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Wissenschaftliche Studien – oder:
Eine kurze Interpretationshilfe im Dschungel der Daten
ES GIBT VERSCHIEDENE ARTEN von Studien, die man unterscheiden lernen muss, denn dies ist die Grundlage für eine informierte Entscheidung. Die Fehlinterpretation eines bestimmten Studientyps, nämlich der Beobachtungsstudie, ist die Hauptursache der Verwirrung und der Fehlaussagen zum Thema Lebensstil.
Die meisten Studien sind Beobachtungsstudien, dazu zählen auch die Querschnittstudien. Sie verfolgen die untersuchten Menschen nicht über einen bestimmten Zeitraum, sondern erheben die Daten nur zum Zeitpunkt der Beobachtung und treffen dann Aussagen wie: „Diejenigen, die sich wohlfühlen, treiben mehr Sport als diejenigen, die mit ihrem Leben unzufrieden sind.“ Querschnittstudien messen und schauen, welche mathematischen Bezüge sich zwischen bestimmten Lebensstil-Formen und Messgrößen wie Sport und Zufriedenheit errechnen lassen. Aber sie können nie klären– egal wie mathematisch präzise sie rechnen –, ob diejenigen, die glücklich sind, nur wegen des Sports glücklich sind, oder ob es eine nicht eingerechnete Einflussgröße gibt, die diesen Effekt erklärt. Diese Form von Studien liefert daher gute Hypothesen für zukünftige prospektive Beobachtungsstudien. Das ist wichtig, aber leider überbewertet, weil es keine Richtschnur für therapeutisches Handeln, sondern nur Anstoß zur weiteren Forschung mittels einer Interventionsstudie sein kann.
Die nächste Form von Studien, die hier besprochen werden soll, ist die prospektive, also in die Zukunft angelegte, den Patienten über eine bestimmte Zeit beobachtende Studie. Sie kann beispielsweise untersuchen, ob sich Menschen mit unterschiedlichem Körpergewicht in den nächsten 20 Jahren auch im Auftreten von Todesfällen unterscheiden. Aufgrund ihrer längeren Dauer ist sie meist schon etwas belastbarer als eine Querschnittstudie und liefert gute Hypothesen. Aber da solche Hypothesen bildenden prospektiven Beobachtungsstudien nur einen mathematischen Bezug über die Zeit aufzeigen, also eine Korrelation, aber keine Ursache-Wirkungs-Beziehung, berechtigen sie allein nicht zum therapeutischen Eingreifen. Sie berechtigen nur zur Planung einer Interventionsstudie.
Darauf basierend können dann die für die Therapie relevanten Interventionsstudien geplant werden. Da eine Interventionsstudie – beispielsweise mediterrane Kost bei Hochrisikopatienten – ein Eingriff am Menschen ist, darf sie nur durchgeführt werden, wenn zuvor eine Hypothesen generierende Beobachtungsstudie es denkbar gemacht hat, dass die Intervention den therapierten Menschen etwas nutzen könnte. Den therapeutischen Eingriff untersucht die prospektive, doppelblinde, randomisierte und Placebo-kontrollierte Interventionsstudie. Etwas viele Fremdwörter? Hier die Erklärung:
„Prospektiv“ bedeutet: Ein Patient wird in die Studie aufgenommen und über den gesamten Studienzeitraum wiederholt untersucht. Eine solche Studie dauert etliche Jahre und ergibt ganz andere Datenqualitäten als Querschnittstudien, die Patienten nur zu einem bestimmten Zeitpunkt analysieren und dann zu errechnen versuchen, welche Parameter mit der Erkrankung korrelieren.
„Randomisiert“ bedeutet: Es gibt eine zufällig gebildete Kontrollgruppe und eine genauso zufällige, zum Ausgangszeitpunkt der Kontrollgruppe exakt vergleichbare Interventionsgruppe.
„Doppelblind“ bedeutet: Weder der Arzt noch der Patient weiß, in welchen Arm der Studie der Proband eingeteilt ist – in die Gruppe derer, die die echte Therapie erhalten, oder in die Kontrollgruppe derer, die nur Placebo oder konventionelle Therapie erhalten.
„Placebo-kontrolliert“ bedeutet, dass weder Arzt noch Patient erkennen können, ob der Patient z. B. ein richtiges Vitamin erhält, also den zu untersuchenden Wirkstoff, oder das Placebo, also eine Tablette, die genauso aussieht, aber nicht die zu untersuchende Wirksubstanz enthält.
Die Intervention versucht also genau das zu imitieren, was zwischen Arzt und Patient passiert: Der Arzt stellt eine Diagnose und bietet dem Patienten eine Therapie an, er interveniert. Jede Therapie, jeder „gute Rat“, ist eine Intervention. Daher kann die Wirksamkeit einer Therapie nur in Interventionsstudien untersucht werden, nur Interventionsstudien erlauben eine Aussage, ob eine Diät vorteilhaft ist oder nicht. Nach der vorher festgelegten Dauer der Intervention wird dann untersucht, welche Unterschiede es zwischen den beiden Gruppen gibt – der Kontrollgruppe einerseits und der Gruppe, in der die neue Therapie erprobt wird, andererseits.
Die nächsten Seiten sollen zumindest einen groben Eindruck geben, was diese Studientypen bedeuten, wie ihre Aussagen interpretiert gehören und inwieweit sie berechtigen, einer bestimmten Person, die um Rat fragt, eine Empfehlung zu geben. Vorweg: Da so viele Parameter das Leben eines Menschen bestimmen, gibt es nie eine perfekte Studie, die genau das abbildet, was bei einem bestimmten Menschen das Problem ist. Aber so viel sei schon gesagt: Da jede Therapie – und sei es der Rat, einen bestimmten Lebensstil zu wählen – eine Intervention, ein therapeutischer Eingriff ist, ist vor jeder Therapie zu fragen, ob eine Interventionsstudie vorliegt. Also: Vorsicht bei Therapeuten, die behaupten, eine solche Studie könne man bei der von ihnen vorgeschlagenen Therapieform nicht machen!
Diese Interpretationshilfe ist notwendig, denn ein Ziel des Buches ist es ja, Ihnen zu vermitteln, wo Grenzen naturwissenschaftlich-medizinischer Forschung existieren. Und Wissenschaft zu Selbstbegrenzung und Zurückhaltung aufzufordern. Denn nicht alles, was wissenschaftlich korrekt ist, muss als neue Erkenntnis gleich wie ein Regen über alle Menschen ausgegossen werden – so verlockend es in der medialen Gesellschaft auch sein mag, aus kleinen Studienergebnissen sofort große Schlagzeilen zu machen. So verlockend es sein mag, Hinweise zu haben, was möglicherweise helfen könnte, so unseriös ist es, diese Hinweise als sichere Therapie zu verkaufen. Das gilt insbesondere für Beobachtungsstudien, aber auch für doppelblind angelegte, prospektiv randomisierte, Placebo-kontrollierte Interventionsstudien, denn auch sie müssen interpretiert und richtig gelesen werden.
Beispiel: Wenn eine Änderung des Gesundheitsverhaltens beim Einzelnen nur 30 Tage eines sonst 80-jährigen Lebens ausmacht, ist diese Lebensverlängerung für den Einzelnen nur marginal. Sie kann für ihn irrelevant sein, auch wenn sie statistisch nachweisbar ist. Zudem gibt es zwei Möglichkeiten:
Die eine Möglichkeit wäre, dass eine solche Intervention das Leben bei jedem Menschen um 30 Tage verlängert, dann wäre die sogenannte „number needed to treat“ – also die Zahl derjenigen, die ihr Leben ändern müssten, um 30 Tage länger zu leben – eins. Das ist der Idealfall, denn jeder profitiert und weiß, was es ihm bringt. Dann weiß jeder, dass er mit Sicherheit 30 Tage länger lebt, wenn er den Ratschlag befolgt. Dann kann der Patient, dem diese Therapie empfohlen wird, nach Aufklärung für sich selber bestimmen, ob er sie durchführen möchte oder nicht. Also: ob der Aufwand es ihm wert ist oder ob er die 30 zusätzlichen Lebenstage nicht in Anspruch nehmen möchte, weil die Änderung seines Lebensstils ihm die anderen 80 Jahre vermiest.
Der Patient kann selbst entscheiden und sagen: „Die vorgeschlagene Intervention, beispielsweise jeden Tag einen Löffel Linsen zu essen, wird bei mir das Leben um 30 Tage verlängern. Da das Essen eines Löffels Linsen mir sogar schmeckt, werde ich das machen.“
Oder er denkt sich: „Da mir Linsen gar nicht schmecken und ich danach unter schrecklichem Durchfall leide, werde ich die Linsen nicht täglich essen. Dieser Eingriff in mein Leben mit dem daraus folgenden Durchfall ist mir diese minimale Verlängerung meines Lebens, um nur 30 Tage, angesichts der erwarteten 80 Jahre nicht wert.“
Also: Eine Empfehlung kann richtig sein – für den einen jedoch mit ganz anderer Auswirkung auf sein Leben, da ihm Linsen schmecken, als für den anderen, dem Linsen nicht schmecken und bei dem sie Durchfall erzeugen. Trotz gleicher Auswirkung auf die Lebensdauer werden die beiden Patienten unterschiedlich entscheiden.
An dieser Stelle muss ich Ihnen gleich den Zahn der Hoffnung ziehen, denn solch eine niedrige „number needed to treat“ wie 1, eine solche Effizienz einer Therapie, gibt es beim Thema Lebensstil nicht. Beim Thema Lebensstil beträgt die Anzahl der Menschen, die behandelt werden müssen, meist mehrere Hundert, wenn nicht gar viele Tausend, und der Zeitraum geht über mehrere Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte.
Um bei dem oben gewählten Beispiel zu bleiben: Bei der Fantasiestudie, in der Linsen essen das Leben um 30 Tage verlängert, kann durchaus etwas ganz anderes herauskommen, sobald die „number needed to treat“ größer als 1 ist:
Es stimmt zwar, dass das Leben im Durchschnitt durch Linsen verlängert wird. Aber bei einigen wird es um 20 Jahre verlängert,...