Vorbemerkungen des Autors
Es lebe, wer sich tapfer hält!
Faust, Der Tragödie erster Teil, Zueignung
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Dem aufmerksamen Beobachter der gegenwärtigen internationalen Brauszene können zwei inzwischen dominante Globalisierungsströmungen kaum verborgen bleiben: Die eine Entwicklung ist der fast unaufhaltsame Sog der gigantischen Konsolidierung der weltweiten Brauriesen. Die klarste Manifestation dieses Trends war die Übernahme von InterBrew durch AmBev im Jahre 2004 gefolgt von der Übernahme von Anheuser-Busch durch die aus InterBrew und AmBev entstandene InBev vier Jahre später. Die heutigen Großbrauereien beherrschen nun den Löwenanteil fast aller nationaler Märkte der Welt. Für diese brauen sie fast ausschließlich Ströme von Einheitsbieren des Typs „internationales Pilsner“ bzw. „internationales Lager“ – oft mit viel Malzersatz aus Mais und Reis sowie mit „down-stream“ Hopfenprodukten.
Der zweite Trend läuft parallel zur Konsolidierung und ist die zunehmende Internationalisierung der hoch differenzierten Biersortimente der kleineren, oft mittelständischen Brauereien. In diesem Welt-„Craft“-Biersegment, welches in manchen Ländern bzw. Regionen fast 20 % des Gesamtbiermarktes ausmacht, blüht die Biervielfalt wie vielleicht noch nie in der Geschichte des Bierbrauens. Zum Beispiel ist es heutzutage genauso wahrscheinlich, dass ein kanadischer Craft Brewer ein deutsches Altbier oder ein belgisches Witbier braut, wie ein norwegischer Craft Brewer ein amerikanisches Pre-Prohibition Lager, ein englisches India Pale Ale (IPA) oder ein französisches Bière de garde.
Auch ist es inzwischen klar, dass diese beiden Internationalisierungswellen – die Konsolidierung der Großen und die Sortimentsdifferenzierung der Kleinen – selbst vor der deutschen Brauindustrie mit ihrer langen, internen Reinheitsgebotstradition und der überwiegend mittelständischen Branchenstruktur nicht Halt machen werden. Die Riesen haben schon seit vielen Jahren deutsche Brauereien akquiriert, und viele deutsche mittelständische Brauereien, Gasthausbrauereien und Braumanufakturen, wie auch viele Hobbybrauer fangen nun langsam an, einige bisher in Deutschland kaum bekannte oder gar verpönte Biersorten wie irische Stouts, Scotch Ales, belgische Abteienbiere oder amerikanische „imperial“ IPAs mit interessanten Hopfensorten zu brauen. Sicher ist nur, dass die deutsche Brauindustrie, besonders seit der Jahrtausendwende, immer mehr nach Strategien sucht, um den Verlust an Marktanteilen an andere Getränke wie Wein und Spirituosen wie auch den Margenschwund aufgrund der Sortendominanz des Pils, welche den Brauriesen eindeutige Effizienzvorteile einräumt, rückgängig zu machen. In vieler Hinsicht bedeutet das, dass man auch einmal über den eigenen Tellerrand hinweg schauen muss, nicht nur über die Landesgrenzen hinaus, sondern auch in die eigene Vergangenheit, denn es ist vielleicht kein Zufall, dass die größten Wachstumsraten in den gegenwärtigen – wie auch in den vergangenen – Bierkulturen dort zu beobachten sind, wo es gelingt, Bier mit kreativen Innovationen für den Verbraucher interessant zu machen und zu halten. So kann die heutige, „wilde“ amerikanische Craft-Beer-Szene seit der Jahrtausendwende jährliche Wachstumsraten von oft mehr als 10 % in einem Gesamtmarkt verbuchen, der schon seit langem stagniert oder sogar leicht rückläufig ist!
Es passt zu dieser Logik, dass die deutsche Brauindustrie ihre größte Blütezeit im 19. Jahrhundert erfuhr, als sie – neben der britischen Brauindustrie – die bedeutendste internationale Innovationsküche für Biersorten wie auch für Brautechnologien und Braustudiengänge war. In jenem Jahrhundert, der Belle Époque des deutschen Bieres, wurden im deutschen oder deutsch-beeinflussten Bierkulturraum Biersorten wie Altbier, Bock, Doppelbock, Eisbock, Dortmunder Export, Helles und Pils für die Moderne kodifiziert. Außerdem gab es damals noch starke, oft regionale Biersorten wie Berliner Weiße, Dampfbier, Kellerbier, Leipziger Gose, Lichtenhainer Bier, Rauchbier, Schwarzbier und Weißbier. Die vielleicht letzte deutsche Biersorteninnovation war das Kölsch, welches sich nach dem Ersten Weltkrieg aus dem lokalen Wiess entwickelte und sich schließlich im Jahre 1985 innerhalb der Kölsch-Konvention als regionale Biersorte fest etablierte.
Selbst in der deutschen Brauvergangenheit gab es viele einst bedeutende Biersorten, die heutzutage vollkommen in Vergessenheit geraten sind. Das ist der Grund, weshalb dieses Buch auch einige dieser alten Rezepturen zur Anwendung in modernen Sudhäusern mit modernen Zutaten wiederbelebt. Wer kennt denn heute noch ein Broyhan Bier, ein Keutebier, ein Lichtenhainer oder ein Grätzer, geschweige denn die alten Benediktinerbiere aus der Zeit um die erste Jahrtausendwende wie das Cervisa, das Celia, oder das Conventus? Auch so ehrenhafte deutsche Sorten wie Haferbiere, Roggenbiere und Dinkelbiere sind heute selten geworden. Warum? Liegt es am Reinheitsgebot? [Zur Thematik der Biervielfalt innerhalb des heutigen Reinheitsgebots in der Fassung des „vorläufigen Biergesetzes von 1993“ (Stand 2014) siehe das Kapitel Das Reinheitsgebot contra internationale und historische Biere in diesem Buch.]
Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Gesamtentwicklung in Deutschland fast unaufhaltsam in Richtung Pils oder pilsähnliche, untergärige Biere, deren Unterschiede – abgesehen vom Preis – ein Normalverbraucher kaum nachvollziehen kann. Deutschland ist nicht das einzige Land, das von Bierlangeweile heimgesucht wurde, nur in Deutschland hielt sich diese Langeweile auf einem verhältnismäßig hohen Qualitätsniveau. Weltweit brachten anspruchslose Einheitsbiere die Revolutionäre auf die Bühne – zunächst in den USA, aber inzwischen auch, vielleicht überraschend, in Ländern wie Norwegen, Schweden, Italien und Frankreich. Diese Craft-Beer-Szene hat eines verstanden: Wenn man einen fairen Preis sowie wirtschaftlich vertretbare Margen erzielen will, muss man sein Produkt wieder interessant machen. Besonders in Nordamerika hat sich die Craft-Brew-Bewegung mit diesem Ansatz als sehr dynamisch und robust erwiesen und die internationale Führungsrolle in Bezug auf Biervielfalt, Kreativität, Sorteninnovation und mittelständische Brauunternehmensrentabilität übernommen. Die Zukunft gehört damit heute unbestritten den „Jungen Türken“ der Neuen Welt.
Im modernen Konkurrenzkampf zwischen den Kleinen und den Großen hinkt die deutsche Brauindustrie im Vergleich zu vielen anderen Ländern nach. Während die Brauriesen aufgrund von Skaleneffekten trotz minimaler Margen pro Einheit immer größer werden, haben die kleinen und mittleren Brauunternehmen mit ihren relativ höheren Betriebskosten im Einheitsbiermarkt kaum noch wirtschaftliche Chancen, besonders, wenn sie praktisch das gleiche Sortiment von etwa einem halben Dutzend Biersorten wie die Großen anbieten und sich daher aus Verbrauchersicht kaum von diesen unterscheiden. Denn selbst die Großen bringen für die meisten Verbraucher eine akzeptable Qualität bei einem vertretbaren Preis-Leistungs-Verhältnis. Damit bleibt den Kleinen vielleicht nur noch die Biervielfalt bei hoher Qualität als Garant für die zukünftige Rentabilität, besonders, weil ein Massenausstoßkonzern auf dem Gebiet der Vielfalt einfach nicht konkurrieren kann. Für die deutschen Brauer bedeutet das ganz einfach, sich neu zu orientieren und zu überdenken, was machbar ist. Die Herausforderung für das Traditionsbierland Deutschland heißt einfach, den Anschluss an globale Entwicklungen zurückzugewinnen und sich autonom wieder neu zu profilieren. Das wiederum heißt, dem Verbraucher echte neue Geschmackserlebnisse anzubieten und schmackhaft zu machen, damit er auch bereit ist, dafür wieder einen extra Cent auf den Tisch zu legen.
Fragt man deutsche Brauer, was sie von der nordamerikanischen Bierrevolution halten, so hört man oft den Einwand: „Ich kann doch kein Stout, Porter oder extremes IPA brauen, denn so etwas trinkt doch hier keiner.“ Redet man hingegen mit deutschen Biertrinkern über ausländische Biersorten, so hört man oft: „Ich habe keine Ahnung, von welchem Bier du redest, denn so etwas braut ja hier keiner.“ Genauso war es auch in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in Nordamerika, als die Einheitsbierproduzenten noch fast 100 % des Marktes unter sich aufteilen konnten. Dort waren es die Brauer und nicht die Verbraucher, die den circulus vitiosus durchbrachen und Biere herstellten, von denen sie wussten, dass „die keiner trinkt“. Der Anfang der Craft-Beer-Bewegung war damals schwer und viele Starter-Unternehmen mussten den Bankrott erklären. Auch an Spöttern mangelte es nicht. Aber mit Ausdauer, Guerilla-Marketing, Sortimentsvielfalt, und auch Qualitätsverbesserungen hat sich das Craft-Segment inzwischen zu einem nicht mehr wegzudenkenden...