichen Mitglied Zurückhaltung in politischen Fragen erwartete, aber sie trat ohne Zögern dem von Bertha von Suttner ins Leben gerufenen »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« bei. Sie wollte der weibliche Shakespeare des 19. Jahrhunderts werden und reüssierte als Erzählerin. Sie, die Aristokratin, galt und gilt als die Hauptvertreterin des Bürgerlichen Realismus und wagte sich doch in so mancher Schilderung von Elend und Ungerechtigkeit auf naturalistisches Terrain.
Mit der Kritik hatte Ebner-Eschenbach lange Zeit schlechte Erfahrungen gemacht, den Registrierzwang der Germanistik verachtete sie. In ihrer Parabel Die Ausgestoßene mokiert die Dichterin sich über das »Taxierungsbureau« der...