3. Das Prinzip von Spannung und Lösung unserer Lebenskraft
Diese Jahrtausende alte asiatische Lehre ist im Kern denkbar einfach. Sie erscheint uns westlichen Menschen anfänglich kompliziert, und wir können uns zunächst nur schwer mit ihr befreunden. Wahrscheinlich, weil sie unserem stets auf das Abstrahieren hin trainierten Verstand zu simpel vorkommt.
Hier nochmals der Kern dieser Betrachtungsweise: Das gesamte Universum ist gekennzeichnet durch die kosmische Harmonie. Sie beruht auf dem Gleichgewicht, das sich durch die polare Gegensätzlichkeit, durch die ständige Wechselwirkung zweier antagonistischer Wirkungsfaktoren oder Kräfte ein und derselben Grundenergie aufbaut: Yang und Yin. Oder: Spannung und Lösung. Sie erschaffen, zerstören und erschaffen von neuem alles, was es auf dieser Welt gibt. Wie überall, so kehren sie auch im Menschen wieder. Sie bestimmen in ihrem fortwährenden Wechselspiel Wesensart und Schicksal des Einzelnen. Glücklich, leistungsfähig und gesund kann nur der sein, in dem sich diese beiden Faktoren im harmonischen Ausgleich befinden. Nur in ihrem Gleichgewicht kann auch der Mensch im Gleichgewicht sein. Mit der Störung ihres Gleichgewichts ist auch der Mensch gestört.
Der größte Meister dieser Lehre war Lao-Tse vor zweitausendfünfhundert Jahren. Prinzipiell ist sie monistisch, denn sie geht von der einzigen Kraft aus, die alles bewirkt, jedoch in der immerwährenden Gegensätzlichkeit von zwei Polen. Man kann auch vom einzigen Prinzip der Dialektik sprechen, wobei sich Yin und Yang als These und Antithese zur einheitlichen Ganzheit verbinden. Yang kann man als Zentripetalkraft und Yin als Zentrifugalkraft bezeichnen.
Unsere deutschen Begriffe der Spannung (oder Bindung) und Lösung (oder Entspannung) der Kraft geben aber für unser Sprachgefühl das Wesentliche im Allgemeinen viel treffender wieder. Deshalb gebrauchen wir sie hier in erster Linie.
Es stehen einander also zwei Wirkungsfaktoren polar gegenüber, die jedoch nichts anderes sind als die zwei Seiten oder Erscheinungsformen der gleichen alles bewegenden Kraft oder Energie. Immer ist es die Spannung dieser Kraft oder ihre Lösung. Jede Spannung verlangt nach Lösung. Und jede Lösung strebt auf die Spannung zu. Je nach der Ablaufphase ihrer Wirksamkeit und je nach der persönlichen Entwicklung und jeweiligen Zuständlichkeit des einzelnen Menschen steht die eine oder die andere Seite gerade im Vordergrund.
Sind Spannung und Lösung im Gleichgewicht, dann haben wir den Idealzustand des Spannungsausgleichs. Wir sagen dann: Die Kräfte sind im Ausgleich. Beim Menschen: Er ist im Gleichgewicht, er ist »im Lot«. Und dann ist für uns alles in der Ordnung.
Nach dem Gesetz der Ambivalenz (Doppelwertigkeit) aller psychologischen Grundgegebenheiten muß jede dieser zwei Erscheinungsformen der vitalen Energie ihre positive und ihre negative Seite haben. Wobei sich die negative aus der Übersteigerung der positiven herleitet (»Allzuviel ist ungesund«)- Daraus ergibt sich die Übersicht, die viel klären kann:
Es stehen einander also gegenüber: Spannung und Lösung (Yang und Yin) sowie ihre Übersteigerungen: Überspanntheit und Auflösung oder Zerlösung (Überyang und Überyin). Der Spannungsausgleich (Sattwa) wird jetzt treffender nicht mehr zwischen Spannung und Lösung angeordnet, wie auf der knapperen Übersicht zuvor, sondern so, daß er Spannung und Lösung einschließt. Denn ein wirkliches Gleichgewicht kann nur da vorliegen, wo die positiven Kräfte der Spannung und der Lösung vorhanden sind und sich in ständigem rhythmischen Wechsel in etwa die Waage halten. Ein Ausgleich ist von vornherein unmöglich, wenn die eine Seite entsprechend stärker ausgebildet ist als die andere. Die positive Spannung und die positive Lösung bedingen einander.
Im Prinzip ist das einfach und völlig klar. In der Praxis des Lebens mit seinen tausend Erscheinungsformen ist es jedoch nicht immer leicht, dieses im Kern so einfache Prinzip in seiner Wirksamkeit zu erkennen. Auch wenn jede Spannung grundsätzlich nach Entspannung, jede Gespanntheit nach ihrer Lösung verlangt, so gibt es doch alle denkbaren Zwischenzustände und Übergangsphasen, die unseren Blick trüben. Außerdem ist das Leben in immerwährendem Fluß und jeder Mensch bei seinen ständig wechselnden Eindrücken und deren Verarbeitung fortlaufend Spannungsschwankungen unterworfen. Sie nehmen uns gefangen und prägen unsere Stimmung. Sie lassen uns wohl oder unwohl, glücklich oder unglücklich fühlen. Und sie bestimmen in beachtlichem Maß, was wir denken und tun. Kein Wunder also, wenn unser Blick für das Erkennen dieses fundamentalen Grundgesetzes verstellt ist.
Der Begriff der Lösung kann leicht mißverstanden werden. Bei der Betrachtung des Muskels hatten wir darauf hingewiesen, daß der Phase der Spannung unweigerlich die Lösung der vorher gespannten Kraft folgt. Es wäre nun ein Irrtum anzunehmen, daß jetzt keine Kraft mehr da wäre. Auch im Zustand der Lösung ist die Kraft latent vorhanden, sie ist nur nicht zu einer aktuellen Kraftleistung mobilisiert, also gespannt. Aber sie ist da!
Während die körperliche Energie eines einzelnen Muskels naturgemäß im Augenblick immer nur gespannt oder gelöst sein (oder sich allenfalls in einem Zwischenstadium befinden) kann, ist die seelische oder die seelisch-geistige Energie eines Menschen diesem Entweder-oder in dieser Form nicht unterworfen. Sie ist ständig vorhanden, und zwar in dem Tonus (Spannungszustand), der für den betreffenden Menschen charakteristisch ist. Haben wir es z.B. mit jemandem zu tun, der seelisch-geistig über das durchschnittliche Maß hinaus gespannt ist, dann sprechen wir von einem gespannten, vielleicht schon von einem verspannten Menschen. Seine Körpermuskulatur wird es dann übrigens auch sein müssen und es dem Kundigen sofort anzeigen. Im gegenteiligen Fall sprechen wir von einer gelösten, vielleicht schon übermäßig gelösten, also schlaffen oder schlappen Natur.Für den vorliegenden Zusammenhang ist die Erkenntnis wichtig: Der Begriff der Lösung bedeutet nicht ein Nichts oder die Abwesenheit, das Nichtvorhandensein einer Kraft. Lösung bedeutet den Lösungszustand der Kraft oder die gelöste Kraft. Eben im Gegensatz zur gebundenen oder gespannten Kraft, wie sie im Zustand der Spannung vorliegt. Nicht umsonst unterscheiden wir schon in der Umgangssprache den gespannten Menschen vom gelösten. Und wir wissen alle, daß der gelöste Mensch sehr viel Kraft haben kann. Sie wird eben nur in frei gelöster Form eingesetzt.
Lebenskraft und das Verhältnis Spannung: Lösung sind also scharf auseinanderzuhalten. Oft wird Spannung gleichgesetzt mit vitalstark oder energiegeladen und Lösung mit vitalschwach oder energielos. Das muß dann zu völlig verfehlten Folgerungen und Urteilen führen. Das Verhältnis Spannung: Lösung kennzeichnet lediglich die Spannungszuständlichkeit der vorhandenen Kraft. Wieviel davon zur Verfügung steht - also ob diese Antriebskraft oder Energie oder Vitalität stark oder schwach ist -, ist eine andere Frage. Für jede individuelle Beurteilung ist die Beantwortung der Frage: Wieviel Vitalkraft ist überhaupt da? von der größten Bedeutung.
Was ist es nun eigentlich, was die sonst gelöste Kraft bindet oder spannt?
Die Kraft, die Lebens- oder Vitalkraft, also die Summe der individuell vorhandenen Gefühlsantriebe oder die Energie, ist in der animalischen Grundschicht des Menschen in Gestalt seiner ursprünglichen Antriebskräfte zutiefst verankert. Man hat viel oder man hat wenig davon. Jeder hat sein persönliches Maß an Lebenskraft. Sie kann gebunden oder gespannt werden immer nur durch den Geist, die Ratio, den Willen, durch den geistigen Oberbau des Menschen, in welche Begriffe wir das immer fassen. Je gespannter ein Mensch, um so stärker sind seine körperlichen und seelischen Triebantriebe diesem rationalen Oberbau untergeordnet und von ihm beherrscht. Und umgekehrt: Je gelöster ein Mensch, desto mehr wird er unmittelbar beherrscht von seinen leiblichen Trieben und seinen Gefühlsantrieben, denen sich die geistigen Forderungen mehr oder minder unterordnen müssen. Es kommt dann neben seiner Instinktsicherheit ganz auf die Interessenlage und die Motivation des Einzelnen an, ob er ein Spielball seiner Gefühlsantriebe wird oder ob er seine Kraft in Richtung durchaus positiv zu beurteilender Ziele einsetzt. Das Verhältnis von Spannung und Lösung der Kraft gibt also Kunde von der Stärke der rationalen oder der Willensvorherrschaft eines Menschen über seine emotionalen Antriebskräfte.
In diesem Sinn hat übrigens der Philosoph und Ausdruckspsychologe Ludwig Klages (1872—1956) in unserem Kulturkreis den tiefen Sinn und die weittragende Bedeutung von Lösung und Bindung (= Spannung) der Antriebskräfte für die Erfassung und Beurteilung der menschlichen Individualität erkannt. Er ist dabei offensichtlich von der alten asiatischen Lehre von Yin und Yang nicht ausgegangen. Seine Charakterologie und seine Ausdruckspsychologie haben...