Der Sterbeprozess des Menschen
Wenn es ersichtlich wird, dass jemand sein letztes Bett erreicht hat, und der Betroffene dieses nicht mehr eigenständig verlassen kann, setzt der endgültige Sterbeprozess ein. Die Energie des Sterbenden nimmt ab und er kann nicht mehr aufstehen oder Dinge festhalten. Die Waage pendelt im Schwebezustand zwischen Leben und Tod, zwischen Traum- und Wachzustand.
Im einsetzenden Sterbeprozess kann man erkennen, wie ein Mensch auf seine sich verändernde Wahrnehmung und die mit dem Sterben einhergehende Bewusstseinserweiterung reagiert: Manche bekommen große Angst und klammern sich verzweifelt an das Leben, andere zeigen die Bereitschaft loszulassen und sind überaus gelassen. Schon in dieser frühen Phase kann man sehen, ob der Sterbende seinen bevorstehenden Tod annehmen kann oder nicht.
In der Begleitung ist es nun wichtig, für den Sterbenden da zu sein, um ihn dabei zu unterstützen, dass er sein Sterben akzeptieren kann. Dabei ist es von großer Wichtigkeit, alle Äußerungen und Wahrnehmungen des Sterbenden zu respektieren, denn für ihn öffnet sich der Vorhang zur geistigen Welt. Der Sterbende richtet seinen Blick nach innen, um mit sich ins Reine zu kommen.
Je mehr Gegenwehr und Widerstand vorhanden ist, desto schwieriger gestaltet sich der Prozess. Eine Hospizhelferin erzählte mir, welche Fragen sehr häufig in dieser Phase auftreten:
»Warum bin ich so krank, fragte eine Frau, und warum soll ich sterben, obwohl ich das gar nicht will? Muss ich denn sterben? Die Begleiterin antwortete: Ich kann Ihnen das nicht sagen, nur Sie können es wissen.«
Die Hospizhelferin spricht das innere Wissen der Sterbenden über ihren bevorstehenden Tod an, wobei das nicht jeder zum Ausdruck bringt. Der Mensch ist ein Individuum und deswegen erlebt jeder seinen Tod anders. Das Leben bewegt sich unaufhörlich auf das Sterben zu. Sterben erfordert immer wieder, loslassen zu können. Nur das führt in ein Wachsen des Wesentlichen.
Es sind die blockierenden Ängste und das Nicht-loslassen-Können, was das Sterben so schwer macht. Wer verhaftet bleibt und sich nicht lösen kann von seinem Partner, seinen Kindern, seinen Freunden, seinem Besitz und allem Irdischen, das vergänglich ist, wird sich gegen sein Sterben auflehnen. Es geht um nichts anderes, als Frieden zu finden, um mit sich ins Reine zu kommen, damit die Illusionen der Ängste des Egos vor dem Unbekannten aufgelöst werden können.
Sterben ist ein Wandlungsgeschehen, eine Transformation und Geburt in das körperlose Sein. Trotz der Endgültigkeit des unausweichlichen eigenen Todes besteht die Wandlung im Annehmen. Dann kann der Sterbende loslassen und erreicht einen befreiten Bewusstseinszustand, in dem er nicht länger den Verlauf des Geschehens beeinflussen will.
Im finalen Sterbeprozess geht es nicht um übertriebene körperliche Aufmerksamkeit, sondern um das geistige Geschehen, das sich durch die Veränderung der Wahrnehmung des Sterbenden zeigt. Insofern ist es wichtig, sich die eigenen Einstellungen bewusst zu machen, da der Sterbende die Wünsche und Ängste der Anwesenden spürt. Wenn Angehörige nicht loslassen können, kann sich der Sterbeprozess hinauszögern.
Begleitende oder Angehörige merken häufig nicht, dass ein Sterbender geistig wacher ist als je zuvor. Er nimmt jede Nuance von Hilflosigkeit und Resignation in seinem Umfeld wahr. Der Sterbeprozess ist ein Thema, das jeden Einzelnen betrifft, doch haben wir in unserer Gesellschaft damit immer noch große Probleme, da das Sterben oft lebenslang verdrängt wird. Für Begleitende ist es wichtig, die eigenen Unsicherheiten und Ängste zu erkennen, um einen Zugang zum geistigen Geschehen zu erlangen.
Es fehlt an Vertrauen in die natürliche Dynamik von Leben und Sterben, von Geburt und Tod. Insofern liegt der Fokus des Sterbegeschehens in den energetischen Prozessen, wenn sich das Bewusstsein langsam vom Körper löst. Nicht der körperliche Prozess steht im Vordergrund des Geschehens, sondern das innere Wandlungsgeschehen. Doch genau das bereitet den Menschen am meisten Angst. Eine Frau berichtete:
»Als mein Mann im Sterben lag, war ich fast immer bei ihm. Ich war erstaunt über seine Bewusstseinsklarheit. Seine Augen strahlten von innen und er wirkte gelöst und geradezu humorvoll. Angesichts seines körperlichen Zustandes – er war total ausgezehrt – konnte ich das überhaupt nicht verstehen. Das verunsicherte mich, da ich es nicht einordnen konnte. Heute weiß ich, dass meine Angst mich lähmte, sein Sterben als einen natürlichen Prozess zu sehen, und dass die auftretenden Phänomene mit dem geistigen Geschehen zu tun haben.«
Selbst professionelle Helfer sind häufig ratlos und ohnmächtig angesichts der auftretenden Phänomene. Es fällt vielen sehr schwer, im Angesicht des Todes das Erlebte einzuordnen und zu durchschauen, da die ständige Anwesenheit das innere Wandlungsgeschehen nicht klar erkennen lässt.
Es besteht ein Ringen um das ganzheitliche Wissen vom Sterben, zumal wir mit geistigen Phänomenen konfrontiert werden, die vorher nicht für möglich gehalten wurden und die vielleicht den persönlichen Vorstellungen oder Glaubensmustern widersprechen. Das wissenschaftliche rationale Verstandesdenken vermag die auftretende Spiritualität des erweiterten Bewusstseins im Sterben nicht zu erfassen.
Wenn sich im Sterbeprozess der Geist endgültig aus der Körperhülle löst, ist das stets verbunden mit dem Wechsel in ein höheres Bewusstsein. Das Einswerden mit dem sogenannten höheren Selbst ist nichts anderes als die Überwindung der Verhaftung an die Materie und die Befreiung aus den Illusionen und Ängsten des Egos. Genau vor diesem Schritt fürchten sich die meisten Menschen. Das Transformationsgeschehen im Sterben beinhaltet die Hinwendung an die eigene Innenwelt, um den bevorstehenden Tod annehmen zu können.
Die Angst vor dem Tod
Die Angst vor dem Tod ist eine primäre Urangst, die mit dem Verlust des eigenen Ichs verbunden ist. Angesichts der Größe des Göttlichen, die sich im Sterbeprozess offenbart, relativiert sich das kleine Erden-Ich. Der Gegensatz zwischen dem individuellen Erleben während unseres Lebens und einer spirituellen Erfahrung einer bis dahin unbekannten Größe offenbart sich als die Mutter aller Ängste: Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor der Liebe, die den Menschen unbekannt ist.
Da wir wissen, dass wir sterben werden oder der Körper schwer beeinträchtigt werden kann, ist die Angst lebenslang ein Schatten, der uns begleitet. Insofern erstaunt es wenig, dass Ängste in Zuständen eigener Schwäche am stärksten sind, die im Sterbeprozess durch den Ich-Verlust automatisch hervortreten.
Eine Hospizhelferin erzählte mir, dass sie eine schwer krebskranke Frau begleitete, die zunehmend verzweifelt war aufgrund ihrer extremen körperlichen Einschränkungen und kaum zu ertragenden Schmerzen. Die Frau äußerte mehrfach, sich das Leben nehmen zu wollen. Gleichzeitig war sie von Ängsten aller Art gepeinigt.
»In unserem Hospiz gibt es eine Dame, die in solchen Fällen Meditationen durch eine Klangschale anbietet. Ich schlug der Frau vor, dieses einmal zu versuchen, da ich schon häufiger Zeuge war, wie die Töne einen Patienten nicht nur entspannt haben, sondern mitunter bewusstseinserweiternde Erfahrungen beförderten. So war es auch bei ihr. Später berichtete sie mir, dass sich ihre körperlichen Grenzen aufgelöst hatten und sie sich in einem Zustand ohne Schmerzen und Angst befunden hatte. Sie erlebte ein Gefühl des Grenzenlosen und nahm eine tröstende, befreiende Gegenwart wahr. Das war wie eine Annäherung an ein anderes unvorstellbares Sein, außerhalb aller Angst.«
Eine derartige Transzendenzerfahrung hebt die Angst vor dem Sterben auf und bringt Frieden.
Das Loslassen des Egos
Im Wechselbad zwischen Angst und Vertrauen in die Gotteskraft wird der Sterbende durch äußerst extreme Ängste geführt, bevor ein Zustand jenseits aller Angst erreicht wird. Während des Prozesses der Ablösung der Seele vom Körper berichten Sterbende häufig davon, ins Bodenlose zu fallen. Sie schreien oder halten sich fest, bevor sie Zustände innerer Befreiung und Glückseligkeit erreichen. Solange das Ich nicht losgelassen werden kann, wird Ohnmacht erlebt und der Schmerz nimmt zu. Das ist ein Zwischenzustand kurz vor dem Tod, der auch als Durchgangsrealität bezeichnet werden kann. Manche sprechen von einem Gefühl, wahnsinnig zu werden, weswegen die Angst extreme Ausmaße annehmen kann. In der Begleitung ist es wichtig, dem Sterbenden Frieden, Ruhe und Mitgefühl zu vermitteln, damit er weiß, dass er nicht allein ist.
»Frau Werner wurde von einem ambulanten Hospizdienst und einigen Verwandten zu Hause betreut. Sie wollte lange Zeit nicht wahrhaben, dass sie an ihrer schweren Krebserkrankung sterben würde, und hatte verschiedene alternative Heilangebote ausprobiert, von Naturheilkunde über Rebirthing bis hin zu einer Psychotherapie.
Doch nun lag sie endgültig im Sterben und war ihren Ängsten ausgeliefert. Dann geschah ein Wunder: Frau Werner erlebte inmitten ihrer Verzweiflung und ihrer Angst eine außerkörperliche Erfahrung. Sie sprach von einem Licht und einer erfüllenden Liebe, die einfach da war. Es war ein losgelöster Zustand, in der sich alle Ängste aufhoben. Kurz darauf konnte sie in Frieden sterben.«
Im Sterben stößt das Ich an seine Grenzen und der Betroffene hört auf, zu denken und zu verstehen. Er hat nicht länger die Kontrolle über sich und kann nicht mehr selbst bestimmen. Wir sind mit der Aufgabe konfrontiert, jegliche Kontrolle oder Selbstbestimmung aufzugeben. Nur dann können...