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Marktschreier der Wissenschaft – Werden Rotweintrinker älter?
»Wenn Sie hart und intelligent arbeiten, sollte es Ihnen möglich sein, festzustellen, wenn ein Mensch Mist erzählt. Dies ist meines Erachtens die Hauptaufgabe der Bildung.«
John Smith (1863–1939), britischer Philosoph, zu seinen Studenten
Während die einen darüber debattieren, ob es überhaupt so etwas wie eine Wahrheit gibt, beginnen andere nach jeder kleinen Studie eine neue Diät. Das Halbwissen über den Gesundheitswert von Rotwein offenbart die menschlichen Schwächen bei Experten und Laien gleichermaßen.
»Ärzte weltweit glauben, Rotwein reduziert das Risiko von Herzkrankheiten. Dies wurde jetzt bestätigt.« So fasste Morley Safer, der Moderator der einflussreichen Sendung »60 Minutes« des US-amerikanischen Nachrichtensenders CBS News, 1991 die Lage zusammen. Bis heute gilt: Rotwein ist gesund. Wer kennt nicht eine Großmutter oder einen Schwiegervater, der sich ein Gläschen pro Tag gönnt – nur fürs Herz selbstverständlich, auf Empfehlung des Arztes natürlich.
Die Werbung hat dies dankend aufgenommen. »Heute belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien, dass mäßiger Weingenuss die Gesundheit fördern kann (Herz-Kreislauf-Krankheiten, Cholesterin, Krebsrisiko)«, schreibt ein Schweizer Weinhändler. Und der Biowein hat selbstverständlich die noch besseren Inhaltsstoffe und ist demnach noch gesünder.
Seien wir ganz ehrlich. Es ist uns ziemlich egal, ob der Rotwein nun gut fürs Herz ist oder nicht. Trotzdem nagt, tief in unserem Unterbewusstsein, das Wissen von den negativen Effekten des Alkohols an uns. Die Erinnerungen an den letzten Kater sind nicht verschwunden. Die staatliche Alkohol-Kampagne in der Schweiz »Schau zu dir und nicht zu tief ins Glas« hinterlässt trotz unserer Abgeklärtheit ein schlechtes Gewissen. Denn jeder kennt irgendwo einen Alkoholiker. So wie der möchte man auf keinen Fall enden.
Kaninchen oder Ente? Für den Soziologen Thomas Kuhn ist auch die wissenschaftliche Wahrheit Ansichtssache.
Quelle: Unbekannter Zeichner, erste bekannte Version: Zeitschrift »Fliegende Blätter« vom 23. Oktober 1892 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kaninchen_und_Ente.png.
Da kommt es uns gelegen, wenn irgendein Cousin irgendwo gelesen hat, dass Rotwein gesund ist. Vielleicht sind wir sogar selbst einmal über einen Artikel zum Rotwein oder zu einem seiner Inhaltsstoffe gestolpert. Die Schlagzeilen sagen zum Beispiel, Rotwein sei »gut fürs Hirn«, »entzündungshemmend« und sogar ein »Krebskiller«. Wenn die Studie oder Kampagne gegen den Alkoholkonsum sich dann doch hartnäckig im Gedächtnis festkrallt, dann bringen wir den Einwand: »Ja, ja, mal ist es gesund und dann wieder nicht. Die Wissenschaftler wechseln ihre Meinung so wie unsereins die Unterhosen.« Dann bringen wir den weisen Spruch: »Ich traue keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe.« Ja, Rotwein ist gut fürs Gemüt, aber schlecht fürs Denken.
Die Suche nach der Wahrheit steht im Zentrum jeder naturwissenschaftlichen Tätigkeit. Ohne den Glauben daran, dass wir uns der Wahrheit zumindest annähern können, wäre jedes Experiment sinnlos. Die Suche nach dieser Wahrheit, die Neugier, ist zutiefst menschlich. Wem die Wahrheit vorenthalten wird oder wem Unwahrheit erzählt wird, der fühlt sich betrogen. Wenig empört uns so sehr wie eine Lüge.
Obwohl die Wahrheit den Menschen scheinbar so wichtig ist, spielt sie doch im Alltag oft eine untergeordnete Rolle. Einer spannend erzählten Geschichte glauben wir mehr als genauen Details, die langweilig zusammengehängt werden. Widerspricht eine neue Information unserem Weltbild – sei es Selbstregulierungskraft des freien Marktes oder im Gegenteil die grundsätzliche Bösartigkeit von Großunternehmen – verwerfen wir sie. Vorurteile wirft man nicht gerne über Bord. Schon gar nicht wegen ein paar störenden Fakten.
Schlussendlich haben wir schlicht zu wenig Zeit für die Wahrheit, und wir sind dazu gezwungen, die unvermeidbaren Lücken zu füllen. Der Philosoph Harry Frankfurt definierte eine Kategorie zwischen Wahrheit und Lüge: Bullshit – prätentiöser Unsinn. »Dem Bullshitter ist es egal, ob er die Realität korrekt beschreibt. Er wählt die Dinge aus, erfindet sie, um seinen eigenen Interessen zu dienen«, schrieb Frankfurt 1986. Das ist viel einfacher und oft praktischer als eine Lüge, so Frankfurt: »Wir können unmöglich lügen, wenn wir nicht davon überzeugt sind, die Wahrheit zu kennen. Bullshit zu produzieren, braucht diese Überzeugung nicht.«
Für Frankfurt ist unsere Kultur voller Bullshit. Jeder weiß das und trägt dazu bei. Es kann eine Folge von Schludrigkeit sein oder, wie zum Beispiel in der Werbung, gezielt passieren. Bullshit ist unvermeidbar, wenn man über etwas reden muss, wovon man keine Ahnung hat, was in einer Demokratie häufig vorkommt.
Die Diskussion über den gesundheitlichen Nutzen des Rotweins als Abendunterhaltung ist ein Paradebeispiel für Bullshit. Im Fokus steht nicht die Wahrheit, sondern die Geselligkeit. Diese Prioritätensetzung bei dieser Art Wissen hat auf unser Leben wenig reale Konsequenzen. Bei anderen Themen, die in diesem Buch präsentiert werden, zum Beispiel bei AIDS oder beim Klimawandel, kann das Desinteresse an der Wahrheit gravierendere Folgen haben. Dummerweise ist es gar nicht so einfach, Wahrheit von Bullshit zu unterscheiden, wie dieses Kapitel zeigen wird.
Französisches Paradox befeuert Spekulationen
Einer nüchternen Bewertung des Gesundheitswertes von Rotwein steht schon seine lange Geschichte im Wege. Wahrscheinlich wurden Weinreben zum ersten Mal im antiken Persien gekeltert. Die Rauschwirkung brachte die Menschen den Göttern näher und stand folglich durch die Jahrhunderte im Zentrum vieler religiöser Rituale. Mit Dionysos und Bacchus gab es sogar Spezialisten für Weinfragen in der Götterwelt. Im Christentum steht der Wein in der Kirche für das Blut Christi.
Rotwein ist Kultur. Er wird von Kennern degustiert, von Sammlern sorgfältig gelagert und nach strengen Ritualen serviert. Bis heute trinkt der Pöbel Bier; Leute mit Stil trinken Rotwein. Dass im Zentrum eigentlich die profane Droge Alkohol steht, wird geflissentlich ausgeblendet. Obwohl Alkohol das Schmiermittel der Wahl für geselliges Beisammensein ist, finden in der politischen Arena wüste Debatten um Jugendschutz, das Verursacherprinzip im Gesundheitswesen und die Gerechtigkeit von Leberspenden für Alkoholiker statt.
Der medizinische Aspekt von Wein geht mindestens bis auf den griechischen Arzt Hippokrates von Kos zurück. Der Urvater aller Ärzte empfahl den Wein unter anderem gegen Durchfall, schwere Geburten und Lethargie. Doch der Nutzen des Weines muss nicht so weit hergeholt werden. Über lange Zeit war der Genuss von Wein wesentlich sicherer als der von Wasser aus dem nächsten Brunnen. Alkohol tötet die meisten Mikroorganismen.
In den 1920er-Jahren analysierte der US-amerikanische Biologe Raymond Pearl Versicherungsdaten von Arbeitern in Baltimore und erkannte, dass moderater Alkoholkonsum mit einer reduzierten Zahl Herzinfarkte einhergeht. Über fünfzig Jahre wurde diesem Befund nicht viel Bedeutung beigemessen, bis in den 1970er-Jahren im großen Stil damit begonnen wurde, medizinische Fragen mit systematischen Untersuchungen mit großen Patientenzahlen zu beantworten.
So begann man zum Beispiel die Zahlen zu den Todesursachen mit den Zahlen zur Ernährung in verschiedenen Ländern zu vergleichen. Dabei stellten die Autoren einer 1979 in der medizinische Fachzeitschrift »The Lancet« publizierten Studie fest, wie in den reichen (wohlgenährten) Ländern die Zahl der Toten durch Herzinfarkte desto höher war, je fettreicher die Ernährung. Doch dabei stieß man auf einen wichtigen Ausreißer: Frankreich. Dort wird viel Fett gegessen und trotzdem bleibt die Herzinfarktrate vergleichsweise tief.
Und sofort stürzten sich die Forscher auf dieses französische Paradox. Eifrig wurde nach Gründen gesucht, die diesen Unterschied erklären können. In der Lancet-Studie zeigte sich auch, dass die Herzinfarktrate abnahm, je mehr Wein konsumiert wurde. Besonders für französische Forscher war somit klar, dass im Wein ein Schutzfaktor enthalten sein muss.
Das war der Beginn eines Hypes, der bis heute anhält. Besonders in der US-amerikanischen Öffentlichkeit stieß das französische Paradox auf ein großes Interesse. Aber nicht nur dort versuchten die Menschen verzweifelt, ihre Diät weniger fettreich zu gestalten und schielten dabei neidisch auf die Franzosen, die sich nicht um die Ernährungs-Empfehlungen scherten, ohne dabei einen Herzinfarkt zu erleiden. Und dann sind die Französinnen auch noch so schlank! Nicht nur der Wein wurde untersucht, sondern auch andere Lebensmittel wie Käse, der besser sein soll als die Milch, oder die mediterrane Diät, die reich an Gemüse, Geflügel und Fisch ist.
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