I.
WIE ICH DAZU KAM, ARZT IM URWALD ZU WERDEN
LAND UND LEUTE AM OGOWE
Die Lehrtätigkeit an der Universität Straßburg, die Orgelkunst und die Schriftstellerei verließ ich, um als Arzt nach Äquatorialafrika zu gehen. Wie kam ich dazu?
Ich hatte von dem körperlichen Elende der Eingeborenen des Urwaldes gelesen und durch Missionare davon gehört. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unbegreiflicher kam es mir vor, daß wir Europäer uns um die große humanitäre Aufgabe, die sich uns in der Ferne stellt, so wenig bekümmern. Das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus schien mir auf uns geredet zu sein. Wir sind der reiche Mann, weil wir durch die Fortschritte der Medizin im Besitze vieler Kenntnisse und Mittel gegen Krankheit und Schmerz sind. Die unermeßlichen Vorteile dieses Reichtums nehmen wir als etwas Selbstverständliches hin. Draußen in den Kolonien aber sitzt der arme Lazarus, das Volk der Farbigen, das der Krankheit und dem Schmerz ebenso wie wir, ja noch mehr als wir unterworfen ist und keine Mittel besitzt, um ihnen zu begegnen. Wie der Reiche sich aus Gedankenlosigkeit gegen den Armen vor seiner Türe versündigte, weil er sich nicht in seine Lage versetzte und sein Herz nicht reden ließ, also auch wir.
Die paar hundert Ärzte, die die europäischen Staaten als Regierungsärzte in der kolonialen Welt unterhalten, können, sagte ich mir, nur einen ganz geringen Teil der gewaltigen Aufgabe in Angriff nehmen, besonders da die meisten von ihnen in erster Linie für die weißen Kolonisten und für die Truppen bestimmt sind. Unsere Gesellschaft als solche muß die humanitäre Aufgabe als die ihre anerkennen. Es muß die Zeit kommen, wo freiwillige Ärzte, von ihr gesandt und unterstützt, in bedeutender Zahl in die Welt hinausgehen und unter den Eingeborenen Gutes tun. Erst dann haben wir die Verantwortung, die uns als Kulturmenschheit den farbigen Menschen gegenüber zufällt, zu erkennen und zu erfüllen begonnen.
Von diesen Gedanken bewegt beschloß ich, bereits dreißig Jahre alt, Medizin zu studieren und draußen die Idee in der Wirklichkeit zu erproben. Anfang 1913 erwarb ich den medizinischen Doktorgrad. Im Frühling desselben Jahres fuhr ich mit meiner Frau, die die Krankenpflege erlernt hatte, an den Ogowe in Äquatorialafrika, um dort meine Wirksamkeit zu beginnen.
Ich hatte mir diese Gegend ausgesucht, weil elsässische, dort im Dienste der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft stehende Missionare mir gesagt hatten, daß ein Arzt dort, besonders wegen der immer mehr um sich greifenden Schlafkrankheit, sehr notwendig sei. Diese Missionsgesellschaft erklärte sich bereit, mir auf ihrer Station Lambarene eines ihrer Häuser zur Verfügung zu stellen und mir zu erlauben, dort auf ihrem Grund und Boden ein Spital zu bauen, wozu sie mir auch ihre Hilfe in Aussicht stellte.
Die Mittel für mein Werk jedoch mußte ich selber aufbringen. Ich gab dazu, was ich durch mein in drei Sprachen erschienenes Buch über J. S. Bach und durch Orgelkonzerte verdient hatte. Der Thomaskantor aus Leipzig hat also mitgeholfen, das Spital für die Neger im Urwald zu bauen. Liebe Freunde aus Elsaß, Frankreich, Deutschland und der Schweiz halfen mir mit ihren Mitteln. Als ich Europa verließ, war mein Unternehmen für zwei Jahre gesichert. Ich hatte die Kosten – die Hin- und Rückreise nicht einbegriffen – auf etwa fünfzehntausend Franken für das Jahr veranschlagt, was sich ungefähr als richtig erwies.
Mein Werk lebte also – wie der naturwissenschaftliche Ausdruck lautet – in Symbiose mit der Pariser evangelischen Missionsgesellschaft. An sich aber war es überkonfessionell und international. Es war meine Überzeugung und ist es noch heute, daß die humanitären Aufgaben in der Welt dem Menschen als solchem, nicht als dem Angehörigen einer bestimmten Nation oder Konfession nähergebracht werden müssen.
Die Führung der Bücher und die Besorgung der Bestellungen hatten aufopfernde Freunde in Straßburg übernommen. Die gepackten Kisten wurden von der Pariser Missionsgesellschaft mit den ihrigen nach Afrika gesandt.
Skizze nach einer Karte von Herrn Missionar Haug
Ein Wort über das Land, in dem ich wirkte. Das Gebiet des Ogowe gehört zur Kolonie Gabun. Der Ogowe ist ein etwa zwölfhundert Kilometer langer, nördlicher Parallelfluß des Kongo. Obwohl er viel kleiner ist als dieser, stellt er immer noch einen stattlichen Strom dar. In seinem Unterlauf ist er ein bis zwei Kilometer breit. In den letzten zweihundert Kilometern spaltet er sich in eine Reihe von Armen, die sich bei Kap Lopez in den Atlantischen Ozean ergießen. Schiffbar für größere Flußdampfer ist er von der Küste bis nach N’Djôle, etwas über 350 Kilometer weit. Dann beginnt das Hügel- und Bergland, das zum innerafrikanischen Hochplateau führt. Hier wechseln Serien von Stromschnellen mit langen Strecken guter Schiffbarkeit ab. Die Schiffahrt ist nur noch kleinen, eigens zum Überwinden der Stromschnellen gebauten Schraubendampfern und den Kanoes der Eingeborenen möglich.
Während in der Gegend des Mittel- und Oberlaufes Prärie und Wald abwechseln, gibt es im Unterlaufe, von N’Djôle abwärts, nur Wasser und Urwald.
Diese feuchte Niederung eignet sich vorzüglich für die Kultur von Kaffee, Pfeffer, Zimt, Vanille und Kakao. Auch die Ölpalme gedeiht gut. Aber die Haupttätigkeit der Europäer gilt nicht den Pflanzungen, auch nicht der Gewinnung des Kautschuks des Urwaldes, sondern dem Holzhandel. Der Ogowe bietet den großen Vorteil, daß er in eine Bucht mündet, die eine vorzügliche Reede ohne Barre enthält. Es sind also für die Westküste Afrikas, die an guten Häfen und besonders an solchen, in die Ströme münden, so arm ist, selten günstige Voraussetzungen für die Verladung von Holz gegeben. Die großen Flöße können neben den Dampfern, die sie aufnehmen sollen, anlegen, ohne durch die Barre oder durch schweren Wellengang zerrissen und zerstreut zu werden. Auf absehbare Zeit wird der Holzhandel also für diese Gegend die Hauptsache bleiben.
Kartoffeln und Getreide lassen sich leider nicht anbauen, weil das Wachstum in der warmen feuchten Luft zu rasch vor sich geht. Die Kartoffeln schießen empor, ohne Knollen anzusetzen, und das Getreide bringt keine Frucht. Auch die Kultur des Reises ist aus verschiedenen Gründen nicht möglich. Kühe lassen sich am Unterlaufe des Ogowe nicht halten, weil sie das hier wachsende Gras nicht vertragen. Weiter nach dem Innern zu, auf dem zentralen Höhenplateau, gedeihen sie vorzüglich.
Mehl, Reis, Milch und Kartoffeln müssen also aus Europa bezogen werden, was die Lebensführung außerordentlich kompliziert und verteuert.
Lambarene liegt etwas südlich vom Äquator und hat die Jahreszeiten der südlichen Halbkugel. Es ist also dort Winter, wenn in Europa Sommer ist, und Sommer, wenn in Europa Winter ist. Der dortige Winter ist durch die trockene Jahreszeit, die von Ende Mai bis Anfang Oktober dauert, gekennzeichnet. Der dortige Sommer ist die Regenzeit, die von Anfang Oktober bis Mitte Dezember und von Mitte Januar bis Ende Mai geht. Um Weihnachten herum setzt eine etwa drei bis vier Wochen andauernde trockene Jahreszeit ein, in der die Hitze ihren Höhepunkt erreicht.
Die Durchschnittstemperatur im Schatten in der Regenzeit ist etwa 28–35 Grad Celsius, in der winterlichen trockenen Jahreszeit 25–30 Grad. Die Nächte sind fast ebenso heiß wie die Tage. Dieser Umstand und die sehr große Feuchtigkeit der Luft sind schuld daran, daß der Europäer das Klima der Ogoweniederung so schwer erträgt. Nach einem Jahr bereits beginnen sich Ermüdung und Anämie bei ihm bemerkbar zu machen. Nach zwei bis drei Jahren ist er zu richtiger Arbeit untauglich und tut am besten daran, auf mindestens acht Monate zur Erholung nach Europa zurückzukehren.
Die Mortalität unter den Weißen betrug im Jahre 1903 in Libreville, der Hauptstadt Gabuns, fast vierzehn auf hundert.
Vor dem Kriege lebten in der Ogoweniederung etwa zweihundert Weiße: Pflanzer, Holzhändler, Kaufleute, Regierungsbeamte und Missionare. Die Zahl der Eingeborenen ist schwer anzugeben. Jedenfalls ist das Land nicht dicht bevölkert. Es sind nur noch die Trümmer von acht ehemals mächtigen Stämmen vorhanden. So furchtbar haben der Sklavenhandel und der Schnaps in drei Jahrhunderten unter ihnen aufgeräumt. Von dem Stamme der Orungu, die das Ogowedelta bewohnten, ist fast nichts mehr übrig. Von dem der Galoas, dem das Gebiet von Lambarene gehörte, sind höchstens noch achtzigtausend vorhanden. In die so geschaffene Leere drängen sich vom Innern her die von der Kultur noch unberührten anthropophagen Fan’s, auf französisch Pahouins genannt. Ohne das rechtzeitige Dazwischentreten der Europäer hätte dieses Kriegervolk die alten Stämme der Ogoweniederung bereits aufgegessen. Lambarene bildet auf dem Flusse die Grenze zwischen den Pahouins und den alten Stämmen.
Gabun wurde am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts von den Portugiesen entdeckt. Bereits 1521 siedelten sich katholische Missionare an der Küste zwischen der...