Das aktive Denken
Goethe sagte am Ende seines Lebens: „Hab ich es nicht gut gemacht, hab niemals übers Denken nachgedacht“. Wir sind als denkende Wesen fähig, der Natur und der Welt mit Bewusstsein gegenüberzutreten und sie in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Denken ist Bewusstseinsqualität. Sie macht den Menschen erst zum Menschen. Was die Welt der Formen, die physische Welt, teilt und trennt, das wird vom aktiven Denken wieder in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht. Solches Denken ist eine direkte Brücke vom freien Ich zum „gebundenen“ Ich! Nicht die passive Vorstellung, nicht das Erinnern, nicht das Referieren von fremden Inhalten, sondern das sinnvolle Verbinden der Wahrnehmungen in neue Zusammenhänge, schafft diese Brücke.
„Am Anfang war das Wort“? Nein, es ist nicht das „Wort“, welches nach der Übersetzung Luthers am Anfang aller Entwicklung steht, wo es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Dasselbe war am Anfang bei Gott.“ (Vers 1.1. von Johannes). Die Übersetzung „Wort“ ist aus der altgriechischen Sprache von „Logos“ abgeleitet. Aber "Logos" bedeutet nur in sekundärem Sinne „Wort“: Es ist eine abgewandelte Alltagsform desselben Begriffs. In den Urtexten steht dafür: „der Ursprung des Denkens“. Man kann durchaus von „Sinn“ sprechen, jedenfalls kann nicht das simple „Wort“ damit gemeint sein.
Der Ursprung des Denkens! WOW! Man kann sich fragen: Ist das Wort, der Ursprung des Denkens? Viel eher würden wir das Wort mit dem Produkt des Denkens in Verbindung bringen. Der Begriff bildet sich am Denken, nicht das Denken am Begriff. Demnach kann das bloße Wort nicht die Bedeutung: „Ursprung des Denkens“ haben. Wenn wir den Vers in dieser neuen Weise übersetzen, dann müsste es heißen: „Im Anfang war der Ursprung des Denkens, und der Ursprung des Denkens war bei Gott und Gott war der Ursprung des Denkens“.
Da ergibt sich neuer Sinn! Nicht das Denken selbst und schon gar nicht die passive Vorstellung steht am Anfang, sondern dessen Ursprung: die aktive Quelle, aus welcher das Denken entspringt. Also ist Gott in uns, weil wir denkende Wesen sind. Wir haben Anteil an ihm, insofern wir denkende Wesen sind.
Gedanken wie Vorstellungen erschaffen in uns (Lebens-) Motive. Sie erschaffen in uns feste Strukturen, Muster, die unsere Gefühle und vor allem auch Emotionen erzeugen. Damit initiieren sie handlungsleitende Impulse. Was sich in dieser Weise verfestigt, ist nicht etwa die freie „Intuition“, welche aus der „moralischen Phantasie“ (Steiner: Philosophie der Freiheit3), gewonnen wird. Vielmehr sind es sich wiederholende, passive Vorstellungen, welche aus dem formalen Verstandesdenken entstehen. Gefühle, welche in diesem Kontext entstehen, werden Emotionen genannt.
Im Leben taucht immer wieder die Frage nach der Freiheit des Willens auf. Das ist eine der Grundfragen in der Philosophie überhaupt. Passive Gedanken haben in uns eine ungeheure Kraft. Das Erkenntniswerkzeug des Denkens schafft im Spannungsfeld zwischen Form, Stoff und Geist den Grundstein zur inneren Entwicklung und Reife.
Was als Ziel dessen ansteht, eine wirkliche geistige Freiheit, wird durch das „Schattenwesen“ der Formidentität verdeckt. Die wirklich freien Taten, welche aus bewussten Motiven heraus ergriffen und in die Handlung gebracht werden, bleiben dem gebundenen Ich weitgehend verdeckt und unerreichbar.
Abb.: Gedankenstrom
Erst auf dem Weg zu seiner inneren Entwicklung, erwacht es nach und nach in seinem freien Ich. Erst jetzt können freie Impulse geschaffen werden, die den Charakter der Gebundenheit durchbrechen.
Aktives Denken, wenn wir es unabhängig von unserer individuellen Wesenheit begreifen, ist universell. Persönlich gebunden und subjektiv wird es erst dann, wenn es sich mit der emotionalen Formenwelt des Individuums, passiv, verbindet. Diese aus unserer Persönlichkeit und Biographie gegossene und geprägte Formenwelt hat mitunter eine zerstörerische und einengende Wirkung.
Intermezzo: Logik
Der Spezialfall des aktiven Gedankenlebens ist die logische Schlussfolgerung. Wohl jeder Mensch wird übereinstimmen, wenn ich sage: Der pythagoreische Lehrsatz bleibt bestehen bis ans Ende aller Tage.
Dass: a2 + b2 = c2 im Fels der objektiven Anschauung ewig eingemeißelt bleibt, kann auch von der Tatsache nicht verdrängt werden, dass Herr Müller oder Herr Meyer gegenteiliger Meinung sind. Sie werden zum gleichen Ergebnis kommen, wenn sie richtig rechnen (beziehungsweise logisch denken) können. Es würde niemand behaupten, die Gedanken von Herrn Müller und Herrn Meyer seien zufällig, subjektiv und persönlich, wenn sie zum gleichen Resultat kommen. Trotzdem haben möglicherweise beide aus sich selbst heraus, ohne das jeweilige Zutun des anderen, denselben Schluss gezogen.
Das konnten sie deshalb, weil sie aus ihrer persönlichen passiven Gedankenwelt herausgetreten sind und Anteil genommen haben an universellen Gesetzmäßigkeiten. Würden die beiden nicht zum gleichen Ergebnis kommen, dann wird niemand in der Welt deswegen den pythagoreischen Lehrsatz anzweifeln!
Aristoteles4D führte folgende Beobachtungen an: Er stellte einen Satz vor die Zuhörer, der unbedingt richtig und unantastbar, also objektiv und allgemeingültig war. Dieser Satz lautete: „Alle Menschen sind sterblich“. Es würde nichts am Prinzip ändern, wenn wir sagen würden: „Der menschliche Körper ist sterblich“.
Jeder kann den Satz bedingungslos mitunterschreiben. Er ist objektiv und allgemein gültig. Aristoteles stellte den Folgesatz auf: „Sokrates ist ein Mensch“. Gleich dem ersten könnte ich nun sagen: „Sokrates hat einen menschlichen Körper“, weil ich auf das Körperhafte meines ersten Satzes Bezug nehmen möchte. Daraus leitete Aristoteles einen logischen Schlusssatz ab, welcher sich auf die beiden vorigen Sätze bezieht und deren Inhalt in eine zwingende, objektive Ableitung bringt.
„Also ist der Körper von Sokrates sterblich“. Das ist der logische Schluss, der sich auch ohne unsere persönliche Färbung ohne weiteres ergibt. Wir nennen ihn deshalb objektiv.
Diese Art von Schlussfolgerungen haben nichts mit Identifikationsproblemen zu tun, weil ihre Autorität außerhalb des eigenen Selbst oder Ich liegen! Nicht alle unsere Gedanken sind somit an das persönliche Ich gebunden. Es muss klar unterschieden werden zwischen passiven Vorstellungen, Interpretationen, Dogmen, Meinungen, und dem außerhalb unserer Persönlichkeit liegenden Prinzips des logischen Schlusses!
Allerdings bilden sich unsere persönlichen Gedankenfolgerungen selten innerhalb dieses „Logos“ ab. Der Alltag wird somit bestimmt durch das erste Prinzip: der Subjektivität.
Es ist das aktive Denken, welches menschliches Bewusstsein (z. B. in der Mathematik) mit dem universellen Bewusstsein verbindet. Wir sind als Menschen dadurch mit der ganzen Welt verbunden und haben Anteil an einem „göttlichen Ganzen“. Dabei ist es einerlei, ob wir es „Gott“ nennen oder „Logos“ oder „Ursprung des Denkens“ oder meinetwegen auch Kühlschrank.
Allerdings ist es im normalen Alltagsleben nicht üblich, dass sich Gedanken mit solchen universellen Schlüssen gegebenenfalls durchsetzen. Wäre dem so, dann bräuchten keine Bücher mehr geschrieben werden, es gäbe weder Konflikte, noch Kriege auf dieser Welt. Die Konfrontation der gedanklichen Auseinandersetzung mit der realen Welt ist dennoch ein „must have“ und eine Tatsache. Deshalb kann, ebenfalls mit einer gewissen Logik, geschlossen werden, dass es ein Individuelles, persönlich-subjektives Gedanken- und Vorstellungsleben in jedem Menschen gibt. Nicht immer wird es sich am Universum orientieren. Es bleibt eingeschlossen ist in der eigenen, gebundenen Formidentität.
Was als „universeller Gedanke“ am mathematischen Beispiel leicht begreifbar ist, lässt sich nicht ohne weiteres in das Alltagsleben übertragen. Die Emotionen, welche durch Sympathie und Antipathie, persönliche Gedanken färben oder von ihnen erzeugt werden, zwingen sie dadurch auch in ein formales Korsett.
Ob mir die Bluse meiner Freundin gefällt oder nicht, hat für die restliche Welt wenig Relevanz. Dieses Urteil hat nur eine Bedeutung für mich selbst und für meine Freundin natürlich. Vielleicht bekomme ich Zugeständnisse von anderer Seite? Schön! Für mich! Es ist ja immerhin möglich, dass meine Schwiegermutter diese Bluse auch schön findet. Das vermag vielleicht mein Verhältnis zu ihr verbessern, für den Weltfrieden wird es kaum maßgeblich sein. Das Urteil basiert nicht auf universeller Gesetzmäßigkeit, sondern durch eine, sagen wir mal, zufällige, persönliche Übereinstimmung. Diese hat nicht die Bedeutsamkeit eines pythagoreischen Lehrsatzes, sondern erklärt sich lediglich durch das gemeinsame Geschmacksempfinden.
In dieser Weise gibt es viele Arten von dynamischen Gruppenbildungen mit kongruenten Urteilen. Man sieht dies sowohl in der Beurteilung von Kunstwerken, wie auch in der Politik, in der Wirtschaft und in vielen anderen...