Inga P.
*11.06.1986 +23.07.2010
„Es ist etwas Schreckliches passiert.“ Dieser Satz meiner Mutter stand am Anfang einer Zäsur in meinem Leben, teilte es in ein Davor und ein Danach. „Inga ist tot. Ihr Ehemann hat sie umgebracht.“ Ich brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was meine Mutter gesagt hatte. Dann brach ich zusammen. Gerade noch saß unsere Familie friedlich im Wohnzimmer, unsere drei Jungs spielten und mein Mann gab unserer Tochter einen Brei, nun war diese Friedlichkeit vorbei. Zerstört durch den Ehemann meiner kleinen Schwester. Ein Teil von mir wurde grausam herausgerissen, diesen Schmerz werde ich nie vergessen. Eine unbeschreibliche Leere überfiel meinen ganzen Körper. Am Tag zuvor hatte ich das letzte Mal mit meiner Schwester telefoniert, hatte ihr das erste Zeugnis meines Ältesten, dessen Patentante sie war, vorgelesen. Wir hatten viel Spaß und stritten uns zum ersten Mal seit langer Zeit nicht. Ihr letzter Satz, an den ich mich erinnern kann, war „Schönschrift wird eh überbewertet!“
Inga war acht Jahre jünger als ich und ist das vierte Kind meiner Eltern. Ich bin die Älteste. Sehr genau sind meine Erinnerungen an ihre Geburt, als mein Vater uns von der Schule abholte und ins Krankenhaus fuhr. Ich freute mich wahnsinnig auf meine kleine Schwester und war ziemlich enttäuscht, als ich dieses gräulich-blaue, verschrumpelte Wesen sah. Am nächsten Tag war ich sehr erleichtert, dass sie inzwischen eine rosige Haut hatte und sehr süß aussah – in diesem Zustand konnte ich sie dann auch das erste Mal auf den Arm nehmen.
Unsere Bindung war sehr eng, ich konnte an ihr sämtliche „große-Schwestern-Fähigkeiten“ ausleben. Klar, manchmal war ich auch sehr genervt, weil ich Inga meistens im Schlepptau hatte und auf sie aufpassen sollte. Auf der anderen Seite hätte ich platzen können vor Stolz, wenn sie „Mama“ zu mir sagte.
Dieses besondere Verhältnis blieb. Ich fühlte mich immer verantwortlich für sie, besprach aber auch für mich wichtige Dinge mit ihr. Ihr erzählte ich als Erste, dass ich mich in meinen jetzigen Mann verliebt hatte und selbstverständlich wurde sie die Patentante meines ersten Sohnes. Während des Studiums wohnten Inga und einer meiner Brüder mit meinem Mann und mir in einem Haus in einer Art Familien-WG.
In dieser Zeit lernte sie ihren zukünftigen Ehemann kennen, zog mit ihm zusammen, heiratete und bekam einen Sohn. Die Beziehung der Beiden war von Anfang an voller Probleme, aber Inga war fest entschlossen, diese zu bewältigen. Wir stritten häufig, weil ich ihre Einstellung nicht nachvollziehen konnte. Zudem hatte ich Angst um sie und um ihr Kind. Inga musste ihren Weg gehen, auch wenn ich damit nicht einverstanden war. Im Nachhinein ist dies das Schlimmste für mich, dass wir die Zeit, die wir noch hatten, nicht genießen konnten, sondern ständig aneinander hochgingen.
In der Nacht nach unserem letzten Telefongespräch brachte ihr Ehemann Inga um. Direkt nach der Tat ging er zur Polizei und stellte sich. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen, ihr gemeinsamer Sohn, der zu dem Zeitpunkt 16 Monate alt war, wurde in Obhut genommen und später meiner Mutter übergeben. Für meine Mutter war sofort klar, dass Ingas Sohn bei ihr aufwachsen sollte.
Die Woche zwischen der Nachricht über Ingas Tod bis zur Beerdigung verbrachte ich wie in Trance. Auf der einen Seite war ich nur müde, konnte mich kaum bewegen und war für meine Familie ein Komplettausfall. Eine gute Freundin sprang ein und organisierte den Kindergeburtstag meines Ältesten, für den wir die Einladungen am Tag vor Ingas Tod verteilt hatten. Ich bin meiner Freundin bis heute noch dankbar für diese Hilfe. Auch meine andere Freundin war immer für mich da, sowohl an Ingas Todestag – sie kam sofort, nachdem ich sie angerufen hatte und blieb bis spät in die Nacht - als auch an allen anderen Tagen. Auf der anderen Seite entwickelte ich wahnsinnige Kräfte, um die Beerdigung zu organisieren. Ich telefonierte mit so vielen Menschen, um sie von Ingas Tod in Kenntnis zu setzen und sie zur Beerdigung einzuladen, Freunde, MitschülerInnen, ehemalige LehrerInnen, Kommilitoninnen ... Ich regelte die Kündigung aller Verträge, traf mich mit meiner Mutter beim Bestatter und schrieb eine Rede. Wir suchten die Anziehsachen aus, die Inga „mitnehmen“ sollte, ich schenkte ihr eine Bluse von mir und meine Lieblingsbettwäsche. Der Bestatter war unglaublich einfühlsam, zeigte uns unkonventionelle Möglichkeiten auf und bestärkte uns in unserem Bauchgefühl. Wir bekamen ein paar Tage Zeit, um von Inga Abschied nehmen zu können. Sie lag in einem Abschiedsraum, zu dem wir einen Schlüssel bekamen und jederzeit Zutritt hatten. Ich war einmal bei ihr. Es war sehr emotional, aber auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass dies nur noch Ingas Körper war. Inga war längst nicht mehr in dieser Hülle, sondern ganz nah bei uns.
Die Beerdigung war sehr schön. So viele Menschen waren gekommen, um von Inga Abschied zu nehmen. Viele Bekannte sprachen mich auf meine Mutter an, empfahlen mir, gut auf sie aufzupassen, oder fragten mich, ob sie schon etwas gegessen habe. Das fand ich äußerst befremdlich, da niemand von ihnen nach meinen Geschwistern oder mir fragte. Erst später las ich in vielen Foren, dass die Trauer der Geschwister häufig vergessen wird und die Trauer der Eltern einen besonderen Stellenwert hat. Zum Glück waren an diesem Tag aber auch viele meiner Freunde da, so dass ich den Tag gut gemeistert habe.
Die Zeit nach der Beerdigung wird von vielen als Beginn der eigentlichen Trauer empfunden, da nun wirklich das Leben weitergeht. Bei mir fiel diese Zeit mit dem Beginn der Sommerferien zusammen, was Glück im Unglück war. So konnte ich mich noch etwas dem planlosen Leben hingeben. Wir verbrachten einen Teil der Ferien in unserer Heimatstadt in Nordrhein-Westfalen, wo auch noch ein Teil unserer Familie lebt. Einerseits tat diese Nähe wahnsinnig gut, wir redeten viel über früher, und auch meine Cousinen hatten einige Anekdoten von Inga auf Lager. Andererseits war dieser Urlaub der erste ohne Inga. Heimat ohne Inga, Currywurst ohne Inga, Schloss Burg ohne Inga. Diese Woche wurde ein Vorgeschmack auf viele weitere Erlebnisse ohne meine Schwester. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder ein „normales“ Leben zu führen. Ich fühlte mich schon rein körperlich dazu nicht in der Lage. Das ganze Leben war anstrengend. Familienfeste, Geburtstage, Adventszeit, Weihnachten wurden sehr emotional. Ingas Kerze, die ich zu ihrer Beerdigung gestaltet hatte, brannte an diesen Tagen und wurde zum festen Ritual.
Meine Mutter und ich trauerten ähnlich, dachte ich zumindest. Wir redeten viel über Inga, während meine anderen drei Geschwister eher schwiegen. Meine Mutter sah allerdings Ingas Leben durch eine rosarote Brille und versuchte, friedlich mit ihrem Tod klarzukommen. Ich jedoch war unglaublich wütend. Wütend auf meine Schwester, weil sie nicht auf mich gehört hatte. Wütend auf meine Mutter und Ingas Freundinnen, die die Gefahr und meine Befürchtungen nie ernst genommen hatten. Wütend auf mich, weil ich sie nicht hatte schützen können, weil ich mich so häufig mit ihr gestritten hatte, weil ich vielleicht doch nicht alles ausprobiert hatte, sie zu überzeugen. Und nochmal wütend auf meine Mutter, die mir jetzt immer sagte: „Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen oder immer zu überlegen, welche Alternativen es gegeben hätte. Das macht Inga nicht mehr lebendig und für dich ist es nur belastend.“
Natürlich war ich auch traurig. Alle Emotionen empfand ich sehr intensiv. Mit Inga hatte ich meine Gesprächspartnerin innerhalb der Familie verloren. Als Älteste hatte ich immer eine besondere Rolle, trug schon früh Verantwortung für meine vier jüngeren Geschwister. Nach mir kamen zwei Brüder, die ein sehr inniges Verhältnis zueinander haben, danach Inga und meine jüngste Schwester. Ich war als Kind immer ein wenig außen vor, was ich aber auch genoss. Erst als wir älter wurden, studierten und zusammen wohnten, kamen Inga und ich uns auf Augenhöhe sehr nahe. Diese Gespräche vermisse ich. Ihre Nähe vermisse ich. Ihr muffeliges Gesicht nach dem Aufstehen vermisse ich. Ihre Begeisterungsfähigkeit vermisse ich. Ihre Naivität vermisse ich. Ihr Vertrauen vermisse ich. Ihre Liebe zu meinen Kindern vermisse ich. An diesem Schmerz, der meinen ganzen Körper durchfährt, wenn ich an Inga denke, hat sich bis heute nichts geändert. Ich denke nicht mehr minütlich an sie, aber doch sehr häufig über den Tag verteilt. Sie ist immer anwesend, manchmal in einem Nebensatz, manchmal in meinen Gedanken.
Bereits sieben Monate nach ihrem Tod fand der Prozess statt, den meine Mutter und ich als Nebenklägerinnen gemeinsam durchstanden.
Nach dem Prozess bin ich in ein tiefes Loch gefallen. Ich habe meine ganze Lebensplanung infrage gestellt. Mein bisheriges Studium wurde mir zu unsicher. Ich brauchte klare Strukturen, die mir Halt geben konnten. Außerdem hatte ich große Verlustängste. An einem Abend wollte mein Mann noch kurz etwas einkaufen. Plötzlich hörte ich einen Krankenwagen, der in Richtung Lebensmittelmarkt fuhr. Panisch versuchte ich, meinen Mann auf dem Handy zu erreichen, vergeblich. Während ich immer wieder die Nummer wählte, behielt ich die Haustür im Blick, da ich jeden Moment mit den beiden Polizisten rechnete, die mir mitteilen würden, dass mein Mann ums Leben gekommen sei. Völlig aufgelöst rief ich meine Mutter an, die zunächst gar nicht verstand, was ich sagte, weil ich nur noch schluchzen konnte. Mein Mann kam kurze Zeit später wohlbehalten zu Hause an und brauchte lange, um mich zu beruhigen. Heute erzähle ich meist lachend von...