§ 4. Kausale Bedingtheit der Erlebnisse
Dieses Einswerden der zusammen auftretenden Erlebnisse, die Komplexbildung, ist aber nicht das einzige, was bei ihrem gemeinsamen Auftreten im Strom festzustellen ist. Es gibt daneben eine Art der »Beeinflussung« gleichzeitig auftretender Erlebnisse, ein Betroffenwerden in ihrem Seins-Bestande, und zwar ist es eine ganz bestimmte Erlebnisschicht, die hier als »wirkende« erscheint: Jeder Wandel in der Sphäre des »Sichbefindens«, wie wir vorhin sagten, oder der Lebensgefühle (wie wir mit Rücksicht auf die Rolle, die sie spielen, jetzt sagen wollen) bedingt einen Wandel im gesamten Ablauf des gleichzeitigen Erlebens. Wenn ich mich matt fühle, so scheint der Strom des Lebens gleichsam zu stocken, träge schleicht er dahin, und alles, was in den verschiedenen Sinnesfeldern auftritt, wird davon betroffen, die Farben sind gleichsam farblos, die Töne klanglos, und jeder »Eindruck« – jedes Datum, das dem Lebensstrom sozusagen wider Willen aufgenötigt wird – ist schmerzlich, unlustvoll, jede Farbe, jeder Ton, jede Berührung »tut weh«. Schwindet die Mattigkeit, so tritt auch in den anderen Sphären ein Wandel ein, und in dem Moment, wo sie in Frische übergeht, beginnt der Strom lebhaft zu pulsieren, hemmungslos treibt er vorwärts, und alles, was darin auftritt, trägt den Hauch der Frische und Freudigkeit. Ohne Zweifel haben wir ein Recht, dieses Phänomen als Kausalität der Erlebnissphäre in Anspruch zu nehmen, als ein Analogon der Kausalität im Reiche der physischen Natur, und zwar des Grundfalls der Kausalität (auf den die Physik alle anderen Kausalverhältnisse zurückzuführen sucht): des mechanischen Wirkens. Wie eine rollende Kugel eine andere, auf die sie stößt, in Bewegung setzt, wie die ausgelöste Bewegung in Richtung und Geschwindigkeit abhängt von der »Wucht« des Anpralls, von der Richtung und Geschwindigkeit der auslösenden Bewegung – so bestimmt der »Anstoß«, der von der Lebenssphäre ausgeht, die Art des Ablaufs des sonstigen Erlebens, und nicht nur die Qualität, sondern auch die »Stärke« der Wirkung hängt von der Ursache ab, nur daß die Stärke hier nicht mehr meßbar ist wie im Gebiet der physischen Natur. Wir unterscheiden bei der mechanischen Kausalität ein verursachendes Geschehen – die Bewegung der einen Kugel –, ein verursachtes Geschehen – die Bewegung der anderen Kugel –, und ein Ereignis, das zwischen beiden vermittelt und das wir speziell als »Ursache« bezeichnen können: daß die eine Kugel auf die andere stößt. Von der Beschaffenheit des verursachenden Geschehens hängt die Beschaffenheit der Ursache und fernerhin die des verursachten Geschehens (der »Wirkung«) ab, verursachendes und verursachtes Geschehen aber sind in ihrer Beschaffenheit bedingt durch die Eigenart der Substrate dieses Geschehens.
Bei der Erlebniskausalität haben wir die »Ursache« darin zu sehen, daß in der Lebenssphäre ein Wandel eintritt. Dem verursachenden und verursachten Geschehen entspricht das jeweilige Lebensgefühl und der Ablauf des sonstigen Erlebens. Aber während in der physischen Natur das verursachende Geschehen unabhängig von dem Ereignis auftritt, das zur Auslösung des verursachten Geschehens führt und ohne den Eintritt eines solchen Ereignisses wirkungslos verlaufen würde, ist in der Erlebnissphäre das Ereignis, das wir speziell als Ursache bezeichnen, nicht zwischengeschaltet zwischen verursachendes und verursachtes Geschehen, sondern bedingt das verursachende Geschehen, und es ist unmöglich, daß dieses »wirkungslos« verläuft. Hier haben wir also einen ersten Unterschied zwischen mechanischer und Erlebniskausalität. Darin aber stimmen beide Arten des Wirkens überein, daß die Wirkung unmöglich unterbleiben kann, wenn Ursache und verursachendes Geschehen eingetreten sind, und in dem Augenblick einsetzt, wo das der Fall ist. Und in beiden Fällen ist die Wirkung auch ihrer materiellen Beschaffenheit nach eine notwendige: So wenig man sich denken kann, daß eine Kugel, die nach unten geschleudert wird, infolge des Wurfes nach oben steigt, so wenig ist es denkbar, daß Mattigkeit den Bewußtseinsstrom »belebt«.
Es ließe sich zeigen, daß die eigentümliche »Notwendigkeit« eine Besonderheit der mechanischen Kausalzusammenhänge ist und nicht allen physischen Kausalzusammenhängen zukommt. Daß z. B. das Anstreichen einer Darmsaite von bestimmter Länge einen Ton von bestimmter Höhe hervorruft, ist durchaus nicht als Notwendigkeit einzusehen. Die Erforschung dieser Verhältnisse muß natürlich speziellen Untersuchungen über die physische Natur überlassen werden.
Dagegen stoßen wir wieder auf Unterschiede, wenn wir uns nach den Substraten des Geschehens umsehen. In der physischen Natur sind es »Dinge«, substanzielle Einheiten, die in kausalen Beziehungen stehen und für die das kausale Geschehen zugleich konstitutiv ist. Das, was dort als Ursache und Wirkung auftritt, sind Ereignisse, die sich mit Dingen zutragen, und Zuständlichkeitsänderungen von Dingen; in diesen Veränderungen »bekunden« sich die Eigenschaften, die den Seinsbestand des Dinges ausmachen, und die Kenntnis dieser Eigenschaften beschließt andererseits in sich eine Kenntnis der möglichen Wirkungen, die es ausüben und leiden kann.
Wir haben das Kausalverhältnis als eine Verknüpfung von Erlebnissen eingeführt. Diese müssen wir nun etwas näher auf ihren Aufbau hin untersuchen, um zu sehen, ob sie vielleicht die Substrate des Kausalgeschehens sind, analog den Dingen der äußeren Natur. Bisher haben wir sie kennengelernt als Wellen des Erlebnisstroms, die anheben, sich während einer bestimmten Dauer entfalten und wieder vergehen. Für unsere jetzige Frage kommen wir damit nicht aus. Wir scheiden zunächst an jedem Erlebnis
1. einen Gehalt, der ins Bewußtsein aufgenommen wird (z. B. ein Farbendatum oder ein Wohlbehagen);
2. das Erleben dieses Gehaltes, sein Aufgenommenwerden ins Bewußtsein (das Haben der Empfindung, das Fühlen des Wohlbehagens);
3. das Bewußtsein von diesem Erleben, das es – in höherem oder niederem Grade – stets begleitet und um dessentwillen das Erleben selbst auch als Bewußtsein bezeichnet wird.
Ad zu 1 ist zu bemerken, daß es im Bereich der Erlebnisgehalte – wie die gewählten Beispiele deutlich zeigen – einen radikalen Unterschied gibt: den Unterschied ichfremder Daten (der Empfindungsdaten) und »ichlicher« (wie das Wohlbehagen es ist). Die einen stehen dem Ich gegenüber, die andern liegen auf Subjektseite. Würden wir transzendente Objekte mit in Betracht ziehen, so würden wir dort einem entsprechenden Unterschied begegnen: Es gibt solche, denen idealiter Erlebnisse mit ichfremdem Gehalt entsprechen, und andere, zu deren adäquater Erfassung ein Erlebnis mit ichlichem Gehalt gehört. Auf der einen Seite stehen »Sachen«, auf der andern z. B. Werte.
Den verschiedenen Gehalten entsprechen Unterschiede des Erlebens (das Haben der Empfindungen, das Fühlen der Ichzuständlichkeiten). Im übrigen zeigt das Erleben jeder Art Unterschiede der Spannung: Ich kann mit größerer oder geringerer Intensität einem ichfremden Gehalt zugewendet, einem ichlichen Gehalt hingegeben sein. Der ichfremde Gehalt tritt bei größerer Spannung klarer, schärfer hervor, der ichliche nimmt ausschließlicher von mir Besitz. Die Intensität des Erlebens ist natürlich nicht zu verwechseln mit der Intensität des Gehaltes. Das intensive Empfinden eines Rot braucht kein Empfinden eines intensiven Rot zu sein, die intensive Hingabe an einen Schmerz keine Hingabe an einen intensiven Schmerz. Die Spannungsunterschiede des Erlebens fallen auch nicht zusammen mit dem Gegensatz von Vordergrund- und Hintergrunderlebnissen (von in vorzüglicher, eigentlicher Weise und nebenbei vollzogenen). Das Vordergrunderlebnis erfordert zwar an sich eine höhere Spannung als das Hintergrunderlebnis, aber läßt selbst noch beliebig viele Gradabstufungen zu. Vordergrund- und Hintergrunderlebnis können nicht durch Änderung ihres Spannungsgrades ineinander übergeführt werden. Bei größerer Angespanntheit des Erlebens zeigen Vordergrund- und Hintergrunderlebnis gesteigerte Spannung, aber jedes in seiner Weise. Ähnlich wie bei hellerer Beleuchtung helle und dunkle Farben heller erscheinen, ohne daß man durch Beleuchtungsänderung am Verhältnis der spezifischen Helligkeiten etwas ändern könnte.
Den Spannungsgraden des Erlebens entsprechen Helligkeitsunterschiede des Bewußtseins. Je intensiver das Erleben, desto lichter, wacher ist das Bewußtsein von ihm. Dabei wird recht deutlich, daß dieses Bewußtsein, das wir als Komponente des Erlebnisses in Anspruch nehmen, nicht selbst ein Erlebnis, ein Akt erfassender Reflexion ist. Denn je intensiver das Erleben ist, desto »ungeteilter« pflegen wir in ihm »aufzugehen«, desto weniger gestattet es das Abspalten einer Reflexion, während das Bewußtsein, das kein Gegenständlich-haben ist, eben dann gesteigert ist. Es gibt auch eine intensive Reflexion, ein angespanntes Hinsehen auf die Erlebnisse, die in diesem Fall durchaus nicht gespannt zu sein brauchen. Sie ist dann in hohem Grade »bewußt«, wobei dieses Bewußtsein von der Reflexion nicht selbst wieder eine Reflexion ist. Wir können auf diese Verhältnisse hier nicht näher eingehen, weil sie für die Frage, die uns jetzt beschäftigt, für die Aufsuchung der Stelle im Erlebnis, an der die Kausalität angreift, nicht von Belang sind.
Es scheint, daß von den aufgezeigten Komponenten des Erlebnisses das Erleben es ist, das in erster...