ARZNEIMITTELBOOM: SCHMERZMITTEL UND ENTZÜNDUNGSKILLER AUF PLATZ 1
Mehr Schmerzmittel denn je
Die Behandlung von Schmerzen – vor allem chronischer – stellt für die Medizin eine große Herausforderung dar. Obgleich man in den vergangenen Jahren mehr und mehr auf eine Therapie setzt, die auch verhaltenstherapeutische Ansätze beinhaltet, wird bei der Behandlung noch immer am häufigsten auf Schmerzmittel zurückgegriffen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Arzneimittel die „Hitliste“ aller Verordnungen anführen, wobei viele Medikamente, die eine schmerzstillende und entzündungshemmende Wirkung entfalten, zudem in der Apotheke frei verkäuflich sind. Die Rezeptierung von Schmerzmitteln ist im Zeitraum von 2005 bis 2015 sprunghaft – um 50 Prozent – angestiegen. Das zeigen Daten, die vom Deutschen Arzneiprüfungsinstitut (DAPI) veröffentlicht wurden. Vor allem Allgemeinmediziner greifen gerne zum Rezeptblock. Dabei gehören in erster Linie Frauen zu den Anwendern. Das mag damit zu tun haben, dass Frauen häufiger zum Arzt gehen und hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Probleme im Allgemeinen kommunikationsbereiter sind als Männer. Zudem sind sie – wie bereits erwähnt – schmerzempfindlicher und haben öfter mit Schmerzen (z. B. Migräne) zu tun. Problematisch ist hier allerdings vor allem der Aspekt, dass Schmerzmittel bei Frauen anders wirken können und von ihnen auch anders vertragen werden, da die weiblichen Wesen eine andere Körperzusammensetzung aufweisen als ihre männlichen Artgenossen. Zudem fehlen hier häufig Arzneimittelstudien mit speziellen Aussagen zur Dosierungsempfehlung, denn noch immer werden Medikamente vorrangig an Männern getestet. Auch bei älteren Menschen ist die Gabe von Schmerzmitteln besonders kritisch zu betrachten, denn sie nehmen häufig einen ganzen „Pillen-Cocktail“ ein, wobei es zu Wechselwirkungen unbekannten Ausmaßes kommen kann. Auch das mögliche Suchtpotenzial steht bei der Anwendung von starken Schmerzmitteln immer wieder in der Diskussion.
Schmerztherapie: das WHO-Stufenschema
Die Weltgesundheitsorganisation hat Schmerzmittel – nach ihrer unterschiedlich starken Wirkung – in drei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe betrifft „einfache“ Arzneimittelwirkstoffe, die bei leichten Schmerzen angewandt werden. Sie werden als „nichtsteroidale Antirheumatika“ (NSAR) bezeichnet, da sie aufgrund ihrer stark entzündungshemmenden und schmerzlindernden Wirkung in erster Linie zur Therapie des klassischen Gelenkrheumas eingesetzt wurden. Dazu gehören z. B. Paracetamol, Diclofenac, Acetylsalicylsäure und Ibuprofen. Auch die Gruppe der Coxibe (z. B. Celecoxib) werden zu dieser ersten Stufe des Schmerzbehandlungsschemas gerechnet. Sie sollen den Schmerz direkt am Ort des Entstehens bekämpfen. Mittlerweile werden diese Schmerzkiller u. a. auch bei Kopf- und Zahnschmerzen, bei Migräne, Arthrose und fieberhaften Infekten eingesetzt. Die zweite Gruppe der Schmerzmittel werden unter dem Begriff „Opioide“ zusammengefasst. Diese greifen in die Schmerzweiterleitung und -verarbeitung im Rückenmark und im Gehirn ein. Vertreter dieser Substanzklasse sind z. B. Tramadol oder Tilidin N. Sie werden etwa bei schweren Bandscheibenvorfällen, bei Nervenschmerzen oder auch bei Krebserkrankungen angewendet. Häufig werden diese Arzneimittel auch mit denen der WHO-Stufe 1 kombiniert. Die dritte Gruppe der Schmerzmittel umfasst ebenfalls Wirkstoffe, die sich vom Morphin ableiten und als „starke Opioide“ bezeichnet werden. Beispiele für diese Schmerzmittelgruppe sind u. a. das Morphin selbst oder Oxycodon, Hydromorphon oder Fentanyl. Sie unterliegen dem Betäubungsmittelgesetz und werden vor allem bei Tumorschmerzen oder anderen sehr starken Schmerzen eingesetzt.
Leichte Schmerzmittel – die Nebenwirkungsproblematik ist beachtlich
Der Preis für die Schmerzreduktion kann hoch sein: Alle Schmerzmittel – auch frei verkäufliche – können problematische Nebenwirkungen entfalten (siehe Tabelle hier). Am meisten gefürchtet sind bei der Anwendung der leichten Medikamente (WHO-Stufenschema 1) Komplikationen im Magen-Darm-Bereich. Durch diese Arzneimittel werden nämlich Enzyme (Prostaglandine) blockiert, die zwar entscheidend an der Schmerz- und Entzündungsentstehung beteiligt, aber gleichzeitig wichtig für den Schutz der Magenschleimhaut sind. Eine intensive Langzeittherapie mit NSAR führt bei 70 Prozent der Patienten zu Magenschleimhautschäden. Auch Magen- und Zwölffingerdarmgeschwüre können sich einstellen. Man schätzt, dass in Deutschland jährlich etwa 2000 Menschen an den Folgen von NSAR-bedingten Magenblutungen sterben. Vorsicht ist vor allem bei älteren Personen geboten. Das Risiko für derartige Nebenwirkungen steigt jenseits des 60. Lebensjahres um den Faktor 7(!) an. Die Weiterentwicklung dieser Schmerzmittel hat zu neuen Präparaten (Coxibe) geführt, die gezielt nur das die Entzündung verursachende Enzym blockieren, das „Magenschutzenzym“ aber nicht berühren und daher als magenverträglicher gelten.
Mögliche Nebenwirkungen von leichten Schmerzmitteln (NSAR, WHO-Stufenschema 1) |
Magen-Darm-Bereich | Magenbrennen Erbrechen Magengeschwür |
Leber | Erhöhung der Leberwerte |
Niere | Nierenfunktionsstörungen Störungen des Wasser- und Mineralstoffhaushalts |
Haut | Juckreiz Ausschlag Nesselsucht |
Nervensystem | Kopfschmerzen Schlaf- und Sehstörungen Depressionen |
Allergische Reaktionen | Asthma bronchiale Lebensbedrohlicher (anaphylaktischer) Schock |
Blut | Blutbildveränderungen, Abfall der weißen Blutkörperchen |
Problematisch ist eine Dauermedikation mit den Antischmerzbomben. Bei längerer Anwendung (mindestens 1 Jahr) kann bei vorbelasteten Personen ein Herzinfarkt oder Schlaganfall begünstigt werden. Ebenso sind die möglichen Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu beachten: Deren Therapieeffekte können durch die gleichzeitige Anwendung von NSAR verstärkt oder abgeschwächt werden (siehe folgender Kasten). Das betrifft beispielsweise die Wechselwirkung mit Blutverdünnungsmitteln (Macumar), herzwirksamen Medikamenten (z. B. Digoxin), harntreibenden Mitteln und Medikamenten gegen Bluthochdruck (Betablocker) sowie Medikamenten gegen Depressionen. Durch die Schmerzmittel kann beispielsweise die blutverdünnende Wirkung von Macumar oder der herzwirksame Effekt von Digitalis (roter Fingerhut) verstärkt werden. Diese Medikamente müssten – bei gleichzeitiger Einnahme mit NSAR – in ihrer täglichen Dosis gegebenenfalls neu angepasst werden. Falls Sie mehrere Medikamente einnehmen, sprechen Sie hierzu bitte Ihren behandelnden Arzt an.
Beispiele für Wechselwirkungen der leichten Schmerzmittel mit anderen Arzneimittelwirkstoffen |
Folgende Medikamente werden bei gleichzeitiger NSAR-Einnahme in ihrer Wirkung verstärkt: |
Blutverdünnungsmittel (Macumar) Blutzuckersenkende Mittel Herzwirksame Medikamente (Digoxin) Mittel zur Unterdrückung der überschießenden Immunreaktion |
Folgende Medikamente werden bei gleichzeitiger NSAR-Einnahme in ihrer Wirkung abgeschwächt: |
Wassertreibende Mittel (Diuretika) Blutdrucksenker (Betablocker) |
Trickkiste: Kleinere Packungsgrößen bieten keinen Schutz vor Missbrauch
Die frei verkäuflichen Schmerzmittel haben nicht nur eine Menge möglicher Nebenwirkungen, sie sind auch im Hinblick auf Missbrauch und Vergiftungen gefährlich. So wurden in den deutschen Giftzentralen beispielsweise im Jahr 2011 mehr als 4000 Paracetamol-Vergiftungsfälle registriert. Das Problem speziell bei diesem Wirkstoff ist die geringe therapeutische Breite, das bedeutet, eine relativ geringe Erhöhung der empfohlenen Tagesdosis kann bereits zu schwerwiegenden Vergiftungserscheinungen führen. Ab einer Menge von 4 Gramm/Tag (das entspricht 8 Tabletten zu je 500 mg) beginnt es bereits kritisch zu werden. In der Folge kann – auch bei zuvor gesunden Menschen – die Leber versagen. Wird Paracetamol...