II. Das Menschenbild der christlichen Metaphysik
Dem pädagogischen Nihilismus zu entgehen, der in der Konsequenz des metaphysischen Nihilismus liegt, ist nur möglich, wenn der metaphysische Nihilismus überwunden wird durch eine positive Metaphysik, die dem Nichts und den Abgründen des menschlichen Daseins selbst gerecht wird. So möchte ich an letzter Stelle die Idee des Menschen skizzieren, die einer christlichen Metaphysik entspricht, und ihre pädagogischen Konsequenzen entwickeln. Auch hier wird es nicht möglich sein, geschichtlich vorzugehen und die Unterschiede zu berücksichtigen, die sich bei den großen christlichen Denkern finden; es kann nur versucht werden, einige gemeinsame Linien hervorzuheben. Es wird nicht möglich sein, dogmatische Unterschiede der Konfessionen gänzlich auszuschalten, weil sonst die Idee des Menschen nicht dargestellt werden könnte. D. h. es ist nicht meine Absicht, dogmatische Unterscheidungslehren zu behandeln. Aber da ich unter christlicher Metaphysik eine solche verstehe, die von den Glaubenswahrheiten Gebrauch macht, muß ich mich für eine bestimmte dogmatische Grundlage entscheiden.
1. Sein Verhältnis zu den dargestellten Ideen
a) zum Humanitätsideal
Die christliche Anthropologie teilt mit der des idealistischen Humanismus die Überzeugung von der Güte der menschlichen Natur, von der Freiheit des Menschen, von seiner Berufung zur Vollkommenheit, von seiner verantwortlichen Stellung in dem einheitlichen Ganzen des Menschengeschlechts. Aber sie hat dafür eine andere Grundlage. Gut ist der Mensch, sofern er von Gott geschaffen ist, nach seinem Bilde geschaffen ist, und das in einem ihn vor allen andern irdischen Geschöpfen auszeichnenden Sinn. Seinem Geist ist das Bild der Trinität eingeprägt. Augustin hat mit äußerster Schärfe verschiedene Möglichkeiten herausgearbeitet, das Gottesbild im Menschengeist zu fassen. Es ist nicht möglich, das hier bis ins Einzelne zu verfolgen. Ich möchte nur soviel andeuten, wie für unsern Zusammenhang wichtig ist. Der Menschengeist liebt sich selbst. Er muß sich erkennen, um sich lieben zu können. Erkenntnis und Liebe sind im Geist, sind also eins mit ihm, sind sein Leben. Und doch sind sie von ihm und voneinander unterscheidbar. Die Erkenntnis wird aus dem Geist geboren, und aus dem erkennenden Geist geht die Liebe hervor. So kann man Geist, Erkenntnis und Liebe als Abbild des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes ansehen. Und das ist kein bloßes Gleichnis, sondern hat eine sehr reale Bedeutung. Der Mensch ist nur durch Gott, und ist, was er ist, durch Gott. Weil er Geist ist und weil er als Geist mit dem Licht der Vernunft, d. h. mit dem Abbild des göttlichen Logos, ausgerüstet ist, kann er erkennen. Weil der Geist Wille ist, wird er durch die Güte – die reine Güte und ihre irdischen Abbilder – angezogen, liebt er und kann sich mit dem göttlichen Willen vereinigen und dadurch erst die wahre Freiheit finden. Den eigenen Willen dem göttlichen Willen gleichförmig machen – das ist der Weg, der zur Vollendung des Menschen in der Glorie führt. Und da wird wiederum ein radikaler Unterschied sichtbar, der die christliche Auffassung des Menschen von der humanistischen trennt. Das Vollkommenheitsideal ist für diese ein irdisches Ziel, das Ziel, dem die natürliche Menschheitsentwicklung zustrebt. Nach christlicher Auffassung ist es ein jenseitiges Ziel, zu dem der Mensch wohl mitwirken kann und muß, das er aber nicht allein durch seine natürlichen Kräfte erreichen kann.
b) zur Tiefenpsychologie
Damit kommen wir zu dem, was die christliche Anthropologie mit jenen modernen Auffassungen gemein hat, die den Oberflächencharakter des Bewußtseins erkannt haben. Auch sie kennt die Tiefen der Seele und die Nachtseiten des menschlichen Daseins. Sie sind für sie keine neuen Entdeckungen, sondern Tatsachen, mit denen sie immer gerechnet hat, weil sie sie aus ihrer Wurzel begreift. Der Mensch war ursprünglich gut, kraft seiner Vernunft Herr seiner Triebe, frei dem Guten zugewendet. Aber durch die Abwendung des ersten Menschen von Gott ist die menschliche Natur aus dem Urstand gefallen: die Triebe in Empörung gegen den Geist, der Verstand verdunkelt, der Wille geschwächt. Vom ersten Menschen hat sich die verderbte Natur auf das ganze Menschengeschlecht, das von ihm ausging, vererbt. Sich selbst überlassen, ist der Mensch zwar den dunklen Gewalten nicht völlig ausgeliefert: Das Licht der Vernunft ist in ihm nicht gänzlich erloschen und die Freiheit ist ihm geblieben; so hat jeder die Möglichkeit, den Kampf mit seiner niederen Natur aufzunehmen, aber er ist immer in Gefahr, überwältigt zu werden, und der Sieg auf der ganzen Linie wird ihm aus eigener Kraft niemals gelingen: einmal, weil er es weitgehend mit unsichtbaren Feinden zu tun hat (wenn er gelernt hat, der Oberfläche zu mißtrauen, ist er noch lange nicht versichert, daß es ihm gelingen wird, die Tiefe wirklich zu entschleiern); sodann weil er den Verräter im eigenen Lager hat: den Willen, der so leicht zur Kapitulation zu bringen ist. So haben wir auf der einen Seite Menschen, die sich im Kampf aufreiben; auf der andern solche, die den Kampf aufgeben oder niemals aufgenommen haben: die dem Chaos preisgegeben sind, evtl. bis zu dem Grade, daß keine Einheit der Persönlichkeit mehr sichtbar ist (vorhanden ist die Einheit trotz dieses Aspektes, da die Seele eine ist, jede einzelne von Gott geschaffen, zur Unsterblichkeit berufen und dafür verantwortlich, wenn sie sich selbst verliert, weil sie jederzeit in die Tiefe gehen kann, in der sie sich selbst findet). Wohl gibt es natürlich-gute und edle Menschen, solche, bei denen die Richtung auf das Gute, die der menschlichen Natur eingeprägt und auch durch den Fall nicht ganz verloren ist, besonders stark hervortritt und die auf rein natürlichem Boden einen hohen Grad von Harmonie erreichen. Aber der Riß geht auch durch ihre Natur. Wir wissen nicht, wieviel sie im Verborgenen davon zu spüren bekommen und wann er einmal so aufbricht, daß die Abgründe sichtbar werden.
Der Mensch hat keine Macht über die Gewalten der Tiefe und kann von sich aus den Weg zur Höhe nicht finden. Aber es ist ein Weg für ihn bereitet. Um seine Natur zu heilen und ihm die Erhebung über die Natur, die ihm von Ewigkeit her zugedacht war, zurückzugeben, ist Gott selbst Mensch geworden. Der Sohn des ewigen Vaters wurde das neue Haupt des Menschengeschlechts; jeder, der mit ihm verbunden ist in der Einheit des mystischen Leibes, hat Teil an seiner Gotteskindschaft, trägt einen Quell göttlichen Lebens in sich, der fortströmt ins ewige Leben und zugleich ein Heilquell für die Gebrechen der gefallenen Natur ist: Das natürliche Licht seines Verstandes ist gestärkt durch das Gnadenlicht und ist besser geschützt gegen Irrtümer, wenn auch nicht dagegen versichert, vor allem ist sein geistiges Auge geöffnet für alles, was in dieser Welt uns von einer andern Welt Kunde gibt; der Wille ist dem ewigen Gut zugewendet und nicht leicht davon abzulenken, er besitzt mehr Kraft zum Kampf gegen die niederen Gewalten. Immerhin bleibt er während dieses Lebens dem Kampf ausgesetzt. Er selbst muß dafür Sorge tragen, daß das Gnadenleben in ihm erhalten und beständig genährt wird; erst als Lohn für die Bewährung im Kampf steht ihm der status termini in Aussicht, das Glorienleben, in dem er die ewige Wahrheit schauen und ihr unabwendbar in Liebe anhängen wird. Diesem Ziel unbeirrt zuzusteuern, das muß die Richtschnur für sein ganzes Leben sein, alle Angelegenheiten dieses irdischen Lebens müssen auf ihre Bedeutung für das ewige Ziel hin geprüft, danach bewertet und behandelt werden.
c) zur Existenzphilosophie
So wird für den Christen eine kritische Haltung gegenüber der Welt, in der er sich als geistig erwachender Mensch vorfindet, und gegenüber dem eigenen Ich erforderlich. Der Appell zur Besinnung auf das wahre Sein, wie er uns in Heideggers Metaphysik mit radikaler Schärfe entgegentritt, ist ein ur- christlicher Appell, ein Widerhall jenes Μετανοεῖτε, mit dem der Täufer dazu aufrief, die Wege des Herrn zu bereiten. Unter allen christlichen Denkern hat keiner mit leidenschaftlicherer Energie diesem Ruf entsprochen als St. Augustin. »Noli foras ire, in te redi, in interiore homine habitat veritas.« Tiefer ist wohl niemand ins eigene Innere vorgedrungen als Augustin in seinen »Bekenntnissen«. Schärfer und radikaler hat aber auch niemand an der menschlichen Lebenswelt Kritik geübt als Augustin in seinem »Gottesstaat«. Aber das Ergebnis ist ein völlig anderes: »Im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit«: Diese Wahrheit ist nicht die nackte Tatsache des eigenen Daseins in seiner Endlichkeit. So unumstößlich gewiß für Augustin die Tatsache des eigenen Seins ist: Noch gewisser ist die Tatsache des ewigen Seins, das hinter diesem gebrechlichen eigenen Sein steht. Das ist die Wahrheit, auf die man stößt, wenn man im eigenen Innern bis auf den Grund geht. Erkennt die Seele sich selbst, so erkennt sie Gott in sich. Und zu erkennen, was sie selbst ist und was in ihr ist, das ist ihr nur durch das göttliche Licht möglich. »Der Du mich kennst, ich möchte mich erkennen, so wie auch ich erkannt bin.« »Was wäre Dir, Herr, vor dessen Augen der Abgrund des menschlichen Gewissens bloß liegt, in mir verborgen, auch wenn ich es Dir nicht bekennen wollte? Ich würde Dich mir verbergen und nicht mich Dir … Darum vollzieht sich mein Bekenntnis, mein Gott, schweigend von Deinem Angesicht … Ich sage den Menschen nichts Richtiges, was Du nicht zuerst von mir gehört hast; und Du hörst nichts dergleichen von mir, was nicht Du mir...