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Weichen stellen

Inspirationen für eine selbstbestimmte dritte Lebenshälfte

AutorJosef Epp
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783843608206
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Unsere erfreulich hohe Lebenserwartung stellt auch vor neue Herausforderungen. Mehr denn je sind wir aufgefordert, uns verantwortlich mit dem eigenen Älterwerden auseinanderzusetzen. Dadurch gewinnen wir viele Möglichkeiten, frühzeitig Weichen zu stellen und Befürchtungen zu überwinden. Dieses Buch ermutigt, wichtige Fragen des Alterns bewusst aufzugreifen und hilfreiche Schritte zu gehen. Und es will die Hoffnungsbotschaft verdeutlichen, dass der Lebensweg der Menschen auf Erfüllung ausgerichtet ist.

Josef Epp, geb. 1957, ist Religionslehrer, Klinikseelsorger und gefragter Referent in der Erwachsenenbildung. Der verwitwete Vater dreier erwachsener Kinder lebt im Allgäu.

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Leseprobe

Zeit des Reifens –
spannende Fragen


Der vernunft- und geistbegabte homo sapiens geht seinen Weg nicht festgelegt und schicksalsergeben. Er hat die Gabe des Nachdenkens und des Entscheidens. Neue Situationen fordern heraus, werden hinterfragt und analysiert. Wir Menschen sind mit Neugierde und Interesse ausgestattet, wir wollen über den Augenblick hinaussehen und fragen nach Zusammenhängen und Bedeutung. Für ältere Menschen geschieht dies oft in großer ­Ernsthaftigkeit und Tiefe. Der Blick wird offen für Perspektiven, die lange im Hintergrund standen.

Veränderte Fragen


Dem Wandel und der Entwicklung, von denen im vorigen Kapitel die Rede war, unterliegen auch die menschlichen Fragestellungen und Interessen. Ein Leben lang sind wir von einer gewissen Neugier bewegt, und unsere Interessen werden wesentlich von unseren Bedürfnissen gelenkt. Im Wachstum der Erfahrungen und in veränderten Lebens­situationen buchstabieren wir dabei unsere innersten ­Interessen und Fragestellungen neu durch.

Bei Schulkindern, die vor dem Wechsel in eine weiterführende Schule stehen, beobachte ich oft eine vermehrte Ausrichtung auf Leistung, Konzentration und gezieltes Arbeiten (was nicht immer hilfreich sein muss). Jugendliche, die eine erste Partnerschaft erleben, beschäftigen sich intensiver als zuvor mit der Frage nach Treue, Verlässlichkeit und einer „Liebe für immer“. Junge Eltern, die ein Kind erwarten, informieren sich über Erziehung, wichtige Tipps zur Gesundheit für Babys, Schwangerschaftsgymnastik und Babyartikel – wenige Monate zuvor hat sie all das möglicherweise noch gar nicht interessiert.

Dieser Interessenswandel und diese Veränderung der Fragestellungen sind auch im fortgeschrittenen Lebensalters deutlich zu beobachten. Spezielle Gesundheitsfragen ­rücken in den Vordergrund, andere Formen der Freizeitgestaltung werden ausprobiert, veränderte Wohnformen gewinnen an Bedeutung. Junge Kollegen lachen, wenn sie mithören, wie sich ältere über Vorruhestandsmodelle und Altersteilzeit ­unterhalten, und sind dann oft erstaunt, wie wenig Zeit ­vergangen zu sein scheint und sie sich selbst mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen.

Kollegen, die ungefähr in derselben Lebensphase stehen und über längere Zeit zusammenarbeiten, können anschaulich beobachten, wie sich ihre Gesprächsthemen verändern. Standen einst Fragen der Schullaufbahn der Kinder und ­deren diverse Erziehungsprobleme im Mittelpunkt der ­Gespräche, beobachtet man einige Jahre später, wie die ­gesundheitliche Situation der Eltern, die Planungen für den Ruhestand und das Auftauchen eigener Gebrechen mehr und mehr thematisiert werden.

Dabei schreitet das Fragen des Menschen immer auf dem Hintergrund der Lebenserfahrung voran. Mit den gewachsenen Jahresringen überblickt man größere Zeiträume, hat man mehr erlebt, hat sich mehr relativiert, haben sich die Prioritäten gewandelt. So wie sich junge Menschen über Gesprächsinhalte der älteren erheitern, schüttelt der ältere Mensch den Kopf über so manche Frage, die ihn in jungen Jahren bewegt hat, und über manche Wichtigkeit, die Dinge zu haben schienen und die man heute ganz anders einordnet.

In der Klinikseelsorge begegne ich Menschen weitgehend ungefiltert und ohne vorherbestimmte religiöse Schablonen. Der große Pluralismus unserer Gesellschaft kann erlebt werden, ein großer Erfahrungsschatz vieler Menschen, ein schier unübersehbares Spektrum an Fragen und Problemen, Einstellungen und Mentalitäten, Oberflächlichkeit und Tiefe. Die Krisenerfahrung der Erkrankung hinterlässt bei vielen Menschen Spuren, es werden Fragen gestellt, die gestern noch bedeutungslos schienen, das Koordinatensystem der Wichtigkeiten ordnet sich neu.

Ein beruflich erfolgreicher Geschäftsmann hinterfragt plötzlich seinen Lebensstil kritisch, obwohl er dieselben Anfragen durch seine Partnerin noch wenige Wochen zuvor abgetan hat. Eine ernsthaft erkrankte Mutter halbwüchsiger Kinder stellt sich voll Sorge die Frage, wie sie für ihre Familie auch für den Fall vorsorgen kann, dass ihr etwas zustößt. Ein junger Mann mit einer harmlosen Sportverletzung hat Gesprächsbedarf, weil er miterlebte, wie sein Zimmer­nachbar reanimiert werden musste, und diese erstmalige Erfahrung für ihn ganz neue Fragen aufwirft.

Auch wenn wir heute mit gutem Grund von einer säkularen und vielfach areligiösen Gesellschaft sprechen, erfahre ich dennoch immer wieder, dass gerade in kritischen Lebensabschnitten und in der Situation des Älterwerdens die Fragestellungen an spiritueller Tiefe und religiöser Sensibilität zunehmen. Die Frage nach Sinnhaftigkeit sucht sich in der Erfahrung nachlassender Kräfte und begrenzter Lebenszeit ihren eigenen Weg.

In meinem allerersten Dienstjahr erlebte ich einen Ju­gendlichen, der mit Leidenschaft sein Moped pflegte und putzte, der jede freie Minute mit dem Gefährt verbrachte und sich stundenlang darüber unterhalten konnte. An einem Herbstabend traf ich ihn bei Dämmerung in der Kirche. Er erzählte, dass er auf dem Heimweg von der Arbeit einen Moped-Unfall gesehen hat und an der Unfallstelle verweilte, als der Notarzt den verletzten Jugendlichen versorgte. „Das hätte genauso ich sein können“, meinte er sichtlich schockiert und verunsichert. In wenigen Augenblicken hatte eine neue Erfahrung seinen Fragehorizont völlig neu ausgerichtet, was nach einigen Tagen natürlich auch wieder nachgelassen hat.

Auch jüngere Menschen stellen tiefschürfende Fragen auch religiöser Art: wenn sie schmerzhafte Ereignisse im persönlichen Umfeld erleben, Verluste erleiden oder das Wunder der Geburt eines eigenen Kindes erleben dürfen. Das hohe Tempo der Alltagsbewältigung, die Vielfalt der Anforderungen und die hohe Vitalität im eigenen Lebens­gefühl relativieren diese Anteile oft wieder. Im fort­schreitenden Alter spüren aber viele, dass sich die Sinnfrage nachhaltiger stellt und man sie irgendwie nicht mehr loswird.

Die Einsicht, dass alles vergeht, verbindet sich nun mit dem Blick auf eine durchaus begrenzte verbleibende Zeit. Die gesundheitlichen Probleme werden bei aller Hoffnung auf ärztliche Hilfe doch vermehrt als Anzeichen zunehmender Anfälligkeit des Körpers und nachlassender Kräfte wahrgenommen. Die Konfrontation mit Verlusten, Erkrankungen im nahen Lebensumfeld, Vereinsamung und seelischer Not wird oft dichter. Dies verstärkt die eigenen Fragen nach Sinn und Zukunft, nach Trost und Halt, nach einer spirituellen Bewältigung des eigenen Lebens.

Lange Zeit stand Daseinsbewältigung vorrangig unter den Vorzeichen der materiellen und sozialen Absicherung, der Bildungsabläufe, der beruflichen Bewährung und einer lebenswerten Work-Life-Balance. Im Fortschreiten der Jahre tritt mehr und mehr zu Tage, dass auch die Fragen nach Alter, Krankheit und Sterben ihre Auseinandersetzung fordern und dabei herkömmliche Bewältigungsmuster an ihre Grenzen kommen.

Was vielleicht immer wieder übertönt und manchmal auch verdrängt und vernachlässigt wurde, mischt sich neu und vielfältig in das eigene Denken, und es stellen sich Fragen nach Maßstäben, Wurzeln und Lebenshilfen mit Tiefgang. Auch dies kann ein Reifungsprozess sein, der mit Zuwendung und Impulsen aus der religiösen Überlieferung begleitet werden kann.

Die nüchterne Sicht der Bibel


Die Menschen im Zeitalter der Bibel, die also vor rund 2500 bis 2000 Jahren lebten, erfuhren ein Lebensgefühl, das mit dem unseren nicht einfach verglichen werden kann. Die wesentlich kürzere Lebenserwartung und eine hohe Kindersterblichkeit bestimmten ihr Dasein. Hygienische Zustände und medizinische Möglichkeiten waren unzureichend und sehr begrenzt. Infektionskrankheiten war man weitgehend schutzlos ausgeliefert, Sklaverei und kriegerische Auseinandersetzungen vermittelten wenig Wertschätzung gegenüber dem Leben eines Einzelnen.

Dem stellt sich die Bibel vehement entgegen, sie betont immer wieder die Einmaligkeit des Menschen, nur wenig geringer als Gott (Ps 8), und die besondere Wertschätzung Gottes für die Menschen und das Gottesvolk, das er beim Namen gerufen hat und liebt (Jes 43,1 und 4).

Das feste Bekenntnis zur Zuwendung und Treue Gottes hindert die Bibel aber angesichts der allgemeinen Lebens­erfahrung nicht daran, die Realität der Vergänglichkeit und des begrenzten Lebens ohne Pathos darzulegen:

Denn der Herr weiß,

was wir für Gebilde sind,

er denkt daran:

wir sind nur Staub.

...
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