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E-Book

Geschichte des Balkans

AutorEdgar Hösch
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2016
ReiheBeck'sche Reihe 2356
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406625091
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Balkanhalbinsel hat von der Antike bis zur Gegenwart eine wichtige Brückenfunktion zwischen 'Europa' und dem 'Orient' wahrgenommen und sich zu einer faszinierenden Kulturlandschaft eigener Prägung entwickelt. Edgar Höschs geraffter Überblick über die Geschichte der Balkanhalbinsel bringt dem Leser Eigenart und Besonderheiten dieser Region nahe.

Edgar Hoesch war Professor für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Universität München. Er ist Korrespondierendes Mitglied der Finnischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der Finnischen Historischen Gesellschaft.

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Leseprobe

II. Der Balkan als europäische Geschichtsregion


Eine Geschichtsschreibung, die sich ausschließlich an der modernen Staatenkarte Südosteuropas orientiert und vornehmlich als Hilfswissenschaft ethnisch-nationaler Identitätsfindung versteht, kann den Besonderheiten der südosteuropäischen Kulturlandschaft und der gemeinsamen Geschichte der Balkanvölker nicht gerecht werden. Eine angemessene Würdigung der unterschiedlichen Erscheinungsformen des politischen und gesellschaftlichen Lebens, in denen sich in vielfachen Brechungen Einheit und Vielfalt kleinräumiger multikultureller Alltagswirklichkeiten widerspiegeln, erfordert einen breiteren interdisziplinären Zugang, der sich von den nationalstaatlichen Grenzziehungen der Gegenwart nicht irritieren läßt.

Versucht man, den Balkan als eine genuin europäische Geschichtsregion eigener Prägung zu verstehen, dann fallen vier Besonderheiten in den Blick, die einen nachhaltigen Einfluß auf den Geschichtsverlauf an der südosteuropäischen Peripherie ausgeübt haben.

1. die naturlandschaftlichen Gegebenheiten

2. das Wechselspiel von internen und externen Faktoren

3. der multikulturelle Hintergrund

4. das Gegen- und Miteinander von Fremdherrschaft und Selbstbestimmung

Natur und Geschichte


Die Bewohner der Balkanhalbinsel haben durch die  Jahrhunderte die geographischen Gegebenheiten des Raumes als ein unausweichliches Schicksal erfahren. Das Relief Südosteuropas ist gekennzeichnet durch den Gegensatz zwischen einem vorwiegend gebirgigen Binnenland auf der einen Seite und den wenigen verkehrsoffeneren Landschaften entlang größerer Flüsse oder in unmittelbarer Küstennähe auf der anderen Seite. Nahezu 70 % der Gesamtfläche in der Südhälfte hat einen gebirgigen Charakter, der keine intensivere Bodennutzung erlaubte und nur eine eingeschränkte Siedlungstätigkeit zuließ. Diese ungünstigen naturräumlichen Voraussetzungen und die niedrige Bevölkerungsdichte in den oft schwer zugänglichen Bergkantonen haben die innere Kommunikation nur wenig begünstigt. Die vorzugsweise vertikale Bewegungsrichtung der Flußläufe (in nördlicher Richtung zur Sawe bzw. zur Donau die Flüsse Bosna, Drina, Morava und Isker, in südlicher Richtung zur Ägäis Vardar, Struma, Mesta und im Unterlauf die Marica) erschwerte es, ein engmaschigeres Netzwerk funktionierender Verkehrswege herzustellen und über leicht passierbare Querverbindungen interregionale Austauschbeziehungen in Gang zu halten. Als transversale Wasserstrassen boten sich neben der Donau nur im Nordwesten die Donauzuflüsse Drau und Sawe sowie im Südosten die Marica an. Den Bewohnern des nur wenige Kilometer breiten istrisch-dalmatinischen Küstenstreifens ist durch die schroff aufsteigenden Bergketten des Dinarischen Gebirges der bequeme Zugang zum Landesinneren verwehrt geblieben. Das westbalkanische Gebirgsmassiv ist ein natürlicher Sperrriegel, der sich in mehreren parallelen Zügen von den Ausläufern der Ostalpen bis zu den nordalbanischen Bergen erstreckt und im nordgriechisch-epirotischen Raum im Pindusgebirge fortsetzt. Die dalmatinische Küstenbevölkerung hatte sich daran gewöhnt, in enger Anbindung an die Adria und an die venezianische Seemacht zu leben, die sich seit der Jahrtausendwende nach dem erfolgreichen Dalmatienfeldzug von 1000/1001 in der gesamten Adriazone einen beherrschenden Einfluß sichern konnte. Die wirtschaftliche und kulturelle Ausstrahlung Venedigs hat das äußere Erscheinungsbild der küstennahen Stadtanlagen in der östlichen Adriazone nachhaltig geprägt. Die verkehrsgünstige Randlage ermöglichte es den rührigen Händlern Ragusas/Dubrovniks auch noch während der langen Türkenzeit, sich dem unmittelbaren Zugriff der Reichszentrale und des Hinterlandes weitgehend zu entziehen und eine Sonderstellung im grenzüberschreitenden Warenaustausch zu bewahren. Im balkanischen Binnenland war jahrhundertelang das Nischer Becken ein Kreuzzungspunkt strategisch und wirtschaftlich wichtiger Fernstraßen. Über die Vardar-Morava-Achse stellte es die kürzeste Verbindung zwischen der unteren Donau und der Ägäis her, im Osten ermöglichte es den bequemen Zugang zum fruchtbaren Marica-Tal, und in westlicher Richtung vermittelte es über beschwerliche Karawanenwege durch den unwegsamen Westbalkan den Übergang zur Adria und zu den Handelsplätzen Cattaro/Kotor und Ragusa/Dubrovnik. Über Nisch verlief auch der wohl am meisten frequentierte Überlandweg, der quer durch die Balkanhalbinsel die kaiserliche Residenz in Wien mit dem Sultanshof in Istanbul verband. Diese große mittelalterliche «Heeresstraße nach Konstantinopel» (Via militaris, serb. Carski drum) hatte einen nicht weniger bedeutsamen antiken Vorläufer im Süden in der berühmten Via Egnatia, einer von den Römern gebaute Verbindungsstraße zwischen dem alten und dem neuen Rom auf der Route Brindisi-Durazzo-Ohrid-Monastir (Bitola), Thessaloniki, Konstantinopel.

Die gebirgige Landesnatur der Balkanhalbinsel stellte nur in Teilbereichen in ausreichendem Maße fruchtbare Ackerflächen bereit, die für eine dauerhafte intensivere landwirtschaftliche Nutzung geeignet waren. Extreme Temperaturschwankungen in der breiten südlichen Zone des Kontinentalklimas brachten der bäuerlichen Bevölkerung zusätzliche Erschwernisse und gefährdeten im Jahreswechsel in erheblichem Maße die Sicherstellung ausreichender Ernteerträge. Den Bewohnern der höher gelegenen Regionen des Binnenlandes bot bis zum Aufkommen des modernen Industriezeitalters oft nur das kümmerliche Dasein des Wanderhirtentums eine Überlebenschance.

Die Bevölkerung


Zusätzlich zu den schwierigen inneren Raumproblemen waren von den Bewohnern der Balkanhalbinsel ungünstige äußere Rahmenbedingungen zu bewältigen. Die exponierte Lage an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien und im Einzugsbereich der eurasischen Steppenvölker am Übergang vom unteren Donauraum zur Mittelmeerwelt hat sie durch die  Jahrhunderte immer wieder dem gewaltsamen Zugriff von Eindringlingen und Eroberern und den Einwirkungen fremder Kulturen ausgesetzt.

Die Vorfahren der heutigen Balkanvölker sind alle erst in historischer Zeit eingewandert. Von einer Urbevölkerung der Balkanhalbinsel vor der Landnahme indogermanischer Völker sind keine gesicherten Spuren erhalten geblieben. Auf altbalkanische Vorfahren (Frühgriechen/Achaier, Illyrer, Thraker), die ihre Wurzeln in der Antike haben, berufen sich heute die Griechen, die Albaner und auch die Rumänen. Die frühmittelalterlichen Ethnogeneseprozesse auf südosteuropäischem Boden, die ein einheimisches Substrat mit Neuankömmlingen sehr unterschiedlicher Herkunft zusammenführten, haben keine Identität von Ethnicum und Volk, von Rasse und Nation, entstehen lassen. Die Bevölkerungsvermischungen sind teilweise schon in die Zeit vor der Einwanderung zurückzudatieren. Eine Gräzisierungswelle hat seit der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends von den küstennahen Handelsniederlassungen griechischer Kolonisten ihren Ausgang genommen. Später hat die von den Legionslagern und Garnisonstädten römischer Truppen am Donaulimes vermittelte Romanisierung den alten Balkan weitgehend überformt. Die griechisch-lateinische Sprachgrenze verlief von der Adria zum Schwarzen Meer quer durch die Balkanhalbinsel, sie trennte eine romanisierte Nordhälfte vom gräzisierten Südteil. Während der  Jahrhunderte der sog. Völkerwanderung wurde die Donau- und Balkanregion zum Durchzugsgebiet germanischer Stämme (West- und Ostgoten, Gepiden, Langobarden). Seit dem 6.  Jahrhundert n. Chr. hat die slawische Landnahme auf byzantinischem Reichsterritorium die innerbalkanischen Landschaften grundlegend verändert. Sie entwickelte sich aus den Kriegszügen des asiatischen Reitervolkes der Awaren im Donauraum, an denen slawische Hilfstruppen beteiligt waren. Nach der Vernichtung des Gepidenreiches (567) und dem Abzug der Langobarden nach Italien (568) öffnete ihnen die Eroberung Sirmiums 582 einen breiten Zugang in das Innere der Balkanhalbinsel. Die slawischen Eindringlinge gründeten dauerhafte Niederlassungen in eigenen Siedlungskomplexen, den sog. Sklabiniai in den byzantinischen Quellen. Aus den Toponymen lassen sich die Grenzen der slawischen Siedlungsausbreitung im griechischen Raum noch umrißhaft erkennen. Nach Johannes Koder war die Besiedlung sehr dicht bis etwa auf Höhe der Flußläufe des Kalamas in Epirus und des Haliakmon in Makedonien. Südlich davon drangen slawische Siedler vorzugsweise im Binnenland bis in die Peloponnes vor. Die slawischen Bauern drängten die teilromanisierte Bevölkerung aus den ehemaligen Siedlungsräumen der illyrischen und thrakischen Stämme in geschütztere Rückzugsgebiete an der adriatischen und ägäischen Küstenzone ab. Nicht wenige fanden auch Zuflucht in schwer zugänglichen Hochregionen des Landesinneren, wo ihre Nachkommen als transhumante Hirtenbevölkerung überlebten und später als Vorfahren der Albaner, Rumänen und Aromunen in den schriftlichen Quellen wieder auftauchen.

Im frühen Mittelalter hatten die bodenständigen Bauerngesellschaften im Donau- und Balkanraum...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch3
Über den Autor3
Impressum4
Inhalt5
I. Grundlagen und Voraussetzungen7
Südosteuropa, Balkanhalbinsel, Balkan7
Historische Balkanforschung im deutschsprachigen Raum9
II. Der Balkan als europäische Geschichtsregion13
Natur und Geschichte13
Die Bevölkerung15
Einheit und kulturelle Vielfalt24
Externe Raumkonstellationen28
Zwischen Fremdherrschaft und Selbstbestimmung31
Der christliche Balkan34
III. Mittelalter und Türkenzeit40
Mittelalterliche Balkanreiche40
Pax Ottomanica – der islamische Balkan45
Europa und die «Orientalische Frage»48
IV. Auf dem Weg zum Nationalstaat55
Selbstbestimmungsrecht und europäische Sicherheitsinteressen55
Anpassungsprobleme einer nachholenden Modernisierung61
Krieg und Frieden – Das Versailler System73
Zwischen Demokratie und Volksdemokratie81
V. Der Balkan nach 194586
Das kommunistische Experiment86
Die Rückkehr nach Europa94
Der Balkan als europäische Kulturlandschaft98
Anhang112
Zeittafel112
Südosteuropa im Internet116
Literatur118
Karten122
Personenregister126

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