Vorspiel
Anne Petersen wohnte mit ihren Eltern in einem dreistöckigen Mietshaus am Rande der Stadt. Dass diese Gegend vor hundert Jahren noch ein Dorf gewesen war, konnte man auch heute noch erkennen. Die Straße war zwar asphaltiert, aber nicht begradigt worden. Es gab noch die alte gewundene, an einigen Stellen von Lindenbäumen gesäumte Dorfstraße. Anne konnte von ihrem Zimmer aus auf ein schönes Fachwerkhaus gegenüber sehen. Auf dem dicken Holzbalken, der die große Toreinfahrt an der Giebelseite nach oben hin abschloss, war das Baujahr eingekerbt: ANNO 1840. Von einem hinteren Zimmer aus blickte Anne auf ein von einem kleinen Bach durchzogenes Feuchtgebiet, das nicht bebaut werden durfte. Zu Annes großer Freude grasten dort seit kurzem zwei Pferde, eine etwa zehnjährige braune Stute und ein einjähriges Haflinger-Pony. Das war zu der Stute gestellt worden, damit diese sich nicht so einsam fühlte. Anne hatte mit dem Besitzer der Pferde vereinbart, dass sie die Pferdeäpfel aufsammeln und am Rande der Wiese zum Kompostieren ablegen würde. Dafür dürfte sie dann gelegentlich die Stute reiten.
Annes Freundin hieß Julia, sie ging mit ihr in dieselbe Klasse. Julia wohnte in einem Vorort und musste nach der Schule mit dem Bus nach Hause fahren. Weil sie dort aber tagsüber niemand antreffen würde – ihre Mutter war berufstätig, und ihr Vater hatte sich noch vor ihrer Geburt auf Nimmerwiedersehen verabschiedet –, kam sie an den meisten Tagen erst einmal mit zu Anne. Julia war eine gute Schülerin, und gemeinsam gingen Anne und Julia die Hausaufgaben so flink von der Hand, dass fast immer noch Zeit für eine gemeinsame Unternehmung blieb. Sie gingen schwimmen oder bummeln oder streiften unten am Fluss entlang.
Im Parterre wohnten Herr und Frau Clausen. Herr Clausen arbeitete in dem nahen Betriebshof der Stadt und hatte dafür zu sorgen, dass die Fahrzeuge und Geräte zum Reinigen und Schneefegen der Straßen immer in Ordnung waren. Und wenn er sah, dass die alte Dorfstraße nicht ordentlich gefegt oder im Winter nicht als Erste mit dem Schneepflug freigeräumt worden war, genügte ein Wort von ihm, und ›Seine Jungs‹ in den orangenen Overalls beeilten sich, das Versäumte nachzuholen. Herr Clausen war ein Hüne von einem Mann und wurde in der Nachbarschaft wegen seiner nach allen Richtungen ausladenden Figur, aber auch wegen seines kleinen Hündchens, das er morgens und abends spazieren führte, heimlich nur Obelix genannt. Er war eine Seele von Mensch. Wann immer eine Tür klemmte oder ein Zaunpfahl wackelte oder ein Auto nicht anspringen wollte, Obelix richtete es wieder: ein paar schnelle Griffe seiner geschickten Schaufelhände, und das Problem war gelöst.
Frau Clausen war zwar einen Kopf kleiner als ihr Mann, hatte aber ebenfalls eine recht stattliche Figur. Obwohl sie schon vor fast dreißig Jahren ihrem Mann in dessen norddeutsche Heimat gefolgt war, hatte sie immer noch einen breiten schwäbischen Akzent und war stets ein wenig verwundert, wenn sie von den Leuten nicht immer verstanden wurde.
Die unmittelbaren Nachbarn, mit denen Annes Familie Tür an Tür wohnte, waren die Sommers. Von Herrn Sommer wusste Anne nur, dass er Physiker gewesen war, ohne dass sie sich darunter etwas Bestimmtes hätte vorstellen können. In letzter Zeit begegnete sie ihm häufiger. Er lebte jetzt nämlich im Ruhestand und versorgte den Haushalt. Frau Sommer war Lehrerin für Deutsch und Biologie.
Ganz in der Nähe gab es ein ausgedehntes Kleingartengelände, und da Frau Sommer von Kind auf an einen Garten gewöhnt war, hatte sie dort eine kleine Parzelle gepachtet. Die war vom Vorpächter ziemlich vernachlässigt worden, sodass es anfangs mächtig viel zu tun gegeben hatte. Sie liebte die Gartenarbeit, und wenn es in der Schule einmal Ärger gab, zog sie sich meistens für eine Weile in den Garten zurück. Je nach Schwere der Gemütswallung begnügte sie sich dann mit Unkrautrupfen oder grub wild entschlossen eine Ecke des Gartens um. »Stress abdampfen« nannte sie das.
Herr Sommer hatte sich in einer Gartenecke ein kleines Kräuterbeet angelegt, in dem eine üppig wuchernde Salbeistaude und eine prächtige Zitronenmelisse sein ganzer Stolz waren. Ansonsten war er nur eine Art Hilfsgärtner: Er durfte bei der Apfelernte helfen, den Unkrautkorb zum Komposthaufen bringen oder für den Knöterich, den seine Frau entlang einer Mauer zum Nachbargrundstück hin gepflanzt hatte, eine Kletterhilfe anfertigen.
Besonders gern zog er sich in ein Gartenhäuschen zurück. Dort hatte er knapp unter der Decke eine etwa armlange Eisenstange angebracht. Sie war waagerecht an einem dünnen Faden aufgehängt und konnte sich so nach allen Seiten drehen. Die Stange hatte er vorher mit einem starken Magneten berührt, sodass sie ebenfalls zu einem, wenn auch schwachen Magneten geworden war. Die ganze Anordnung war also, wenn man so wollte, ein etwas überdimensionierter Kompass, und weil sich Kompassnadeln nach Norden einzustellen pflegen, war das auch bei dieser magnetisierten Eisenstange so.
Wenn Herr Sommer hier in das Häuschen kam, hatte er sich stets ein Buch mitgebracht, und jedes Mal, bevor er mit dem Lesen begann, zelebrierte er ein kleines Ritual. Dazu gab er ganz vorsichtig einem der beiden Enden der Eisenstange mit dem Finger einen kleinen horizontalen Stoß. Sie drehte sich daraufhin aus ihrer Nordrichtung, in der sie seit der letzten Lesestunde verharrt hatte, heraus, verlangsamte allmählich ihre Bewegung, kam schließlich ganz zum Stillstand, um darauf sofort wieder mit der Rückbewegung zu beginnen. Zunächst war die Bewegung ganz langsam, kaum merklich, doch dann strebte die Stange in immer schnellerer Fahrt der ursprünglichen Ruhelage entgegen. Der Schwung dieser Bewegung trug sie über die Nordrichtung hinaus zur anderen Seite hin. Dort erlahmte die Bewegung der Stange allmählich, sie kehrte um, wurde wieder schneller, schoss wieder über das Ziel hinaus, und alles begann von vorne. Herr Sommer liebte es, diesem Schauspiel zuzuschauen. Obwohl er es schon Dutzende von Malen beobachtet hatte, spürte er immer wieder den leisen Zweifel in sich hochsteigen, ob dieser kleine Eisenknecht seine Lektion noch beherrschte und auch willens war zu tun, was man von ihm erwartete. Oder hatte er vielleicht gerade heute die Nordrichtung vergessen oder das Gespür für das Erdmagnetfeld verloren, sodass er die durch den Stoß erzwungene Anfangsbewegung einfach fortsetzte, ohne umzukehren? Solches geschah aber nie; auf ihn war Verlass. Zumindest hier war die Welt noch in Ordnung. Solchermaßen beruhigt, konnte sich Herr Sommer entspannt in einem Sessel seiner Lektüre zuwenden. Wenn dann nach einer Stunde die Pendelbewegungen einschliefen, war es allmählich Zeit, sich an seinen Posten als Hilfsgärtner zu erinnern. Ein Ast des Apfelbaums trug wieder so viele Früchte, dass er fast den Boden berührte und mit einem Holzpfahl unterstützt werden musste.
Hokus-Pokus
Es war kurz vor den Sommerferien, als Frau Sommer Anne im Treppenhaus sah, wie sie vor ihr die Stiege zur ersten Etage hinaufschlich.
»Was ist los mit dir, Anne? Du siehst heute gar nicht so fröhlich wie sonst aus!«
»Ach, eigentlich ist gar nichts. Nur … also ich hab in zwei Wochen Geburtstag!«
»Das ist doch aber kein Grund zum Traurigsein«, meinte Frau Sommer.
»Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß nicht so recht, was ich mit meinen Freunden, die ich einlade, machen soll. Früher war das kein Problem. Da haben wir Spiele gespielt. Aber das finden wir jetzt nicht mehr so toll. Neulich beim Geburtstag von Julia, das ist meine Freundin, war es so was von öde.« Anne starrte missmutig auf die Treppenstufen. »Ihre Kinder waren doch auch einmal in meinem Alter. Wie haben die denn ihre Geburtstage gefeiert?«
»Ja, da muss ich jetzt direkt nachdenken. Das ist ja schon eine kleine Ewigkeit her. Eigentlich war es auch mehr mein Mann, der sich da was ausgedacht hat. Jetzt erinnere ich mich: Manchmal hat er sie mit kleinen Zaubertricks unterhalten. Das hat eigentlich immer allen großen Spaß gemacht. Wär das nicht auch was für euch?«
»Ich weiß nicht. Eigentlich hab ich gar keine genauen Vorstellungen, ich weiß nur, dass es nicht langweilig werden darf. – Ja, so ein Zauberer … kennen Sie denn jemanden, den ich bezahlen kann?«
Frau Sommer schmunzelte. »Mein Mann würde es sicher umsonst machen.«
»Ehrlich? Aber er kennt mich ja kaum. Ich habe doch in meinem ganzen Leben höchstens drei Sätze mit ihm gesprochen. Und hätte er überhaupt Lust dazu?«
»Das lass nur meine Sorge sein. Morgen sage ich dir Bescheid, ob er angebissen hat.«
Als Frau Sommer am nächsten Tag Anne zwischen Tür und Angel begegnete, war ihre Botschaft ebenso kurz wie eindeutig: »Er macht’s!«
*
Die Tage bis zum Geburtstag waren für Herrn Sommer mit der Vorbereitung seines Auftritts ausgefüllt wie lange nicht mehr. So vieles musste ausgedacht, vorbereitet und geübt werden. Endlich klingelte es und Anne und ihre Freunde wirbelten herein. »Also das sind Julia, Lisa, Christoph und Felix. Alle aus meiner Klasse. Und das ist Frau Sommer und das Herr...