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E-Book

Gebrauchsanweisung für Wien

2. aktualisierte Auflage 2019

AutorMonika Czernin
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492953047
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Eine Melange trinken, wo Joseph Roth den »Radetzkymarsch« verfasste; sich im Dreivierteltakt um die eigene Achse drehen, wo die bessere Gesellschaft rauschende Bälle feiert; oder sich die Nacht um die Ohren schlagen, wo die besten DJs den Ton angeben: Das ist Wien, Weltstadt mit imperialer Vergangenheit und trendiger Gegenwart. Monika Czernin weiß, was den Wiener heute umtreibt, warum Oberkellner respektierte Persönlichkeiten und Obdachlose standesbewusst sind. Sie führt durch enge Gassen mit Kopfsteinpflaster und an den Donaukanal, mit Sigmund Freud um die Ringstraße und mit E-Rollern durch die brandneue Aspern-City, Leuchtturmprojekt der Wiener Stadtentwicklung. Sie kennt das jüdische wie das »rote« Wien und erklärt, was den »Schmäh« ausmacht, warum man »Sackerl« und nicht Plastiktüte sagen sollte und wieso Wien derzeit mehr denn je einen Besuch wert ist.

Monika Czernin, geboren 1965, ist freie Journalistin, Filmemacherin und erfolgreiche Buchautorin. Zusammen mit Remo H. Largo schrieb sie »Glückliche Scheidungskinder. Trennungen und wie Kinder damit fertig werden« und »Jugendjahre. Kinder durch die Pubertät begleiten«. Zuletzt erschienen ihr Buch »Der Kaiser reist inkognito« und die »Gebrauchsanweisung für Tansania«. Monika Czernin lebt mit ihrer Tochter am Starnberger See.

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Leseprobe

Warum ausgerechnet Wien?


Wenn ich an Wien denke, überkommen mich neuerdings fast ausschließlich Glücksgefühle, nicht mehr diese urwienerische Melange des Hin-und-hergerissen-Seins zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit, zwischen Bleibenwollen oder doch lieber Auswandern. Denn Wien hat sich unangefochten zu einer der coolsten Metropolen weltweit entwickelt. Besonders in Deutschland ist man verwundert: ein zweites Berlin, vielleicht sogar noch besser! Umfassende Lebensqualität. Eine sagenhaft gute Lokalszene. Das Wiener Pop-Musik-Wunder. Woran liegt es, dass Wien kurzerhand alle überholt hat, dass es lebenswerter als München, genauso hipp wie Berlin, fast so reich wie Hamburg, kulturell mindestens so bedeutend wie Paris und viel lebensfreundlicher als London erscheint und regelmäßig Bestplätze auf allen Städteindexlisten erreicht – 2015 Platz 3 des Innovation Cities Index, nach London und gleichauf mit San Francisco und Boston! Was ist da geschehen?

Der Wandel, der die Stadt an der Donau seit einiger Zeit erfasst hat und sie so nachhaltig verändert, lässt sich in einer einzigen demografischen Tatsache zusammenfassen, die – in Wien – einem Paradigmenwechsel gleichkommt: Wien wächst wieder, die Stadt gehört sogar zu den am schnellsten wachsenden Städten Europas. Berlin hat sie diesbezüglich längst überholt, vor ihr liege nur noch London, heißt es. Was daran so besonders sei, und warum sich aus derlei Zahlen gleich ein Paradigmenwechsel ergebe? Nun, ganz knapp gesagt: Wien findet durch das Wachstum zu sich selbst. Was damit gemeint ist und wie das das Geheimnis dieser in die Mitte Europas gerückten Stadt beeinflusst, das werde ich Ihnen zu zeigen versuchen.

Ein Reinkarnationssturzflug in die Stadt


»I lass mi verbrennen, da fliag i no amal als Rauch über Wien. Die Ehrenrunde is des für an ewigen Verlierer, die hab i ma wirklich verdient.« So beantwortete in den Achtzigerjahren der typische Wiener Melancholiker am Zentralfriedhof die Fragen des Multimediakünstlers André Heller. Heute würde der damalige Friedhofsbesucher, statt als Rauch über Wien nur eine Ehrenrunde zu drehen, vor lauter Staunen zu einem Reinkarnationssturzflug in seine Stadt ansetzen. Und er würde sich für sein Leben einen »Wiener Schluss« ausdenken, so wie einst Kaiser Joseph II., um seine Untertanen nicht zu deprimieren, anordnen ließ, dass die Protagonisten solch dramatischer Theaterstücke wie Romeo und Julia nicht sterben dürfen. Und dann würde sich der zu Rauch gewordene Verlierer zu einem begeisterten Fremdenführer wandeln und uns auf seinem Flug zurück in die Stadt mitnehmen. Ganz weit im Osten, in Transdanubien, würde er uns die neue Aspern City zeigen, innovativer Leuchtturm der Wiener Stadtentwicklungsprojekte. Dann über die glitzernden Hochhaustürme auf der Donau-Platte und über die UNO-City gleiten. Über den neofuturistischen Bibliotheksbau des neuen WU-Campus von Zaha Hadid in ungläubiges Staunen geraten – »So was hat’s in Wien no nia geben« –, alsbald südlich der Innenstadt über dem neuen Hauptbahnhof und den Baukränen des Sonnwendviertels kreisen, um schließlich neben der Marx Halle im äußeren 3. Bezirk zu landen. Im 19. Jahrhundert gehörte die erste Schmiedeeisenkonstruktion der Stadt zum riesigen städtischen Schlachthofviertel, jetzt wirbt das dort neu angesiedelte Kreativquartier mit seinem Mix aus Forschungs-, Medien- und Biotech-Start-ups mit dem Slogan »Hier passiert Zukunft«.

Der Verlierer reibt sich die Augen. Hochhäuser, Start-up-Firmen, Stadtentwicklungsflächen wie in China. All das hat es zu seiner Zeit, in den grauen Achtzigerjahren, nun wirklich nicht gegeben (wobei zu diskutieren bleibt, wann die Stadt aufgehört hat, grau zu sein). Dass er ausgerechnet in St. Marx, vor einem Sakralbau der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, gelandet ist, hat indes etwas mit dem Paradigmenwechsel zu tun. Denn das, was heute für Wien gilt, galt auch damals. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs die damalige Kaiserstadt durch den Bau der Ringstraße sprunghaft an, aus allen Ländern der k.u.k. Monarchie strömten Bauarbeiter, Unternehmer, aber auch Bankiers und Großhändler nach Wien, das sich bis zum Ersten Weltkrieg zu einer der wohlhabendsten, modernsten und kulturell bedeutendsten Metropolen der Welt entwickelte. Eine zwei Millionen Einwohner zählende Stadt mit einer erklecklichen Anzahl an Millionären, bedeutenden Wissenschaftlern und den weltbesten Literaten, Künstlern und Komponisten. Die Bedeutung des Fin de Siècle Wiens war so überwältigend, dass selbst nach dem verlorenen Krieg, dem Zerbrechen des Vielvölkerstaates, dem kontinuierlichen Verlust an Stadtbevölkerung der Glanz der alten Kaiserstadt nachhallte. »Bis 1938 fuhr man aus Prag und Brünn und Budapest noch immer zu den Wiener Theaterpremieren, lagen in den Kaffeehäusern von Agram, Krakau und Czernowitz noch immer die Wiener Zeitungen aus, war Wien sozusagen eine in Liquidation befindliche Zentrale«, schrieb Friedrich Torberg 1968. Erst seit 1945, so der Autor der urwienerischen Tante Jolesch, sei der Niedergang dann perfekt gewesen. Wien, geschrumpft und seiner geistigen Wurzeln beraubt, war endgültig zu »einer Filiale seiner selbst« geworden. Und trotz Wiederaufbau und Wirtschaftswunderjahren blieb es bis in die Achtzigerjahre grau und traumatisiert, die licht- und fröhlichkeitsscheue Hauptstadt des kleinen Mannes.

Der Tiefpunkt des Bevölkerungsschwunds war erst 1989 (1,48 Mio.) erreicht, über eine halbe Million Einwohner hatte die Stadt seit ihrer Blüte um 1910 eingebüßt. Bieder geworden trotz feudaler Titelsucht, selbstmordgefährdet und abwanderungsselig trotz der internationalen Kunsterfolge der Wiener Aktionisten oder Sängern wie Falco, blieben der Stadt bloß ihre Walzerseligkeit, ein viel gepflegter und kunstfertiger Sinn fürs Morbide, die verstaubte Hochkultur, Lipizzaner-Figürchen und tröstende Mehlspeissortiments in traditionsreichen Kaffeehäusern, die dennoch der Reihe nach schließen mussten.

1976 begann mit der Besetzung des Jugendkulturzentrums Arena – eine verspätete Mischung aus Mai 1968 und Woodstock – zwar Wiens Gegenkulturbewegung, aber grundsätzlich änderte sich die Stadt erst 1989. Damals trat die östlichste Hauptstadt der westlichen Welt aus dem Windschatten des Eisernen Vorhangs heraus und wurde zum geistigen und ökonomischen Mittelpunkt der sich verändernden Länder Mittel- und Osteuropas. Dann kam 1995 der EU-Beitritt Österreichs und mit ihm die deutschen Studenten, gefolgt von den Balkankriegen, in denen sich flüchtende Serben, Kroaten, Bosnier und Kosovo-Albaner in die ehemalige k.u.k. Hauptstadt aufmachten und wie selbstverständlich an die alten Migrationsbewegungen anknüpften, die schon im 19. Jahrhundert zum Bevölkerungswachstum Wiens geführt hatten. Nicht zu vergessen natürlich die Türken, die, in den Sechzigerjahren wie in Deutschland als Gastarbeiter angeworben, längst in dritter Generation hier leben und weitere Türken nach sich zogen. Heute wächst Wien jährlich um die Größe einer Kleinstadt, 2030 soll die magische Grenze von zwei Millionen wieder überschritten sein, das Trauma von einst wird sich dann womöglich gänzlich in der Wiener Luft aufgelöst haben. In den Straßen und Cafés, den Künstlerateliers und Co-Working-Spaces der Start-up-Szene hört man schon jetzt die Sprachen des Vielvölkerstaates wieder, überwölbt freilich von Englisch, der Lingua franca des digitalen Zeitalters.

Wien findet im Wachstum zu sich selbst


Wird durch den Paradigmenwechsel Wien nun zu einer normalen Großstadt, zu einer durch globale Wirtschafts- und Stadtentwicklungstrends zur Unkenntlichkeit normalisierten Smart City? So modern Wien mittlerweile auch sein mag, so hipp, trendbewusst und international, die Angst ist unberechtigt, vielmehr verhält es sich genau umgekehrt. Wien findet, wie schon behauptet, im Wachstum zu sich selbst. Denn während die Leuchttürme der Wiener Kultur- und Lebensart in der Zeit des Niedergangs fast verschwunden waren – das echte Wiener Kaffeehaus, das traditionsreiche Beisl, die Wienerlied-Sänger –, gibt es heute alle diese wienerischen Einrichtungen zuhauf, ob traditionell oder mit neuen Einflüssen amalgamiert, in jedem Fall lebensrettend wie eh und je. Und wie das liberale Gründerzeit-Wien mit seinen himmelschreienden sozialen Verwerfungen in den Zwanzigerjahren sozialdemokratisch domestiziert wurde, findet die Stadtentwicklung auch heute im »sozialen Mantra« wieder einen wichtigen Teil ihrer Identität.

Wien löst einfach reflexartig Sehnsucht und Neugier aus. Bei aller Sehnsucht nach neuen Lokalen, schräger Musik und neuen Lifestyle-Trends überwiegt jedoch immer wieder das Interesse an der vielschichtigen Vergangenheit dieser einzigartigen Metropole; an Gesichtern, die aus dieser Stadt vertrieben wurden; und an Menschen, die ihr persönliches Wiengefühl in die Welt hinausgetragen haben. Das Verlangen nach versäumten Liebeleien in den Weinbergen von Grinzing, nach einem vollendeten Konzerterlebnis und dem hinterhältigen Charme der Wiener und ihren Klischees. Selbst die Klischees sind hier theatralischer als anderswo, und hinter ihnen findet man Bilder von eigenwilliger Schönheit. Lipizzaner, die durch die Herrengasse galoppieren, ein Pärchen, das zu den Klängen aus dem Ballsaal des Palais Auersperg auf der Zweierlinie Walzer tanzt, ein Kuss am toten, dem höchsten Punkt des Riesenrads, eine Fiakerdemonstration um die Ringstraße.

Wien zieht einen so in seine widersprüchliche, mit Geschichte...

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