Annas Leben
Erste Erfahrungen mit der Schulmedizin
Als Anna erwachte, stellte sie fest, dass sie nicht zu Hause war. Am Fenster waren außen Gitterstäbe angebracht. Ihr erster Gedanke war: Ich bin im Gefängnis!
Was ist passiert?
Vor dem Fenster mit dem Eisengitter stand ein großer blühender Kastanienbaum. Jetzt fiel es ihr wieder ein! Es ist Frühling und vor ungefähr drei Monaten hatte sie ihren vierundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Aber warum ist sie im Gefängnis? Sie fühlte sich sehr müde und schlapp. Ihre Gedanken wurden langsam etwas klarer. Jetzt bemerkte sie, dass sie in einem weißen Bett lag und an mehrere Geräte angeschlossen war. Eine Nadel kam aus ihrer Ellenbeuge, der Schlauch führte zu einer Infusionsflasche, die an einem Ständer aufgehängt war. Das kann nicht das Gefängnis sein, dachte sie bei sich und fiel wieder in den weißen Nebel zurück.
Nach einigen Stunden Dämmerschlaf wachte sie erneut auf. Matt, aber neugierig blickte sie sich im Zimmer um. Rechts von ihr standen drei weitere Betten. In einem lag eine Frau, die sehr dünn war. Ihr Gesicht war ziemlich blass, sie hatte ganz dunkle Augen. Sie war sehr jung und zitterte am ganzen Körper. Die zweite Frau schien nicht sprechen zu können. Sie gestikulierte in einer Art Zeichensprache mit den Händen. Das dritte Bett war leer.
Jetzt war sie sich fast sicher: Das konnte nicht das Gefängnis sein!
***
Kurz bevor Anna in die Realschule wechseln sollte, wurde sie krank. Sie war gerade zwölf Jahre alt geworden. Ohnmachtsanfälle plagten sie mehrfach am Tage. Gründe für diese Anfälle konnten von den Ärzten nicht gefunden werden. Außerdem waren ihre Füße angeschwollen und sie konnte kaum gehen. An manchen Tagen brauchte sie für hundert Meter Weg mehr als eine Stunde. Die Füße schmerzten sehr.
Ihre Eltern waren mit ihr von einem Arzt zum andern gelaufen. Sie wurde von Kopf bis Fuß durch untersucht; Laboruntersuchungen, Röntgen, EKG, EEG und vieles mehr. Die Untersuchungen dauerten monatelang.
Dann wurden auch ambulante Spezialuntersuchungen in Krankenhäusern durchgeführt. Aber ihre Füße schmerzten weiterhin sehr. Um alles abzuklären und nichts unversucht zu lassen, wurde sie in eine orthopädische Spezialklinik eingewiesen. Es sollte herausgefunden werden, was mit ihren Füßen los war. Die Ärzte waren der Ansicht, dass es sich um Wachstumsstörungen handeln könne und verordneten gegen die Schmerzen Medikamente.
Die verordneten Kapseln waren so groß, dass Anna Mühe hatte, sie überhaupt zu schlucken. Ihre Eltern ließen sich alles Mögliche einfallen, damit sie die Tabletten besser schlucken konnte. Sie lösten die Kapseln in warmem Tee auf, gaben sie in die Suppe oder unter den Schokoladenpudding. Hin und wieder wurden die Schmerzen nach der Einnahme besser; doch meistens halfen die Tabletten nichts.
Sie wollte ihre besorgten Eltern nicht weiter beunruhigen und erzählte ihnen nicht, dass die Medikamente nur sehr wenig halfen. Sie biss sich auf die Zähne und ertrug die Schmerzen.
Im Laufe der nächsten vier Jahre musste sie hin und wieder zu Kontrolluntersuchungen in die orthopädische Spezialklinik, denn die Ärzte waren sich einig geworden, dass es sich bei den Schmerzen in den Füßen um Wachstumsstörungen handelte. Nach und nach besserte sich ihr Zustand und ihre Beschwerden ließen tatsächlich nach.
Ihre jüngere Schwester Luisa strotzte dagegen vor Gesundheit. Sie war sehr sportlich und konnte ohne Probleme den ganzen Tag Skilaufen, schwimmen oder mit dem Rad fahren. Auf Anna musste immer Rücksicht genommen werden, da sie kaum ohne Probleme Sport treiben konnte. Sie hasste ihre Schwester dafür, dass diese körperlich gesund war. Aber auch umgekehrt war es für Luisa schwierig, denn immer stand Annas eingeschränkte Belastbarkeit im Vordergrund.
Nach ihrem Realschulabschluss waren die Beschwerden endgültig weg und die Ärzte waren in ihrer Meinung bestärkt, dass es sich um Wachstumsstörungen gehandelt habe.
***
Mit 19 Jahren ist Anna von zu Hause ausgezogen und lebte nun mit ihrem Freund Julius zusammen.
Wie aus heiterem Himmel wurde sie einige Monate später krank. Sie litt unter Magenproblemen. Erneut wurde sie medizinisch durchgecheckt: Magen- und Darmspiegelung, EKG, EEG, Laboruntersuchungen, Röntgen, Sonographie - sprich: alles was medizinischer Standard ist, wurde aufgeboten. Aber die Ärzte waren ratlos und konnten keine körperliche Ursache für ihre Magenprobleme finden. Zu den Magenproblemen stellten sich nach kurzer Zeit Angst- und Panikzustände ein. Auch hier konnte kein Grund gefunden werden. Sie selbst vermutete, dass diese Angst- und Panikzustände irgendwie mit ihrem Wegzug von zu Hause zu tun hatten.
Die Beschwerden verschlimmerten sich immer weiter. Immer noch war keine Ursache zu finden. Ihrem Internisten kam die Idee, dass es eventuell auch seelische Ursachen geben könnte und er schlug vor, eine entsprechende Fachklinik aufzusuchen. Sie ging auf diesen Vorschlag ein und es folgte ein mehrmonatiger Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik.
Ihren Arbeitsplatz hatte sie mittlerweile verloren.
Während des Aufenthaltes in der psychosomatischen Klinik versuchte Anna zusammen mit Hilfe der Therapeuten und Mitpatienten, die Ursache ihrer körperlichen Beschwerden herauszufinden.
Die Therapie bestand aus einer geschlossenen Gruppentherapie - das heißt, dass während dieser Zeit immer dieselben Gruppenmitglieder zusammen waren. Nur ab und zu gab es bei Bedarf auch Einzelgespräche mit einem Therapeuten. Anna hatte große Probleme, sich in der Gruppe zu äußern und zu öffnen. Sie hätte lieber nur Einzelstunden gehabt. Es kostete sie Mühe und große Überwindung, in einer Gruppe vor fremden Menschen über ihre Gefühle, ihre Ängste und über das zu sprechen, was sie innerlich bewegte. Mehr und mehr zog sie sich in sich zurück. Sie sprach nicht mehr viel während dieser Zeit. Völlig überraschend traten in der Klinik fast jede Nacht Albträume auf. Es waren dieselben Träume, die sie schon als Kind geplagt hatten. Sprechen konnte sie darüber nicht.
Sie lernte einige junge Mädchen und Frauen kennen, die sich zu Tode hungerten oder unter Ess-Brechanfällen litten. Die Mädchen und Frauen sahen teilweise aus, als ob sie in einem Konzentrationslager gelebt hätten - total abgemagert. Die Wangenknochen im Gesicht standen hervor, die Schulterblätter konnte man durch die dicken Pullover sehen und die Hosen schlotterten an den Beinen, als ob darunter nur Holzstöcke wären. Später las sie einen Bericht in einer Zeitung, dass viele dieser Mädchen und Frauen, die an Anorexie oder Bulimie litten, früher sexuell missbraucht worden waren.
Drei Monate psychosomatische Klinik gingen dem Ende entgegen und sie hatte das Gefühl, dass sich während dieser Zeit nicht viel geändert hatte. Umsonst war der Aufenthalt aber doch nicht gewesen. Die körperlichen Beschwerden hatten sich gebessert und ihre Angst- und Panikzustände waren ebenfalls schwächer geworden - die Ursache konnte allerdings wieder nicht geklärt, sondern nur vermutet werden: Seelische Gründe?
Sie ging einer ungewissen Zukunft entgegen.
***
Ein Jahr später hatte sie erneut ihre Arbeitsstelle verloren. Immer häufiger machten sich in ihren Gedanken Ideen von Selbstmord breit. Die Angst- und Panikzustände waren schlimmer geworden und wechselten sich mit Depressionen ab. An manchen Tagen hatte sie so große Ängste, dass sie ihre Wohnung nicht verlassen konnte. In dieser Zeit fühlte sie sich in ihrem Bett am sichersten.
Erneut wurde ein Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik notwendig. Die Einzeltherapie, in die sie dieses Mal gehen konnte, zeigte erste Erfolge. Sie konnte sich ihrem Psychologen öffnen und anvertrauen. Nur einmal in der Woche fand eine offene Gruppe zur Ergänzung statt.
Endlich lernte sie, ihre Wünsche ein wenig zu äußern, über ihre Gefühle etwas zu sprechen. Nach und nach tauchten verschwommen Erinnerungen aus der Kindheit auf.
Die erste Spur der jahrelangen Beschwerden und ihrer Ursachen wurde sichtbar: Anscheinend war sie als Kind missbraucht worden. Es war eine sehr schmerzhafte Erkenntnis. Wieso ich? Was habe ich verbrochen? Es gab aber keine Antworten! Während dieser Zeit war sie völlig hilflos, fühlte sich klein und ausgeliefert. Wer ihr dies angetan hatte und wie alt sie damals gewesen war, kam noch nicht ans Tageslicht.
Irgendwie war sie aber trotzdem froh, dass sich der Grund ihrer Beschwerden zeigte. Die Zukunft bereitete ihr allerdings großes Unbehagen, denn sie hatte keinerlei Ahnung, wie sie mit dieser Tatsache leben sollte.
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Vier Jahre lang absolvierte Anna nun dreimal die Woche mit Hilfe ihres Psychotherapeuten eine ambulante Therapie. Anfangs war es ihr nicht möglich, detailliert über das, was geschehen war, zu sprechen und ihre damit verbundenen Probleme zu hinterfragen. Die Erinnerungen, die immer öfter ans Licht...