Vorwort
[zur Neuausgabe von 1965]
Im Folgenden versuche ich, die Weltanschauung, wie sie sich im indischen Denken findet, in Kürze und allgemeinverständlich darzulegen. Damit möchte ich dazu beitragen, daß den Gebildeten unserer Zeit die großen Persönlichkeiten des indischen Denkens, die Probleme, mit denen es beschäftigt ist, und die Ideen, die es vertritt, besser bekannt werden, als sie es sind.
Es kann für unser Denken ja nur eine Klärung und Bereicherung bedeuten, in das indische Einblick zu gewinnen und sich mit ihm auseinanderzusetzen.
Um es wirklich zu verstehen, müssen wir uns aber darüber klar werden, wie sich ihm die Probleme der Weltanschauung stellen und in welcher Weise es sich mit ihnen beschäftigt. Es gilt, die Entwicklung, die es von der Zeit der vedischen Hymnen an bis zur Gegenwart durchmacht, aufzuzeigen und zu erklären.
Der Schwierigkeiten, Linien einer Entwicklung in einem Denken festzulegen, das in so einzigartiger Weise das Bestreben und das Vermögen besitzt, Gegensätze nicht als solche zu empfinden, sondern Verschiedenartiges nebeneinander bestehen zu lassen und miteinander zu vereinigen, bin ich mir voll bewußt. Ich glaube aber, daß wir Abendländer das, was das indische Denken ist und für das Denken der Menschheit bedeutet, erst richtig erfassen, wenn wir in das, was in ihm vorgeht, Einblick gewinnen.
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Wie jeder, der sich mit indischem Denken beschäftigt, bin ich den Meistern der Indologie, die die Texte veröffentlicht und die grundlegenden Untersuchungen veranstaltet haben, zu tiefem Dank verpflichtet.
Besonders wertvoll war mir die Darstellung der Geschichte der indischen Literatur von Professor Moriz Winternitz, Prag. Tiefen Dank schulde ich ihm überdies dafür, daß er mich durch so manche wertvolle Auskünfte, die er mir auf meine Anfragen hin gab, an seinem großen Wissen teilhaben ließ.
Sehr vorteilhaft war für mich auch die Möglichkeit, die Probleme des indischen Denkens mit meinem Freund C. F. Andrews durchzusprechen.
Viel boten mir Romain Rolland’s feinsinnige Studien über Rāmakrishṇa und Vivekānanda.
Das indische Denken hat, seit ich in meiner Jugend durch Schopenhauer’s Werke zum erstenmal mit ihm bekannt wurde, immer eine große Anziehungskraft auf mich ausgeübt. Von allem Anfang an war es meine Überzeugung, daß sich in Wirklichkeit jedes Denken mit dem großen Problem beschäftigt, wie der Mensch zum geistigen Eins-werden mit dem unendlichen Sein gelangen kann. Weil sich das indische Denken mit diesem Problem auseinandersetzt, zog es meine Aufmerksamkeit auf sich, aber auch weil es seiner Natur nach Mystik ist. Überdies sagte mir zu, daß sich die indische Ethik nicht auf das Verhalten des Menschen zu seinem Nebenmenschen und zur menschlichen Gesellschaft beschränkt, sondern auch sein Verhalten zu allen Lebewesen einbezieht.
Aber je vertrauter ich mit den Zeugnissen des indischen Denkens wurde, desto stärkere Zweifel kamen mir, ob die Auffassung, die uns die Werke Arthur Schopenhauer’s, Paul Deussen’s und anderer nahebringen, berechtigt sei, die Auffassung nämlich, daß das indische Denken völlig von der Idee der Welt- und Lebensverneinung beherrscht wird. Ich konnte mich der Einsicht nicht verschließen, daß sich in diesem Denken hintergründig schon von den frühesten Anfängen seiner Geschichte an immer auch Welt- und Lebensbejahung findet, und daß dieses Nebeneinander und Miteinander von Welt- und Lebensverneinung und Welt- und Lebensbejahung seine Eigenart ausmachen und seine Entwicklung bestimmen.
Ich werde das indische Denken nicht nur beschreiben, ich werde es gleichzeitig auch kritisch beleuchten. Denn so viel ich weiß, hat man sich bis jetzt noch nicht mit den wesentlichen Unterschieden zwischen dem indischen und dem abendländischen Denken auseinandergesetzt. Die abendländischen Denker geben entweder, wie Schopenhauer, Deussen und andere, das abendländische Denken preis und ersetzen es durch die indische Denkweise, die sie als reine Welt- und Lebensverneinung auffassen, oder sie lehnen das indische Denken, aus einem völligen Unvermögen, es zu verstehen, als etwas Unbegreifliches ab, das uns immer fremd bleiben wird.
Auch von indischer Seite ist kein wirklich weitreichender Versuch unternommen worden, unser Denken, das mit der ungeheueren Vielfalt seiner philosophischen Lehren den Inder wie eine vulkanische Landschaft anmutet, zu verstehen.
Aber das Denken kann nicht gänzlich verschiedene Wege gehen. Jedes Denken muß sich mit zwei großen grundlegenden Problemen auseinandersetzen: mit dem Problem Welt- und Lebensbejahung und Welt- und Lebensverneinung und dann mit dem Problem der Ethik und des Verhältnisses zwischen der Ethik und jenen beiden Formen der geistigen Haltung des Menschen gegenüber dem Sein.
Wie ich versucht habe, das abendländische Denken vom Gesichtspunkt dieser beiden fundamentalen Probleme aus zu verstehen und zu beurteilen, so werde ich jetzt auch das indische Denken unter diesem Blickwinkel betrachten.
Vielleicht werden sich diejenigen, die innerhalb des indischen Denkens aufgewachsen sind, nur schwer mit der rein kritischen Natur meiner Untersuchung abfinden können. Ich bitte sie im voraus um Verzeihung. Wie das abendländische Denken untersuche ich jetzt das indische daraufhin, welche Ideen sich in ihm natürlich nebeneinander finden und welche einer anderen sozusagen nur aufgepfropft sind. Die höchste Ehre, die man einem Denksystem erweisen kann, ist, es unbarmherzig auf seinen Wahrheitsgehalt zu untersuchen, wie der Stahl auf seine Härte geprüft wird. Doch darüber hinaus ist das vorliegende Buch auch Ausdruck meiner Hochachtung vor der Tiefe des indischen Denkens, mit dessen großen Vertretern aus alter wie aus neuer Zeit ich mich innerlich verbunden fühle.
Aber auch an meiner Meinung, daß die Welt- und Lebensverneinung an sich ohne Ethik ist, daß das Ahiṃsā-Gebot nicht aus einem Gefühl des Mitleids erwächst, sondern aus dem Gedanken, sich von der Welt rein zu halten, und daß das Motiv des Mitleids in der Ahiṃsā erst später Platz fand, könnten indische Leser Anstoß nehmen. Doch welche Meinung man auch in bezug auf den geschichtlichen Ursprung dieses großen ethischen Grundsatzes vertreten mag, seine Bedeutung wird dadurch nicht beeinträchtigt.
Die bewußte Kürze meiner Abhandlung könnte zu allerlei Mißverständnissen Anlaß geben. Ich hatte nicht die Absicht, die indische Philosophie im einzelnen zu beschreiben, sondern wollte nur aufzeigen, wie sie sich zu den großen Problemen des Lebens stellt und wie sie sie zu lösen versucht. Um das so deutlich wie möglich darzulegen, beschränkte ich mich auf eine Skizzierung in einfachen, festen Linien. Deshalb wird jeder, der mit dem indischen Denken vertraut ist, viele Einzelheiten vermissen, die in seinen Augen für seine Vorstellungen und Gedanken besonders charakteristisch sind und ihnen ihre Farbigkeit verleihen.
Ich glaube aber, daß eine Darlegung wie diese, die von den grundlegenden Problemen des Denkens ausgeht und sich streng auf das Wesentliche beschränkt, ihre Berechtigung hat.
Wer auf diesem Gebiet schon gearbeitet hat, weiß, wie schwierig es ist, die genaue Bedeutung der termini technici der indischen Philosophie in unsere Begriffe zu fassen. Ich bediene mich solcher Fachbegriffe nur, wenn es unumgänglich ist; sonst versuche ich ihre Bedeutung in gewöhnlichen Worten wiederzugeben.Termini technici sind für jedes philosophische System, ob indisch oder europäisch, eine Gefahr. Denn sie können zu Formeln werden, die die natürliche Entwicklung des Denkens behindern wie Gleise auf der Straße den Verkehr. Deshalb ist es, wenn man ein Denksystem auf seinen wirklichen Gehalt hin untersuchen will, vernünftig, die Begriffe, die es zu seinem eigenen Gebrauch geprägt hat, beiseitezulassen und es so zu zwingen, in einer allgemein verständlichen Sprache zu sprechen.
Ich habe mich auch bewußt auf das indische Denken beschränkt und habe den indischen Glauben, obwohl es oft schwierig ist, eine Trennungslinie zu ziehen, nicht mithereingenommen. Ich ziehe den Glauben nur dort in Betracht, wo er offensichtlich von den Problemen der Philosophie beherrscht wird.
Wo es um das Denken geht, sind alle Argumente aus der Geschichte, so notwendig und interessant sie an sich auch sind, nur von relativer Bedeutung. Wenn sich die europäische und die indische Philosophie auf eine Disputation einlassen, darf keine von beiden die eigene Meinung als die einzig richtige beweisen wollen. Beide sind Hüterinnen wertvollen Gedankenguts. Aber beide müssen nach einer Denkweise trachten, die sich über all die Unterschiede der geschichtlichen Vergangenheit hinwegsetzt und schließlich von der ganzen Menschheit geteilt wird. Die wirkliche Bedeutung einer Auseinandersetzung des abendländischen und des indischen Denkens liegt darin, daß jedes die Unzulänglichkeiten auf jeder Seite erkennt, und sich dadurch angespornt fühlt, nach einem vollkommenen Denken zu suchen.
Denn wir brauchen eine Philosophie, die tiefer und lebendiger ist und von größerer geistiger und ethischer Kraft getragen wird, als unsere bisherige. In der furchtbaren Zeit, die die Menschheit gegenwärtig durchlebt, müssen wir alle, im...