2. Psychologie als Naturwissenschaft
Was Psychologen so tun
Nachvollziehbare Zahlen, Daten, Fakten – das alles ist den Psychologinnen und Psychologen des 21. Jahrhunderts besonders wichtig. Wenn Dinge nicht objektiv erforscht werden können, sind sie de facto nicht real – gar nicht da! Am objektiv nachvollziehbarsten ist, was man angreifen kann: Materie. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich die Forschungsschwerpunkte psychologischer Institute immer mehr in die Erforschung von biophysiologischen Strukturen, dem Zusammenwirken von Neuronen, Hormonen und Neurotransmittern verschieben. Hier kann das gemacht werden, was Naturwissenschaft auszeichnet: messen, wiegen, zerteilen. Das menschliche Verhalten wird nicht in seiner Gesamtheit verstanden, es wird in seine Einzelteile zerlegt. Es reicht nicht mehr, aus Erfahrung zu wissen, dass es Angst, Wut, Mitgefühl, Freude gibt. Was nicht neurobiologisch nachweisbar ist, existiert einfach nicht. Zwei Beispiele, was Psychologinnen und Psychologen in der Forschung so tun:
Beispiel 1: Die Erforschung des Selbstwertgefühls
Einen Prototyp für ein „naturwissenschaftliches Vorgehen“ lieferten Dimitrij Agroskin und Kolleginnen und Kollegen bei der Erforschung des Selbstwertgefühls.28 Dessen wissenschaftliche Definition aus dem Psychologielexikon („eine stationäre Gestimmtheit des Selbstseins, mit dem der Mensch sich als Träger eines Wertes erlebt“29) bringt nicht allzu viel Erkenntnisgewinn.
Dass ein hohes Selbstwertgefühl eine Reihe positiver Effekte auf die psychische Gesundheit hat, ist sowohl intuitiv nachvollziehbar als auch empirisch belegt. Menschen mit einem hohen Selbstwert sind weniger anfällig für Stress und können besser damit umgehen. Dafür ist ein niedriger Selbstwert umso schlimmer: Agroskin und Kolleginnen und Kollegen betonen schon in der Einleitung ihrer Studie, wie schlimm sich dies auswirkt: negativer Affekt („schlechte Stimmung“), erhöhte Vulnerabilität gegenüber psychosozialen Stressoren, Depression, Posttraumatische Belastungsstörung und Angst! Dies rechtfertigt jedenfalls, das Ganze einmal mittels Magnetresonanztomographie in den Gehirnen von 48 Psychologiestudierenden zu untersuchen. Und siehe da: Es zeigen sich positive Zusammenhänge zwischen dem Selbstwertgefühl der jungen Menschen und der anatomischen Struktur ihres Gehirns. Just in den Gehirnteilen, die für die Stressregulation wesentlich sind, hatte die Graue Substanz bei den Studierenden mit einem hohen Selbstwert mehr Volumen. Das Selbstwertgefühl, so schlussfolgern die Autorinnen und Autoren daraus, ist damit eine zentrale Coping-Ressource.
Nun gibt es Selbstwertgefühl nicht zu kaufen. Gott sei Dank haben die Autorinnen und Autoren eine Lösung parat: Die Graue Substanz lässt sich durch Trainingsmethoden in ihrem Volumen vergrößern – Therapiemethoden, die darauf abzielen, diese Hirnstruktur zu stärken, könnten hier also helfen … Dann legen sie noch nach: Für die Evaluierung einer allfälligen Psychotherapie wird die Verwendung des MRT empfohlen. Heißt: Nachdem Sie Ihrem Therapeuten oder Ihrer Therapeutin Ihre selbstwertfördernden Erfolgserlebnisse geschildert haben, wird im MRT nachgemessen, ob sich die Graue Substanz in Ihrem Kopf schon verändert hat. Für Außenstehende mag sich dieses Vorgehen etwas bizarr anhören, in der naturwissenschaftlichen Psychologie ist das Alltag: psychische Phänomene ausschließlich biologisch zu erklären. Das „Ausmaß“ des Selbstwertgefühls wird über bildgebende Verfahren erhoben – so als wäre es etwas Physisches.
Beispiel 2: Im Begriffsdschungel der Sozialpsychologie
In ihrem Aufsatz „The Density of the Big Two“30 [„Die Dichtheit der Großen Zwei“] beschäftigen sich Susanne Bruckmüller und Andrea Abele mit den sozialpsychologischen Begriffen Communion und Agency, was in etwa so viel bedeutet wie Gemeinschaftsgefühl (das z.B. einhergeht mit Einfühlsamkeit oder Freundlichsein) und Kompetenz (z.B. willensstark und durchsetzungsfähig zu sein). Beides sind Attribute bzw. Eigenschaften, die wir anderen Personen zuschreiben oder eben auch nicht. Die Autorinnen beschreiben nun zwei Studien, in denen – wie so oft – Psychologiestudierenden Listen mit Wörtern vorgelegt werden, deren inhaltliche Nähe zueinander bzw. Distanz voneinander sie auf einer numerischen Skala beurteilen sollten.
Aufwändige statistische Analysen sollen schließlich nachweisen, dass unser Gehirn mit Hilfe von Strukturen arbeitet, in denen dem „Abstand“ zwischen Wörtern wie „cool“ und „zynisch“ oder „hilfsbereit“ und „sympathisch“ eine besondere Bedeutung zukommt.
Schlussfolgerungen aus diesen Analysen sehen beispielsweise so aus: „Unmoralisch“ und „kompetent“ sind im Gehirn näher repräsentiert als „moralisch“ und „inkompetent“. Das kommt daher: Unmoralische kompetente Menschen sind für uns gefährlicher, weil sie uns mit miesen Tricks hinters Licht führen. Daher sind die beiden Begriffe enger miteinander „vernetzt“. Diese Begründung ist symptomatisch für Studien in diesem Bereich: evolutionär-biologistische Argumentationen für statistisch begründete „Gedächtnisstrukturen“. Die Art, wie wir „Informationen verarbeiten“, ist von der Evolution zu unserem Nutzen (vgl. Ökonomie!) entwickelt worden. Letztlich ist also auch hier wieder irgendeine „unsichtbare Hand“ am Werk, die uns zu unserem individuellen Vorteil steuert.
Die Studien von Susanne Bruckmüller und Andrea Abele überspringen hinsichtlich Methoden, Durchführung und Auswertung mühelos jene qualitativen Hürden, die in der psychologischen Forschung heutzutage aufgestellt werden. Dennoch wird gerade an dieser Arbeit deutlich, welchen Weg die Sozialpsychologie eingeschlagen hat. Explizit wird von social information processing gesprochen, also die bereits angesprochene Computermetapher verwendet. Symptomatisch ist auch die extrem künstliche Versuchsanordnung: Psychologiestudierende beurteilen in einem sozialpsychologischen Experiment Wörter, es kommen keine realen Personen vor, es findet keine Interaktion statt. Die Analyse basiert vielmehr auf dem sogenannten Antwortverhalten der Teilnehmenden, d.h. auf jenen Werten, die sie auf vorgegebenen Skalen ankreuzen. Welchen Sinn das aus ihrer Sicht macht, wie beliebig die Antworten sind, welche Bedeutung bestimmte Begriffe für sie haben, diese Fragen interessieren nicht.
Es wurde auch im quantitativen Forschungsbereich immer wieder kritisiert, dass bei standardisierten Befragungen Menschen mit Inhalten konfrontiert werden, die für sie möglicherweise irrelevant sind oder die sie für unsinnig halten. Was ist eine Bewertung wert, wenn ich die Frage selbst für unbedeutend halte? Hat es überhaupt Sinn, die inhaltliche Bedeutung von Wörtern mit Zahlen zu erfassen und zu vergleichen? Wie viel vom Sinn eines Wortes bleibt da auf der Strecke? Auch wenn diese Methode harte Fakten liefert – nämlich jede Menge Zahlen –, ist es schwer zu glauben, dass wir so mehr Einsicht in die „soziale Informationsverarbeitung“ des Menschen gewinnen ...
Generell ist die Übertragbarkeit von naturwissenschaftlich-psychologischen Forschungsergebnissen auf die Lebensrealität von echten Menschen meist nur mit viel Fantasie möglich. So zeigen zwar viele Berichte über Studienergebnisse die herausragenden intellektuellen Fähigkeiten ihrer Verfasserinnen und Verfasser auf – viel Alltagstaugliches kommt dabei aber nicht zum Vorschein. Gerade diese mangelnde praktische Anwendbarkeit hat bereits in der Vergangenheit immer wieder zu Diskussionen in der Psychologie selbst geführt. Nicht selten wurde dabei unter dem Titel Psychologie in der Krise die ganze Disziplin in Frage gestellt. Einige historische Schlaglichter dazu liefert der folgende Abschnitt.
Psychologie in der Krise
Die inflationäre Verwendung des Krisenbegriffs hat dazu geführt, dass alles, was irgendwie nach Schwierigkeiten aussieht, als Krise bezeichnet wird: Wirtschaftskrise, Flüchtlingskrise, Beziehungskrise, politische Krise ... Dabei ist eine Krise nicht einfach ein Problem, das gelöst werden muss, sondern eine Umbruchsituation, in der alles in Frage gestellt wird, was bisher Gültigkeit hatte. Sie ist Risiko und Chance zugleich.
Als der Psychiater Hector im Roman Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück31 in seinem Alltagstrott erkennt, dass er – genauso wie seine Klientinnen und Klienten – keine Antworten auf die zentralen Lebensfragen hat, verlässt er seine Verlobte und reist durch die Welt. Die Suche nach dem Glück führt ihn in die entlegensten Erdteile, nur um zu erkennen, dass er schon alles hat, was er im Leben braucht – eine tiefe Beziehung.
Erfahrungen wie diese treffen schon eher die ursprüngliche Bedeutung des Krisenbegriffs als Umbruchsituation. Damit einher geht häufig die Erkenntnis, dass herkömmliche Lösungsmethoden nicht mehr greifen, dass uns der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wie die Psychotraumatologie lehrt. Wenn Menschen mit schlimmen Erfahrungen konfrontiert werden, schwere Unfälle und Katastrophen verarbeiten sollen, können bisherige Fähigkeiten und bewährte Hilfsmittel versagen.32 Durch die Krise ist die psychische Existenz oder die soziale Identität gefährdet. Sie kann als „Verlust des seelischen Gleichgewichts, wenn Ereignisse oder Lebensumstände nicht bewältigt werden können“33 gesehen werden.
Krisen können (aber müssen nicht) zu signifikanten Verhaltensänderungen von Einzelpersonen, Gruppen,...