Kapitel I Das verbotene Zimmer: Benjamins Herkunft
Mein guter Vater war in Paris gewesen.
Karl Gutzkow, Briefe aus Paris, 1842,
von Benjamin zitiert 1935
«In einer großen, alten Stadt lebte einmal ein Kaufmann. Sein Haus stand in einem der allerältesten Stadtteile, in einem engen schmutzigen Gässchen. Und in dieser Gasse, wo schon alle Häuser so alt waren, dass sie nicht mehr allein stehen konnten und sich alle an einander anlehnten war das Haus des Kaufmanns das älteste. Es war aber auch das größte. Mit seinem mächtigen gewölbten Türbogen und den hohen und bogigen Fenstern mit den halberblindeten Butzenscheiben, mit dem steilen Dach, in dem eine ganze Anzahl schmaler Fensterchen angebracht waren sah es recht seltsam aus – das Haus des Kaufmanns, das letzte Haus in der Mariengasse. Es war eine fromme Stadt und viele Häuser hatten in schönem Schnitzwerk das Bildnis der heiligen Jungfrau oder irgend eines Heiligen über der Haustür oder am Dache angebracht. Auch in der Mariengasse hatte jedes Haus seinen Heiligen – nur das des Kaufmanns stand kahl und grau, ohne Schmuck da.»[1]
So beginnt der früheste Text, der von Walter Benjamin überliefert ist, er wurde nicht vor 1906 geschrieben. Benjamin mag damals vierzehn Jahre alt gewesen sein. Ein Kaufmann in betont christlicher Umwelt, eine gewisse kulturelle Differenz sieht man akzentuiert. Der Kaufmann wird wohl ein Fremder dem Glauben nach sein, denn obwohl er in der frommen Mariengasse lebt, vermeidet sein Haus den Schmuck mit Heiligenfiguren. Das Haus fällt auf, es ist «seltsam». Und auch sein Eigentümer fällt aus dem gewohnten Kreis der Stadt heraus: «Der Kaufmann war kein gewöhnlicher Krämer, bei dem die Leute ihre Kleider und ihre Gewürze einkauften – nein! Er verkehrte nicht einmal mit den armen einfachen Bewohnern der Gasse. Tagaus tagein saß er in seiner großen Rechenstube mit den hohen Schränken und den langen Regalen und buchte und rechnete. Denn sein Handel erstreckte sich weit über das Meer, in ferne, entlegene Länder» – also womöglich in die Levante oder nach Spanien und Portugal. In einer Umwelt, die durch ihr Alter ausgezeichnet ist und in traditionellen Bahnen ihren Handel betreibt, vertritt dieser Kaufmann ein anderes Prinzip, das internationale, das des Fernhandels im großen Stil, durch den exotische Waren ins Land kommen. Damit wird das Jüdische angedeutet.[2]
Mit welchen Waren der Kaufmann handelt, erfahren wir nicht – nur dass er in seiner Tätigkeit ganz aufgeht, Kalkulation ist sein Leben. Abstrakt und monumental wird ein großer jüdischer Händler skizziert. Nun biegt die Geschichte ins Märchen- und Rätselhafte ab. In dem Haus nämlich lebt ein Mädchen: «Das Mädchen war nicht seine Tochter, aber es lebte bei ihm, er zog es auf und das Kind half in der Wirtschaft. Wie es aber in des Kaufmanns Haus gekommen war, das wusste niemand so recht.»
Die Herkunft des Mädchens ist nur der erste Teil des Rätsels. Der zweite weckt keine guten Ahnungen, er klingt nach dem bösen Ritter Blaubart und nimmt das alte Motiv des verbotenen Zimmers auf: «Eines Tages stand der Kaufherr wieder vor dem Mädchen und sagte ihr, er müsse wiederum auf einige Zeit die Heimat verlassen. ‹Ich weiß nicht, wann ich wieder zurückkehren werde sprach er. Sorge du wieder, wie früher für das Haus – aber, unterbrach er sich, ich sehe du bist jetzt groß genug, du kannst in meiner Abwesenheit nach deinem Willen im Hause walten. Hier nimm die Schlüssel.› Das Mädchen, das bisher schweigend vor ihm gestanden hatte und mit großen Augen die fremden bunten Blumen betrachtet hatte, die auf das Gewand des Kaufherrn gestickt waren, blickte empor und nahm die Schlüssel. Da plötzlich sah der Kaufherr sie streng an. Dann sprach er in scharfem Ton: ‹Du weißt wohl, dass du die Schlüssel nur für die Wirtschaftszimmer benutzen darfst. Lass dich nie versuchen, in das obere Stockwerk hinaufzusteigen. Verstehst du?› Schüchtern bejahte das Mädchen. Dann beugte der Kaufmann sich zu ihr nieder, küsste sie, blickte sie noch einmal durchdringend an, dann stieg er die Treppe hinunter und verließ das Haus. Hinter ihm fiel die Haustür dröhnend ins Schloss. – Immer noch stand das Mädchen träumend an der Treppe und betrachtete den großen Bund altertümlicher Schlüssel, den sie in der Hand hielt.»
Hier endet das Fragment. Der Kaufmann, eine bestimmende Macht, hinterlässt ein Rätsel. Das Mädchen kann das Rätsel nicht lösen, nur darüber nachgrübeln; es kann nur betrachten, und es betrachtet die Dinge mehr als den Menschen.
«Ich bin am 15. Juli 1892 in Berlin als Sohn des Kaufmanns Emil Benjamin und seiner Frau Pauline, geb. Schoenflies geboren. Beide Eltern sind am Leben. Ich bin mosaischer Konfession.»[3] Das Rätsel des Novellenfragments ist Benjamins eigenes. Emil Benjamin (1858 bis 1926) hatte ursprünglich eine Banklehre gemacht und war für einige Jahre in Paris in einer Bank tätig gewesen. Später wurde er Teilhaber von «Rudolph Lepke’s Kunst-Auctions-Haus», einer der maßgeblichen Adressen des Berliner Kunsthandels, begründet hatte die Kunsthandlung schon Rudolph Lepkes Großvater Nathan Levi Lepke. Nach 1900 – das genaue Datum ist nicht feststellbar – verkaufte Emil Benjamin seine Anteile. Der Großvater väterlicherseits, Bendix Benjamin, geboren 1818, gestorben 1885, war zuletzt «Rentier»[4], vorher als Kaufmann tätig; in welcher Branche, lässt sich nicht mehr ermitteln. Der Urgroßvater Elias (später Emil) Benjamin, geboren 1769, gestorben 1835, aus wohlhabender Kaufmannsfamilie stammend, war Detailtuchhändler.[5] Der Großvater mütterlicherseits, Georg Schoenflies, war Tabak- und Zigarrenfabrikant.
Die Tätigkeit von Emil Benjamin muss uns interessieren, insofern sie dem Kunsthandel galt, der Kaufmannsberuf aber war zu dieser Zeit für deutsche Juden typisch. So schildert es Gershom Scholem in seiner Analyse der jüdischen Berufsstatistik: «Im Jahre 1907 waren von 100 Erwerbstätigen etwas über 50 Prozent im Handel und 21 Prozent in der Industrie tätig, dagegen damals immer nur noch etwa 7 Prozent in den freien Berufen, 1,5 Prozent in der Landwirtschaft, Tierzucht und Gärtnerei; fast 20 Prozent erklärten sich als Rentiers oder machten kein Berufsangabe – ein erstaunlich hoher Prozentsatz, zu dem man wohl die mit Finanzgeschäften, lies: Wucher, sich Befassenden zählen muss, die sich scheuten, ihre Geschäfte klar zu bezeichnen.»[6]
Benjamin selbst hat von einem Rätsel des Vaters gesprochen. In den autobiographischen Aufzeichnungen der «Berliner Chronik» heißt es dazu: «Die ökonomische Basis auf der die Wirtschaft meiner Eltern beruhte, war lange über meine Kindheit und Jugend hinaus von tiefstem Geheimnis umgeben.» Sein Vater habe an sich «die unternehmende Natur des großen Kaufmanns» gehabt. «Ungünstige Einflüsse verschuldeten, dass er sich viel zu früh von einem Unternehmen zurückzog, das seinen Fähigkeiten wahrscheinlich gar nicht schlecht entsprochen hat: dem Kunstauktionshaus von Lepke, das damals noch in der Kochstraße lag und an dem er Teilhaber war.» Nachdem er seine Anteile an Lepkes Unternehmen abgegeben hatte, sei der Vater «mehr und mehr zu spekulativen Anlagen seiner Gelder gekommen». Bezeichnend ist, dass Benjamin seinem Vater die unternehmende Natur des «großen Kaufmanns» zuspricht, und fast mag man einen leisen Vorwurf heraushören, wenn dann von den spekulativen Geldanlagen die Rede ist, die eine weitere kaufmännische Aktivität nicht mehr zu erfordern schienen.[7]
Walter Benjamin mit seinem jüngeren Bruder Georg und den Eltern, Pauline und Emil Benjamin.
Wenn es stimmt, dass Söhne dazu neigen, einen Beruf zu wählen, der es ihnen erlaubt, in das Geheimnis des Vaters einzudringen – so deuten wir Freuds These vom Ödipuskomplex für unsere Zwecke um –, dann war die Lösung aller Rätsel des Kaufmannsberufes das, was Benjamins Lebenswerk ausmachte. Sein Freund, der Philosoph Ernst Bloch, hat Benjamins Buch «Einbahnstraße» so charakterisiert: «Hier war eine (…) Ladeneröffnung von Philosophie mit den neuesten Frühjahrsmoden der Metaphysik im Schaufenster.»[8] Und der Zusammenhang – oder der Kontrast – zwischen dem Kaufmannshaus der Erzählung und den «frommen» Nachbarn kehrt wieder in Benjamins Überlegungen zu «Kapitalismus als Religion»: «Vergleich zwischen den Heiligenbildern verschiedner Religionen einerseits und den Banknoten verschiedner Staaten andererseits. Der Geist, der aus der Ornamentik der Banknoten spricht. Kapitalismus und Recht.»[9] Das Thema zieht sich durch Benjamins Werk – bis hin zur spätesten Epoche, in der Charles Baudelaire als Dichter in der Warenwirtschaft dargestellt wird.
Emil Benjamin war aber nicht nur im Kunsthandel tätig und muss insofern ein kennerschaftliches Urteil besessen haben, sondern er hatte auch andere kulturelle Interessen, wie Scholem überliefert: «Schon früh scheint er eine größere Autographensammlung angelegt zu haben, von der mir Walter Benjamin mehrfach erzählte. Er besaß darunter als besondere Kostbarkeit einen großen Brief von Martin Luther.»[10] Emils Schwester wiederum, Benjamins Tante Friederike, war «eine der ersten Graphologinnen, die bei Crépieux-Jamin studiert hatte, und...