Zügig bleibt die Stadt zurück und anstelle der Häusersäulen erstrecken sich Wiesen und Äcker, Obstfelder und Mischwälder über sanfte Hügel. Am Zugfenster ziehen schmucke Dörfer mit alten Höfen und neuen Betonbahnhöfen vorbei, dann wieder stoisch vor sich hin käuende Kühe, tatsächlich fast lila, wie in einer Werbung für Milchschokolade. Die Bahntrasse durchschneidet, als wäre es nie anders gewesen, einen Seerosenteich unter leicht bedecktem Himmel, in der Ferne überragen die Zacken hoher Berge den Morgennebel.
Südwestlich von Zürich liegt Affoltern am Albis, ein kleines, unspektakuläres Städtchen, in einer halben Stunde vom Hauptbahnhof aus mit der S-Bahn zu erreichen. Zum Spital, etwas bergan gelegen, gehe ich eine Viertelstunde zu Fuß. Es ist ein normales, schulmedizinisches Krankenhaus für die Grundversorgung von mehreren zehntausend Menschen in der Region Knonauer Amt (im Volksmund auch »Säuliamt« genannt). Zwischen Geburt und Tod wird ein weites Diagnosespektrum behandelt: Menschen mit allerlei Wunden, Rheuma, Rückenleiden, Darmerkrankungen, Herzleiden, Krebs, Hirnschlag, aber auch Menschen in Lebenskrisen, etwa im Falle von Panikattacken, Unfallverarbeitung, Depressionen, Suizidgefahr, psychotischen Episoden. Behandelt wird im so genannten Akutspital in den Abteilungen Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie und Geburtshilfe. Der Inneren Medizin zugeordnet sind (zu dieser Zeit) ein Pflegeheim, ein Altersheim, ein geriatrisches und ein psychiatrisches Tagesheim. Eine besondere Errungenschaft ist die Abteilung für Psychotherapie, in der mehrere Kunst- und Ausdruckstherapeuten arbeiten. Nach jahrelangem Ringen entsteht außerdem eine Palliativstation, in der Menschen bis in den Tod begleitet werden.
Wie kam ich dazu, als Philosoph in diesem Krankenhaus zu arbeiten? Den Anfang machte ein Essay, »Vom Sinn der Schmerzen«, den ich 1995 in der Basler Zeitung publizierte.[1] Ein Arzt in Affoltern am Albis las ihn und fand ihn interessant, der Chefarzt der Inneren Medizin, Dr. Christian Hess, nahm Kontakt auf und lud mich ein, die Thesen im Rahmen der hauseigenen Weiterbildung vorzustellen, nebst einem gemeinsamen »Nachtessen«. Der Vortrag fand Anklang und zog die Einladung nach sich, für einige Zeit im Krankenhaus zu arbeiten und die Ideen zu einer neuen Lebenskunst – die den weiteren Rahmen zum erwähnten Essay bildeten – in der Praxis zu erproben. Die Praxis ist für so manchen Philosophen freilich ein Ärgernis. Im praktischen Leben können theoretische Überlegungen scheitern, denn das Leben hält sich nicht immer an die Begriffe, mit denen es zu fassen versucht wird. Philosophen lasten die Schuld dafür nicht so sehr den Begriffen an, eher dem Leben, das sich nicht fügen will. Umso schlimmer für das Leben, das ohnehin die Gefahr mit sich bringt, die Distanz zur Unmittelbarkeit zu verlieren, die für jedes Denken wesentlich ist.
Die größten Zweifel, ob die Philosophie dort hilfreich sein kann, wo es doch oft in einem sehr direkten Sinne um Leben und Tod geht, hegte ich selbst. Was soll ein Philosoph im Krankenhaus? Das war zuallererst meine Frage. Da ich mich aber um die Neubegründung einer Philosophie der Lebenskunst bemühte, konnte ich mich nicht gut vor der Erprobung in der Praxis drücken, denn wozu Lebenskunst, wenn sie im wirklichen Leben nichts taugt? Lebenskunst ist nicht in erster Linie für das gelingende Leben da, sie wird vielmehr vor allem dann gebraucht, wenn das Gelingen ausbleibt und Lebensfragen aufbrechen. Das aber geschieht verschärft dort, wo Menschen das Leben nicht mehr verstehen, da sie mit Lebenskrisen und Krankheiten konfrontiert sind. Also sagte ich zu und nahm die Arbeit auf, erstmals im September 1998, dann jedes Jahr wieder für die von Anfang an so genannten Philosophiewochen, während derer ich auf dem Klinikgelände wohnte. Ich bat lediglich um eine zeitliche Begrenzung des Engagements auf zehn Jahre: Der überschaubare Zeitraum, so hoffte ich, würde alle Beteiligten und mich selbst dazu motivieren, alles zu geben, mit der Aussicht, dann auch wieder etwas Anderes machen zu können. So kam es zum schwierigsten und zugleich lehrreichsten Projekt, auf das ich mich bis dahin eingelassen hatte.
Da ich durch nichts auf diese Tätigkeit vorbereitet war, wurde alles zum Experiment. Zwar hatte ich mir viele Gedanken zu den Bedingungen und Möglichkeiten des Lebens gemacht, doch was davon würde sich in der Praxis bewähren? Es bedurfte eines tastenden Vorgehens, um Schritt für Schritt ausfindig zu machen, was unter den gegebenen Umständen möglich ist. Zunächst war ungewiss, ob das Angebot überhaupt Anklang bei Patienten und Mitarbeitenden finden würde, sodann ungewiss, was daraus werden würde. Aber der Zuspruch war vom ersten Tag an groß und ließ auch nicht nach, als die Anfangsjahre vorbei waren, in denen das ungewöhnliche Projekt viel Aufmerksamkeit auf sich zog. Es musste etwas damit verbunden sein, das nicht nur mir, sondern auch Anderen viel bedeutete, jedenfalls stellte sich mir die anfängliche Frage nach ein paar Jahren genau andersherum: Wie kommen eigentlich all die vielen Krankenhäuser ohne Philosophen aus?
Was ist dran an der Philosophie, die doch niemanden behandeln, niemanden im engeren Sinne therapieren kann? Sie kann helfen, das Leben besser zu verstehen, indem sie der Besinnung Raum gibt, also der Frage nach Sinn, um allein oder gemeinsam mit Anderen nach Antworten zu suchen. Sie ist ein Innehalten und Nachdenken, um Probleme zu identifizieren und zu analysieren, sie mit handlichen Begriffen fassbarer zu machen und mögliche Lösungen zu erkunden. Dass es im Krankenhaus außer um Behandlung auch um Besinnung geht, liegt nahe, aber ich bemerkte es erst vor Ort: Viele Menschen, die darniederliegen, verspüren ein existenzielles Bedürfnis, über ihre Situation, ihre Krankheit, ihr Leben und die Welt, in der sie leben, nachzudenken. Die Schlüsse, zu denen sie kommen, sind von Bedeutung dafür, wie sie ihre Situation bewältigen können. Und auch diejenigen, die für sie sorgen, sei es im direkten Umgang mit ihnen oder im Hintergrund, werden von Fragen zu ihrer Arbeit und ihrem Leben umgetrieben. Die Antworten, die sie finden oder die offenbleiben, sind von Bedeutung dafür, wie die Institution »funktioniert«, denn die lebt von den Menschen, die in ihr arbeiten.
In früheren Büchern habe ich die Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, mit Anderen und der Welt insbesondere im vertrauten persönlichen Umfeld thematisiert.[2] Das vorliegende Buch widmet sich dem Leben und Arbeiten von Menschen außerhalb dieses Kokons. Auch wenn Lebenskunst als bewusste Lebensführung immer vom Ich ausgeht, kann sie nie beim Ich stehenbleiben, sonst wäre sie keine Kunst, sondern eine Dummheit. Das Ich ist verloren ohne Andere, die ihm zur Seite stehen, im engeren Umfeld wie auch außerhalb. Die Voraussetzung für den Beistand Anderer aber ist, dass es seinerseits Anderen beisteht und dies als Element seiner Lebenskunst begreift. Die Sorge für sich dient im Wesentlichen dazu, sich zur Sorge für Andere zu befähigen, aus bloßer Freude, aus Menschen- und Nächstenliebe oder eben in der Hoffnung, dass Andere sich zu gegebener Zeit um das Ich sorgen. Meist erst dann, wenn ein Ich die Sorge für Andere wahrnimmt, bemerkt es außerdem, wie sehr dies zu einer Erfüllung seines Lebens beiträgt, die es aus sich allein heraus kaum gewinnen kann.
Aus all diesen Gründen geht die Lebenskunst mit einer Ethik der Sorge einher, die außer der Selbstsorge eines Ich für sich auch die Sorge für Andere umfasst, um ihnen wiederum bei der Sorge für sich behilflich zu sein, und dies gerade dann, wenn ihr Leben schwierig wird. Die Ethik der Sorge macht andere Ethiken nicht überflüssig, die nach allgemein verbindlichen Werten und Prinzipien (Prinzipienethik) und nach gut begründeten Vorgehensweisen und Entscheidungen etwa in medizinischen Grenzfragen suchen (Angewandte Ethik). Aber jede Ethik ist letztlich auf die Haltung (das Ethos im Griechischen) und bewusste Lebensführung Einzelner angewiesen, die sich um ethische Fragen kümmern. Noch dazu ist die individuelle Ethik der Sorge die einzige, die auch Lebensfragen ernst nimmt und sie nicht als trivial abtut, also Fragen, die sich in Bezug auf kleine Alltagsdinge oder große Zusammenhänge des Lebens stellen, ohne dass es endgültige Antworten darauf geben könnte. Wo einst eine Religion mit heteronomer Sorge vorgeben konnte, letzte Antworten zu kennen, geht es in der philosophischen Lebenskunst um die Stärkung der autonomen Sorge Einzelner, um sie in die Lage zu versetzen, eigene Antworten zu finden, ausgehend von ihrem eigenen Interesse am Leben, ihren Erfahrungen und allem, was damit zusammenhängt. Mit dem Innehalten und Nachdenken, dem Philosophieren in diesem Sinne, beginnt die Suche nach provisorischen Antworten, die in der aktuellen Situation weiterhelfen und zugleich für andere Erfahrungen und Einsichten offenbleiben.
In einer Institution, die ganz auf die Sorge für Andere ausgerichtet ist, nehme ich selbst nun diese Ethik der Sorge wahr. Nach dem engeren Kreis des Umgangs mit sich und nahen Anderen ist dies der weitere Wirkungskreis der Lebenskunst: Vom individuellen zum institutionellen Rahmen. Fragen stellen sich: Was können Institutionen, auch Unternehmen, für die bewusste Lebensführung von Menschen...