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Ungezähmt - Neun Frauen, Neun Lebenswege

Biografische Erzählungen

AutorAntje Sommer
VerlagVerlag DeBehr
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl378 Seiten
ISBN9783957532657
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Ungezähmt - neun starke Frauen erzählen aus ihrem Leben. Es sind einfache Frauen und Künstlerinnen, eine Theologin und Journalistinnen, allein lebend, mit Männern, mit Frauen, mit und ohne Kinder, zwischen Anfang 30 bis Anfang 70. Sie alle haben eines gemeinsam - ihre Biografien enthalten Schicksalsschläge, die zum Teil schon in der Kindheit oder im späteren Leben stattfanden. Gewalt in jungen Jahren, das Aus der Liebe, Verlust und Trauer, Gewinn und Zuversicht - die Kraft, Tiefe und Intensität dieser wahren Erzählungen machen Mut, den eigenen Weg zu gehen und dem Ruf der Seele zu folgen.

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Leseprobe

Ich habe keine Erwartungen an andere

und versuche,

die Dinge so zu nehmen, wie sie sind

59 Jahre, Filmemacherin, Lehrerin

Meine Mutter ist Österreicherin, sie hatte in Österreich vor dem Krieg ein Lehrerinnenseminar absolviert. Im Jahre 1939 gab es in Österreich keine Stellen für Lehrerinnen, während in Deutschland viele der jungen Lehrer bereits in den Krieg geschickt waren. So kam es, dass sie in einem kleinen Ort in Bayern eine Anstellung bekam. Mit ihrem Wiener Chic fiel sie in der ländlichen Umgebung auf, aber die Bäuerinnen waren froh, dass ihre Kinder eine Lehrerin hatten und obendrein noch so eine sehr freundliche. In dieser Zeit lernte sie meinen Vater kennen. Seine Familie stammte aus Ostpreußen. Der zweite Mann seiner Mutter hatte im Altmühltal ein großes Anwesen gepachtet. Mit der Herkunft meines Vaters habe ich mich nicht allzu sehr befasst, weil er uns das Leben so schwer gemacht hat. Er kam aus einer Familie, in der viele Familienmitglieder Selbstmord begangen hatten. Das stülpte sich auch über unsere Familie. Der Familienname meines Vaters lautete ursprünglich "von", polnischer Adel. Ich habe drei ältere Geschwister, bin eine Nachzüglerin. Mein ältester Bruder ist zehn Jahre älter als ich, meine Schwester acht und mein jüngerer Bruder sechs. Nach ihm hat meine Mutter sechs Jahre lang kein Kind geboren, aber sie hatte alle zwei Jahre eine Abtreibung. Meine Mutter und auch mein Vater wollten nicht noch mehr Kinder, es waren schließlich schon drei da. Dann kam ich und obwohl ich nicht gerade geplant war, haben sie sich alle übermäßig gefreut. Sie haben mich nach einem damals populären Schlager genannt. So war ich ein willkommenes Kind, obwohl zwei vorher nicht gewünscht waren. Es waren auch dramatische Abtreibungen, so wie das damals zuging, an diesem Ort auf dem Land bei einem recht engagierten Dorfarzt.

Was war daran dramatisch?

Es floss viel Blut. Der Arzt holte meinen Vater dazu, er sollte sehen, wie schwierig es für eine Frau ist und er wollte ihm deutlich machen, er solle in Zukunft aufpassen. Eine Astrologin sagte mir vor einiger Zeit, da wäre in meiner Familie unverarbeitete Trauer um zwei Geschwister. Ich wusste erst gar nicht, was sie meint. Aber es müssen diese beiden abgetriebenen Kinder sein.

Meine Mutter hatte es auch sonst nicht einfach. Sie ging jeden Montag zu Fuß in ein höher gelegenes, kleines Dorf, um dort an einer Zwergschule mehrere Klassen gleichzeitig zu unterrichten. Die ganze Woche über war sie fort und kam erst am Wochenende nach Hause. Sie musste die drei Kinder bei ihrer Schwiegermutter zurücklassen. Das war nicht schön, weil die Schwiegermutter Frauen gehasst hat. Sie lehnte meine Mutter ab und mit ihr meine Schwester. Meine Mutter kam aus einem Elternhaus, in dem auf Bildung Wert gelegt wurde, aber die Schwiegermutter hätte für ihren Sohn gerne eine Frau gehabt, die reich ist und aus dem Adel stammt. Ihren Ärger darüber, dass meine Mutter diesen Ansprüchen nicht gerecht wurde, hat sie an ihr und an meiner Schwester ausgelassen. Sie hat das kleine Mädchen schlecht behandelt und ihr ständig Angst gemacht. Die beiden Buben, meine Brüder, hat sie vergöttert, aber meine Schwester war der Großmutter ausgeliefert. Das war sehr schlimm, und meine Mutter war immer unglücklich, wenn sie ihre Tochter zurücklassen musste.

In diesem Ort im Altmühltal bin ich geboren.

Als ich ein Jahr alt war, hat mein Vater, der Diplom-Landwirt und Agrar-Journalist war, eine Stelle in Frankfurt a. M. bekommen. Wir zogen nach Frankfurt. In den ersten Jahren hat meine Mutter nicht als Lehrerin gearbeitet, sondern hat die Familienarbeit gemacht. An diese ersten Jahre in dem Reihenhaus mit einem kleinen Garten habe ich gute Erinnerungen. Erst als ich schon in der Schule war, ging meine Mutter wieder in den Schuldienst. Mit fünf war ich einmal zur Probe im Kindergarten. Die Idee kam von meiner Schwester. Sie wollte mit meiner Mutter in die Innenstadt, und Innenstädte waren mir als Kind schon zu hektisch, also brachten sie mich für einen Tag in den Kindergarten. Aber ich mochte das dort gar nicht. Ich hatte das Gefühl, meinem "Künstlerleben" wäre im Kindergarten ein Ende gesetzt. Da mussten wir alle zusammen zur selben Zeit unsere Täschchen an Haken hängen, zur selben Zeit unsere Brote auspacken und alle möglichen Handgriffe im Gleichklang machen. Meine Familie sagte, dem Kind gefällt das dort nicht, und das war Grund genug, mich nicht mehr dort hinzuschicken. Sie haben immer darauf geachtet, was ich mag und was ich brauche, da waren sie sehr einfühlend.

Sie haben sich also schon bevor Sie in die Schule kamen als Künstlerin gefühlt?

Ganz besonders was das freie Leben einer Künstlerin betrifft. Leidenschaftlich gerne habe ich gemalt und alles Mögliche im Garten gebastelt und gebaut, manchmal habe ich sogar die Natur umgestaltet. Wir lebten ja am Stadtrand von Frankfurt und ich bin nicht gern in die Innenstadt zum Konsumieren oder gar zum Schaufensterbummel gefahren. Ich wollte lieber zu Hause bleiben und malen oder im Garten meine Sachen bauen. Ich mochte es nicht, wenn man mir zu viele Anleitungen gab, wobei ich fantasievolle Spiele mit anderen sehr geschätzt habe. Bei all dem war ich damals auch schon recht sozial.

 

Was empfinden Sie, wenn Sie an diese Zeit vor der Schule zurückdenken?

Ich empfand mich sehr verbunden mit allen Wesen. Alles war so einfach. Dass am Stadtrand in einer Reihenhaussiedlung so wenig los war und rundherum noch recht viel Natur war, hat mir gut getan und mir eine seelische Grundstabilität gegeben. Es gab nicht viele Anregungen. Die, die ich brauchte, habe ich mir von überall zusammengesucht. Dann hatte ich meine ältere Schwester, die sich ganz viel mit mir beschäftigt hat, und meine Brüder waren da. Mit den vielen Geschwistern ging es richtig gut. Auch gab es Kinder in der Siedlung und viele Indianerspiele, die ich meist selbst initiierte. Die Schwester meines Vaters, die in der DDR lebte, hatte mir das Indianerbuch „Blauvogel“ geschickt. Das hat mich sehr begeistert. Auch meine Mutter war immer da. An einem Morgen als ich noch schlief, so erinnere ich mich, musste sie zum Einkaufen. Da hat sie mir, die ich zu der Zeit noch nicht lesen konnte, auf einen Zettel gemalt: eine Wurst und ein Brötchen. Und als ich die Augen aufschlug, lag dieser Zettel neben meinem Bett. Irgendwelche Ängste, ich könnte verlassen werden, kamen da nie auf. Wenn mal keine Nachbarskinder zum Spielen da waren und auch meine Geschwister unterwegs waren, dann habe ich das auch genossen, weil dann aus mir heraus etwas entstanden ist. Viel gespielt hat meine Mutter nicht mit mir, aber sie war immer da.

Die Grundschule war ganz in Ordnung und die Lehrerinnen waren gut zu mir. Ich war ein bisschen privilegiert, weil die anderen Kinder nicht so weit waren wie ich. Meine große Schwester hatte vorher schon gern mit mir Schule gespielt. Dadurch konnte ich mehr als die anderen. Mir fiel alles leicht. Ich galt als fantasievoll. Manchmal taten mir andere Kinder leid, wenn sie nicht so mitkamen wie ich. Ich mochte sie so gern. Schon als Kind habe ich immer versucht, alle mitzuziehen.

Wer stand Ihnen von Ihren Geschwistern am nächsten?

Meine Schwester. Die war so ähnlich wie ich. Sie ist acht Jahre älter und war mir wie eine zweite Mutter. Sie ist spielerisch mit mir umgegangen und hat ihre ganzen Fähigkeiten an mir ausprobiert. Sie hat beispielsweise Anziehsachen für mich genäht und immer aufgepasst, dass ich auch alles habe. Sie hat gerne angeleitet, und das war in unserer Beziehung auch genau richtig, weil ich viel jünger war und ihre Abenteuerlust nie ganz so groß war wie meine.

Was hat Sie bei den Indianern so fasziniert?

Die Verbundenheit mit der Natur, das gesellschaftliche Zusammenleben und auch das Wertesystem, das so anders beschrieben wurde, als ich es aus meinem Umfeld kannte. Nicht bei meiner Mutter. Sie war immer ein gebender Typ. Aber um mich herum habe ich gesehen, wie gelebt wurde. Wie die Menschen alles behalten und nichts hergegeben haben, wie sie nicht nach anderen geschaut haben, wie sie hauptsächlich auf ihr eigenes Fortkommen bedacht waren, insgesamt materialistisch eingestellt. Kinder, mit denen ich spielte, hatten fast alle Angst vor den Eltern oder anderen Erwachsenen. In den verschiedenen Indianerbüchern, auch die von Karl May las ich alle, imponierten mir die Abenteuer, die Spurensuche, die Art und Weise, wie sie die Natur beobachteten, um sich dann nach ihr zu richten. Das alles spielte ich oft nach.

Was bei Blauvogel so besonders ist, ist die Tatsache, dass er als weißer Junge von Indianern verschleppt wurde. Blauvogel war Gefangener der Irokesen. Schon diese Ausgangslage hat mich in den Bann gezogen: Dass es nicht die Weißen waren, die die Indianer verfolgten (wenngleich die Gefangennahme eine Antwort auf die schrecklichen Vergehen an den Indianerstämmen war). Der gefangene Junge Blauvogel, der sich anfangs noch sehr nach seiner spröden Mutter sehnte, wurde bei den Irokesen zu Gastfreundschaft, Gemeinschaftssinn und liebevollem Umgang erzogen. Diese Werte in einer Geschichte beschrieben zu bekommen, das hat mir sehr entsprochen. Inzwischen weiß ich: Die Irokesen leben bis heute in einer matriarchalen Gesellschaft....

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