BRIEF 1
Die persönliche Front
Lieber Walker,
Du hast mir erzählt, dass Du vergangene Woche Dein Haus durchsucht hast. Du bist um drei Uhr früh aufgestanden, hast Dir eine Pistole geschnappt, bist von Zimmer zu Zimmer gegangen. Von Schrank zu Schrank, von Spalt zu Spalt, auf der Suche nach ... Du warst Dir nicht sicher, wonach.
Natürlich war niemand im Haus.
So geht es Dir nun schon seit einiger Zeit, mehrmals im Monat. Jedes Mal wachst Du schweißgebadet auf. Es wäre einfach – sehr einfach – zu sagen, dass Du bloß Albträume hast. Es wäre noch einfacher, Dir eine Diagnose zu verpassen und Dich von einem Arzt mit Pillen vollpumpen zu lassen.
Aber Du bist mein Freund, und hier geht es nicht um irgendeine schreckliche Erinnerung aus dem Krieg. Das ist nicht wirklich das Problem, und das weißt auch Du.
Die nächtlichen Probleme haben sicher ein wenig mit der Vergangenheit zu tun, aber sehr viel mehr haben sie mit dem zu tun, was Du aus der Gegenwart machst.
Du bist jetzt wieder zu Hause, und zum ersten Mal in Deinem Leben weißt Du nicht, was Dein Ziel ist. Du hast es mit dem Betongeschäft versucht. Eine Zeit lang ging es gut, dann ging es den Bach runter.
Früher warst Du ein Navy SEAL. Du warst einer der besten Elitesoldaten der Welt. Wenn Du Dich Tag für Tag in der Frühe aus dem Bett gewälzt hast, wusstest Du, dass Du ein Ziel hattest: eine sinnvolle Aufgabe inmitten eines Teams. Du konntest mit erhobenem Kopf durchs Leben schreiten. Nun hat man eine Störung diagnostiziert. Du hast keine Arbeit. Die einzigen Freunde, die Du hast, sind von der Sorte Marinesoldat, der davon spricht, dass er »die Zimmerdecke mit seinem Hirn« ausmalen will. Deine Wochenenden verbringst Du mit einer Kühlbox voll Bier. Vor Deiner Verhaftung kamst Du nicht auf die Idee, mich anzurufen, und nun hast Du Dich darauf einzustellen, dass Dich Deine Kinder im Gefängnis besuchen müssen.
Was also tun?
Als Navy SEAL war für Dich die »Front« der Ort, an dem Du auf den Feind trafst.
Die Front war der Ort, an dem Schlachten ausgetragen und Schicksale besiegelt wurden. Die Front war ein Ort der Angst, des Kampfes und des Leidens. Aber es war auch der Ort, an dem Siege errungen wurden, an dem Lebensfreundschaften durch gemeinsam gemeisterte Schwierigkeiten geschmiedet wurden. Es war ein Ort, an dem wir wussten, was unser Ziel war.
Aber »Front« ist nicht nur ein militärischer Ausdruck. Auch in Deinem jetzigen Leben stehst Du an einer Front. In Wahrheit gibt es für alle einen Ort, an dem sie sich mit Angst auseinanderzusetzen haben, an dem sie kämpfen, leiden und Schwierigkeiten begegnen. Wir alle haben Schlachten zu schlagen.
Mit diesen Schlachten leben wir: An unseren Lebensfronten werden wir weise, schaffen wir Freude, schweißen wir Freundschaften, entdecken wir das Glück, finden wir Liebe und sinnvolle Arbeit. Wenn Du einen Sieg suchst, der Sinn macht, musst Du darum kämpfen.
Wir haben viele Härten gemeinsam gemeistert. Wir hatten auch viel Spaß zusammen. Dieses Mal wird es genauso sein. Du musst viel mehr tun, als bloß einen Brief zu lesen: Du musst zwei Kinder (und ein drittes Kind auf dem Weg) aufziehen, Du musst Deinem Leben ein Ziel geben, Deiner Familie helfen. Du hast ein hartes, anstrengendes Stück Arbeit vor Dir. Ich habe die Hoffnung, dass es Dir an Deiner neuen Front helfen wird, wenn ich die folgenden Gedanken zu Papier bringe.
Bevor wir beginnen, will ich Dir sagen, dass Du einer der besten Menschen bist, denen ich jemals begegnet bin. Das sage ich Dir nicht, um Dir zu schmeicheln oder um Dich aufzubauen, weil es spät in der Nacht ist und weil es Dir nicht gut geht. Ich sage Dir das, weil ich Dich als Freund liebe, und wenn es jemanden auf dieser Welt gibt, der ein besseres Herz hat und der eine tiefere Verbundenheit zu seinen Freunden und seiner Familie hat als Du, dann bin ich ihm noch nicht begegnet. Du hast mich inspiriert, als wir noch in der Ausbildung waren, und nun hast Du mich motiviert, diese Gedanken niederzuschreiben. Deine Frau kann sich glücklich schätzen, Dich zum Ehemann zu haben, Deine Kinder haben Glück, Dich zum Vater zu haben, und ich habe Glück, Dich zum Freund zu haben.
Ich bin enttäuscht, weil Dein Leben nicht so erfüllt ist, wie es sein könnte. Ich bin enttäuscht, weil Deine reichen Talente – Deine harte Energie, Deine gewitzte, robuste Intelligenz, Dein großzügiges Herz, Deine visionäre Kraft, Dein Glaube an die Kraft des anderen – so lange brachlagen. Die Welt ist ärmer, weil Du ihr nicht voll und ganz zur Verfügung stehst.
Die Welt braucht, was Du ihr zu bieten hast. Aber weil Du mit den Dämonen kämpfst und aufgewühlt, aus dem Gleichgewicht geworfen und von Deinen Schmerzen gepeinigt wirst – von den Knüppeln, die Du Dir selbst vor die Beine wirfst –, haben wir alle etwas verloren. Und das, mein Freund, ist Blödsinn. Du bist in der Lage, mehr aus Deinem Leben zu machen.
Ich hoffe, dass Dir dieser Briefwechsel dabei helfen wird, den Schmerz, den Du durchmachst, in die Stärke, die Weisheit und die Freude zu verwandeln, die Du Dir verdient hast.
All das ist eine Frage der Resilienz.
Resilienz ist die Tugend, die Menschen dazu befähigt, Mühsal zu überwinden und besser zu werden. Niemand entrinnt dem Schmerz, der Angst und dem Leid. Doch aus Schmerz kann Weisheit entstehen, Angst wird in Mut umgewandelt, und aus Leid entsteht Stärke – wenn wir über die Tugend der Resilienz verfügen.
Die Menschen wissen das seit Tausenden von Jahren. Aber heute wird diese alte Weisheit nicht mehr beachtet.
Als ich mit Veteranen arbeitete, die Verletzungen zu überwinden und Verluste zu verkraften hatten – den Verlust von Gliedern, den Verlust von Kameraden, den Verlust des Ziels –, hörte ich immer wieder folgende Erkenntnis: Die Momente der Finsternis führen im Lauf der Zeit oft zu den größten Fortschritten.
Es ist einfach für Dich, Zivilisten als Menschen zu verurteilen, die »nicht verstehen«, was wir durchzumachen hatten. Doch das Schlachtfeld ist nicht der einzige Ort, an dem Menschen leiden. Not gibt es an unzähligen Orten. Viele Menschen, Deine Nachbarn inklusive, haben mehr gelitten als jeder Soldat. Und zwar ohne dass sie wie Du ein militärisches Training durchgemacht haben oder von ihrer Einheit umgeben gewesen waren, ohne Krankenhaus, in dem man sich um sie kümmert, und manchmal auch ohne Gemeinschaft, die sie unterstützt.
Wenn diese Menschen über ihr Leiden nachdenken, erleben sie oft eine ähnliche Erkenntnis wie die Veteranen: dass der Kampf ihnen geholfen hat, tief im Inneren Kraftreserven herauszubilden.
Wachstum passiert nicht zwangsläufig auf diese Art und Weise. Aber in vielen Fällen ist es tatsächlich so, dass wir wachsen, wenn wir uns auf den Schmerz einlassen. Freiwillig oder unfreiwillig entscheiden wir uns dazu, die Grenzen unserer bisherigen Erfahrungen zu überschreiten, um etwas Neues und Schwieriges zu tun.
Natürlich führt Angst nicht automatisch zu Mut. Eine Verletzung muss nicht zu tieferen Einsichten führen. Not macht uns nicht automatisch besser.
Schmerz ist imstande, uns zu brechen, er kann uns aber auch weiser machen. Leid kann uns zerstören, aber auch stärker machen. Angst kann uns überwältigen, aber auch mutiger machen.
Der Unterschied liegt in der Resilienz.
Menschen, die anderen Hilfe versprechen, sagen, dass sie »jüngst entschlüsselte Geheimnisse« auf der Grundlage revolutionärer Erkenntnisse oder »neuester wissenschaftlicher Errungenschaften« vermitteln. Was zutrifft, ist, dass die moderne Wissenschaft jahrhundertealte Einsichten zum Thema »Resilienz« bestätigt hat. Versprechungen kann ich jedoch nicht machen. Ich kann Dir nur versprechen, dass meine Briefe ganz und gar nicht perfekt sind.
Was ich mit Dir teilen werde, sind Einsichten von Menschen, die in einer ganz anderen Zeit lebten. Ich werde auch ein paar Geschichten von meinen eigenen Kämpfen erzählen und von großen Lehrern und Vorbildern, denen ich auf meinem Weg begegnet bin. Die Einsichten sind sehr oft alt, denn die Tugend der Resilienz ist so alt wie die menschliche Existenz. Von den Anfängen der Geschichtsschreibung an erkannten die Menschen, dass sie wesentlich zur menschlichen Entwicklung beiträgt. Seit mindestens dreitausend Jahren denken Menschen darüber nach, wie wir widerstandsfähig werden können – wir wir uns selbst, unsere Kinder, unsere Familien, unsere Einheiten und unsere Gemeinschaften stärker und weiser machen können, indem wir Schmerz und Leid überwinden.
Vieles davon wird Dir selbstverständlich erscheinen. Aber das liegt in der Natur des Selbstverständlichen: Es besteht aus Ideen, die der Zeit standhielten. Diese Ideen sind uns allen zugänglich, sie werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben.
Was für uns im SEAL-Team funktioniert hat, was für Sportler bei olympischen Spielen funktioniert, was für die Griechen vor zweieinhalb tausend Jahre funktionierte – vieles von all dem bündelt sich in den gleichen Fragen, die sich die Menschheit immer wieder stellt: Wie können wir uns konzentrieren, unseren Stress kontrollieren und unter Druck Höchstleistungen erbringen? Wie können wir Angst überwinden und mutig werden? Wie überwinden wir eine Niederlage und Hindernisse, die sich uns in den Weg stellen? Wie können wir uns widrigen Umständen anpassen?
Das sind universelle Fragen. Jeder von uns muss sie für sich beantworten. Wir beantworten sie mit Weisheit, die auf Praxis aufbaut, und diese Weisheit ist stets um uns...