Oliver Gassmann, Philipp Sutter
Die Ubernisierung der Wirtschaft
Software ist überall. Die Digitalisierung durchdringt unseren Alltag und die Wirtschaft. Wo Software heute noch nicht ist, gibt es ein Potenzial für morgen. Die Digitalisierung durchdringt eine Industrie nach der anderen. Digitalisierte Industrien haben häufig neue Wettbewerber, neue Wettbewerbsregeln, veränderte Margen, umverteilte Wertschöpfung. "Software erobert die Welt", wie das Wall Street Journal vor ein paar Jahren passend schrieb. Die reale, physische Welt wird dabei immer stärker in der virtuellen Datenwelt gespiegelt, um neue Wertschöpfung für die Kunden oder das eigene Unternehmen zu realisieren. Der Thinktank W.I.R.E. bringt es auf den Punkt: Es geht um Vermessen, Verknüpfen und Vorhersagen. Hierzu werden inzwischen drei bis vier Zettabyte Daten pro Jahr generiert; das neu geschaffene Datenvolumen wächst im nächsten Jahrzehnt jährlich um 40 Prozent. 90 Prozent der heute weltweit vorhandenen Daten wurden erst in den letzten zwei Jahren generiert.
Die digitale Welt erfasst:
was wir denken ‒ 2,9 Millionen E-Mails pro Sekunde und 660.000 neue Facebook-Einträge pro Minute,
was wir fühlen ‒ 35.000 individuelle Likes auf Facebook sowie unzählige Emoticons pro Minute,
wo wir sind ‒ GPS in Mobiltelefonen zeigen Bewegungsabläufe, 2.100 Check-ins pro Minute alleine auf Foursquare,
was wir einkaufen ‒ Händler, PayPal und Kreditkartenhersteller speichern die Transaktionen, alleine bei Apple werden 47.000 Apps pro Minute heruntergeladen.
was wir sehen ‒ pro Minute werden 48 Stunden neue Videos auf YouTube geladen, 7.000 Bilder auf Flickr und Instagram,
was wir suchen ‒ allein Google erhält pro Minute zwei Millionen Suchanfragen,
wie unsere Wertschöpfung erfolgt ‒ über das Internet der Dinge (IoT) werden bis 2020 über 50 Milliarden Dinge ‒ Produkte, Maschinen, Prozesse ‒ verbunden sein.
Die Daten sind jedoch in hohem Maße unstrukturiert. Nur 15 Prozent weisen eine höhere Struktur auf, zum Beispiel in Form von Tabellen. Die meisten Datensätze dürfen aus rechtlichen Gründen nicht miteinander verbunden werden. Intelligenz bei der Datenauswertung ist heute bereits im Alltag integriert. Big Data wird immer stärker durch Smart Data ersetzt: Es geht darum, Daten mit Relevanz für Kundenwert oder Wirtschaftlichkeit zu erfassen und zu analysieren.
Starke Treiber der Digitalisierung von Branchen sind IT-basierte Unternehmen. Google hat heute eine Banklizenz, ist mit Nest im intelligenten Gebäude aktiv und betreibt selbstfahrende Fahrzeuge. WhatsApp, gegründet 2009, betreibt heute über zehn Milliarden mehr Messages als das gesamte SMS-Text-Message-System weltweit. Uber revolutioniert die Taxibranche und -logistik; das Unternehmen ist bereits fünf Jahre nach der Gründung über 40 Milliarden US-Dollar wert. Das Smartphone ermöglicht neue Geschäftsmodelle. Laut Boston Consulting Group (2015) investierte die Mobilfunkindustrie zwischen 2009 und 2013 über 1,8 Billionen US-Dollar in neue Infrastruktur, viel davon auch in Entwicklungsländern. Während China, Korea und Japan die mobilen 5G-Mobilfunknetze rasch einführen wollen, scheint Europa am Mobile World Congress 2016 in Barcelona hinterherzuhinken. Dabei ist es die große Chance für alle Telekommunikationsanbieter, stärker als bisher an der Internetwertschöpfung zu partizipieren. Korea Telecom steht beim Rennen um die Mobilfunktechnik der fünften Generation ganz vorne; bereits heute liegt die Geschwindigkeit bei 1.000 Mbit/s ‒ doppelt so hoch wie bei den europäischen Wettbewerbern. Für 2018 strebt Korea Telecom sogar 20.000 Mbit/s an. Gleichzeitig sinken die Kosten gerade in Entwicklungsländern und treiben damit neue Innovation voran: Das indische Micromax-Handy wird heute für weniger als 40 US-Dollar angeboten und revolutioniert Kommunikation und Online-Services in weniger entwickelten Regionen. Mobile Banking wurde in Entwicklungsländern vorangebracht, da dort die IT-Infrastruktur fehlt. Internet-Communitys beginnen, immer stärker zu werden: 2015 hatte Facebook 1,4 Milliarden User, Twitter ‒ ursprünglich nur für Journalisten gedacht ‒ 288 Millionen, YouTube über 1,1 Milliarden, Instagram 300 Millionen, und selbst die Plattform LinkedIn hatte 347 Millionen User. Das Wachstum der digitalen Plattformen scheint bisher keine Grenzen zu haben. Nun kommt ergänzend die Vernetzung der realen Welt hinzu. Durch das Internet der Dinge werden bis 2020 über 50 Milliarden vernetzte physische Dinge erwartet. Bislang sind keine Grenzen für die weitere Entwicklung in Sicht.
Die Schnittstellen zum Kunden sind sophistizierter und direkter geworden, das Management der Kundenbeziehungen erhält neue Dimensionen. Die Wertschöpfungsketten werden zunehmend "real-time" vernetzt über mehrere Stufen. Die Produkte selbst beginnen intelligenter, vernetzter zu werden.
Die digitale Transformation beschleunigt den ohnehin schon starken Wandel in der Unternehmenswelt: Rund ein Drittel der Forbes-500-Unternehmen weltweit existieren schon zehn Jahre später nicht mehr. Von den 1.000 größten Unternehmen aus dem Jahr 1962 gibt es heute nur noch 16 Prozent. Diese Entwicklung der Konzentration und Konsolidierung wird sich im Rahmen der nächsten Digitalisierungswelle, nach der Taxirevolution auch "Ubernisierung" der Volkswirtschaft genannt, noch verstärken. Gleichzeitig entstehen unzählige Start-ups mit Potenzial für rasantes Wachstum. Rein digitale Firmen wie Google ermuntern ihre Mitarbeiter zu unternehmerischen Initiativen und belohnen auch fehlgeschlagene Ideen.
Kundenerlebnis im Zentrum
Von zentraler Bedeutung bei allen Digitalisierungsprojekten ist der Kunde. User Experience wird zum schlagenden Wettbewerbsfaktor. Google schlug das dominante Yahoo als Suchalgorithmus, weil die Seite klarer und der Cursor bereits an der richtigen Stelle platziert war. Der amerikanische Finanzdienstleister Fidelity Investments baute eine eigene Forschungsabteilung in Boston auf, die sich vor allem mit Nutzerverhalten am Bildschirm beschäftigt. Der Grund ist einfach: Mehr Nutzerfreundlichkeit für die Analysten am Bildschirm generiert direkten Umsatz. Mit sophistizierten Experimenten und Eye Tracking werden Benutzer, unterteilt nach soziodemografischen Merkmalen, analysiert. Das Bildschirmdesign wird darauf angepasst. Diese Prinzipien der visuellen nutzerzentrierten Gestaltung lassen sich auf diverse Mensch-Maschine-Schnittstellen übertragen, so auch auf Erdbewegungsmaschinen von Liebherr oder Panels von Bystronic.
Nutzerzentriertes Design, das im Kern des Design-Thinking-Ansatzes ist, gewinnt damit bei der digitalen Transformation enorm an Wert. Der Endnutzer muss bei allen Aufgaben, Zielen und Eigenschaften ins Zentrum des Entwicklungsprozesses gestellt werden. Dabei geht der Ansatz weit über die reine Oberflächenkosmetik hinaus: Er umfasst die Art, wie das Unternehmen intern und extern mit seinen Kunden und Partnern zusammenarbeitet. Nutzerzentrierte Digitalisierungsprojekte adressieren dabei häufig komplexe Probleme beim Produkt oder im Wertschöpfungsprozess, bei dem der Hauptfokus und Aufschlagpunkt der Nutzer ist.
Kleine Vorteile in der Convenience bei der Nutzung des Produkts vertreiben oft bestehende Wettbewerbsprodukte aus dem Markt. Daher ist es gefährlich, wenn die digitale Transformation lediglich aus der IT-Abteilung kommt. Oft geraten dabei die Endkunden ‒ sie sind letztlich die Ursache für die Wertgenerierung durch Digitalisierung ‒ aus dem Fokus.
Fertigung revolutioniert mit Industrie 4.0
In B2B-Industrien wird im deutschsprachigen Raum unter "Industrie 4.0", im angelsächsischen bekannt unter "Industrial IoT", die nächste industrielle Revolution durch die Digitalisierung eingeleitet. Die Informatisierung von Fertigungstechnik und Logistik über Maschine-zu-Maschine-Kommunikation weist enorme Potenziale für die Steigerung der Produktivität auf. Cyber-physische Systeme sorgen für eine Automatisierung der Produktion und ihrer unterstützenden Prozesse auf einer völlig neuen Ebene. Die Basis sind Sensorik, Datenübertragung und Analyse mit selbstregelnden Wertschöpfungsprozessen.
In den 1990er-Jahren wurde bei vielen Unternehmen vor allem der Backoffice-Bereich digitalisiert. Heute steht vor allem die Unterstützung der Servicetechniker vor Ort mit Field Wiki im Zentrum. Aber die Digitalisierung geht deutlich weiter: Schindler führt mehr als 30.000 Feldtechniker über ein voll integriertes Datenmanagement, das von der Entwicklung bis zum Verkauf alle Prozessschritte integriert. Das geht so weit, dass auch die Kunden vollständig über die Wartungsprozesse ihrer eigenen Anlagen informiert sind. Für diese voll integrierten IT-Prozesse, welche die globale Effizienz massiv erhöht haben, wurde Schindler vom MIT in Boston mit einem Award ausgezeichnet. Dabei durchlief Schindler die typischen Phasen:
IT-Rationalisierung: Systeme werden sicherer, zuverlässiger und kosteneffizienter.
Operational Excellence: Die Geschäfte werden optimiert, vereinfacht und global standardisiert.
Leading-Edge Digital Business: Überlegene Kundenerfahrungen durch neue Produkte und Dienstleistungen, aber auch durch neue Geschäftsmodelle.
Firmen wie Siemens, Trumpf, Bosch und Bühler ermöglichen bereits heute ihren...