Eigene Wurzeln
VON MEINEM GÄRTNERISCHEN URGRUND
Alles Leben wächst aus dem Dunkeln. Dort ruhen die Samen manchmal eine halbe Ewigkeit und warten, bis ihre Zeit kommt, um ans Licht zu sprießen. Ruhe, Wachstum, Blüte, Frucht und Reife: Alles braucht seine Zeit. Auch die Waldengelwurz, die ich mir jahrelang »vergeblich« in meinem Waldgarten gewünscht hatte. Immer wieder habe ich Samen ausgesät, doch nichts geschah. Nach über zehn Jahren sind unerwartet zwei Pflanzen gewachsen, und das gerade in einer Zeit, in der mir Engel solcher Art mehr als willkommen waren. Was für ein Geschenk!
Wenn wir von Pflanzen sprechen, haben wir meist nur einen Teilzustand ihres Lebens vor unserem inneren Auge: die Blüte und die Frucht. Wir lieben blühende, duftende Blumen, prachtvolle grüne Bäume, saftige süße Früchte und eine knackige, reichhaltige Gartenernte.
Die Lebensgeschichte der Setzlinge, die wir in unsere Gärten tragen, interessiert uns eher wenig. Hauptsache, die Grünlinge wachsen, werden schön stramm und bringen Ertrag. Uns Menschen der heutigen Gesellschaft geht es ja auch nicht anders: Jung, schön und erfolgreich ist gefragt; was kränkelt, schrumpelt und welkt oder sich gar zur Erde neigt – wie die alten Leute, die ihre Kräfte verlieren und bucklig werden –, ist nicht erwünscht.
Die Daseinsgeschichte jeder Pflanze beginnt und endet aber im Dunkeln, so wie auch die unsrige. Im Bauch der Mutter Erde träumen sich die Samen in ihre Gestalt, mit der sie ans Licht wachsen werden. Werden sie geweckt und gekitzelt von den warmen Sonnenstrahlen, recken sie sich dem Licht entgegen, so wie auch wir Menschen es tun auf unsere mannigfaltige und oft undurchsichtige Art. Selbst das egoistische Streben nach Macht und Erfolg mag ein solcher Versuch sein. Doch immer ist es die nährende Dunkelheit und Stille, die uns die Kraft gibt, ans Licht zu gelangen. Ein Burn-out, an dem immer mehr Menschen leiden, kann nur entstehen, wenn wir uns keine Zeit mehr nehmen zu träumen, in den nährenden Erdboden der eigenen Seele zu tauchen und dem Lied des Lebens zu lauschen.
Beobachte ich die Menschen, die im Frühjahr in die Gartencenter strömen, in ihren Einkaufswagen Haufen blühender Blümchen – im Dutzend billiger –, Beerenstauden und Rosenbäumchen, daneben gleich auch Unkrautvertilger, Dünger und Pflanzenschutzspray, dann rätsele ich immer, warum diese Pflanzen solches von uns Menschen ertragen und nicht schon bei der Aufzucht eingegangen sind. Träumen sie davon, dass wir Menschen erwachen und sie doch eines Tages in ihrem Sein wahrnehmen? Welche Geduld, welche Liebe doch aus dieser grünen Welt zu uns strömt!
Garten als Seelenraum
Auch im Zurechtstutzen und Trimmen der Gärten nach menschlichen Kriterien ist Sehnsucht spürbar. Unsere Gärten sollen zu Oasen werden, die uns nähren – und zwar nicht nur kulinarisch, sondern mit allen Sinnen: Wir ersehnen die Schönheit der Natur, einen Erholungsraum, Vogelgezwitscher und Bienensummen, wir hungern nach Seelennahrung. Doch wie soll diese uns denn zukommen, wenn wir der Natur nicht ihren Seelenraum lassen?
Der Garten als Seelenraum wird immer wichtiger in einer Zeit, in der wir uns zunehmend von der wilden Natur entfernen und damit von unseren eigenen Wurzeln abtrennen. Der Klick auf eine Maus ist vertrauter als deren scheuer Blick aus schwarzen Knopfäuglein.
Doch zum Glück hat sich die wilde Natur die Menschenseele als Verbündete gewählt: Je mehr der Mensch sich von der Erde distanziert, desto mehr gedeiht gleichzeitig seine Sehnsucht nach Verbindung mit ihr. Siehe da: Auf Terrassen und Balkonen wachsen längst nicht mehr nur Geranien. Gemüse wuchert über Fassaden, hoch über den Straßen ernten eifrige Städter frische Tomaten, Fruchtbäumchen werden in Töpfen gezogen, Zwiebeln und Kopfsalat zieren die Fensterfront, und experimentierfreudige Stadtimker versuchen sich gar im Honigschleudern. Urban Gardening nennt sich das. Der Wunsch nach einem kleinen Paradies und ein bisschen Grün ist riesig. Meist beginnt alles voller Hoffnung, Freude und Sorgfalt. Liebevoll und natürlich »bio« werden junge Pflänzchen ausgebracht und sorgfältig gehegt – bis es erste Invasionen aus der kleinen Welt gibt: Dickmaulrüssler marschieren ins Paradies ein, und ratzeputz sind Blättchen verschwunden, Wurzeln abgenagt. Ameisenheere züchten auf wohlriechenden Blütenpflanzen ihre klebrigen Läuse. Aus der frisch gekauften Bioerde kriechen Horden nackter winziger Babyschnecken mit weniger unschuldigem Appetit. In einer einzigen Nacht haben sie die zarten Salatsetzlinge verputzt und die wohlriechenden Cherry-Tomaten durchlöchert …
Die Natur hat eine eigenartige Sprache, nämlich die ihr eigene. Sie ist nicht so einfach zu verstehen für unsere Gattung, die oft sehr konkrete Vorstellungen hat, wie der persönliche Paradiesgarten – und sei er noch so klein – aussehen soll.
Vielleicht haben Sie einen grünen Daumen? Der Weg zum Garten meiner Träume jedenfalls ist noch immer weit und voller Überraschungen. Manchmal habe ich das vage Gefühl, mein Garten erträume mich. Immerhin hat sein Einfluss, der inzwischen elf Jahre dauert, mich schon ziemlich stark auf den Boden gebracht.
Willkommen in der Wildnis
Damals konnten wir einen halben Hektar Land in landwirtschaftlicher Umgebung pachten. Unser Vorgänger war Gartenbaufachmann und hatte bereits viele Bäume angepflanzt. Der Ort diente ihm zum Teil als eine Art »Zwischenlager« für seine Bäume, unter denen auch sehr seltene Zierbäume waren. Er selbst bezeichnete ihn als Baumschule, doch uns schien das eine sehr lockere und freie Schule zu sein. Keine Spur von Bäumen in züchtigen Reihen. Liebevoll hegte er seine Jungbäume, die er hübsch in einem Kreis angelegt hatte, mit dem Hintergedanken, später im Alter einmal eine Oase im Grünen zu haben.
Doch er wurde krank. Seine Bäume wuchsen ihm über den Kopf, das Land verwilderte immer mehr. Ackerdisteln, Riesenkletten, meterhohe Brennnesseln übernahmen das Regiment. Winden und Brombeerranken kletterten über die Bäume hinweg, und das immer wildere Dickicht büxte über die Zäune aus in umliegende Felder und Wege. Bauern und Nachbarschaft beschwerten sich und forderten von dem sowieso schon angeschlagenen Mann, alle Bäume zu fällen und das Land in den ursprünglichen Zustand zu versetzen, um es wieder der Landwirtschaft zugänglich zu machen. In dieser Situation kamen wir dazu. Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ausgerechnet wir diese Wildnis übernehmen und weiter pachten durften.
Dornröschen
Voller Liebe zur Natur, doch mit dürftigen Gartenkenntnissen machten wir uns an die Arbeit – oder was wir darunter verstanden. Die ersten Jahre versuchten wir auf unterschiedlichste Weise immer wieder, diesem Fleck Erde unsere Träume aufzuzwingen. Wir gruben, schnitten, jäteten, durchforsteten die Wildnis im Schweiße unseres Angesichts. Wir mähten, ackerten, steckten Blumenzwiebeln, säten und pflanzten. Schließlich wollten wir ja Beeren, Obstbäume, Inseln von Blüten einheimischer Wildkräuter, Heilkräuter, Gemüse. Ein Badeweiher wurde ausgebuddelt, ein Gemüsegärtchen mit Schneckenzaun angelegt, Samen ausgesät für ein Blumenmeer … Und das alles wollten wir selbstverständlich, ohne jegliches Gift zu gebrauchen – etwas, das unser Vorgänger in rauen Massen gespritzt hatte, um der Wildnis Herr zu werden. Doch wir träumten ja auch von vielen Tierchen, einer Idylle für Igel, Vögel, Wildbienen und Schmetterlinge, die hier alle in Harmonie ihren Platz finden sollten.
Das Land atmete auf. Und Schritt für Schritt begann der Waldgarten, uns zu sich zu führen: Alles, was wir zurückschnitten, wuchs umso besser. Schnecken, Wühlmäuse, Käfer und Mücken begrüßten uns herzlich und taten sich gütlich an unserer Tafel: feine Sonnenblumen, köstliche Blumenzwiebeln, zarte Gewürzpflänzchen schmeckten ihnen wunderbar, und sie riefen sogleich ihre ganze Sippschaft herbei, um uns vorzustellen. Mücken, Fliegen und Zecken liebten uns vom ersten Moment an. Sie schlossen spontan Blutsbrüderschaft, wann immer wir durch die Wildnis streiften oder abends am Feuer saßen. Verbündete wurden mir auch die Brombeeren. Ihre langen Ranken zerkratzten mir mit nie nachlassender Begeisterung Beine, Arme, Gesicht und hielten mich fest, wo immer sie meiner habhaft werden konnten.
Nicht weniger die Riesenkletten, deren hakenreiche Samenbällchen ich ständig in meinen Haaren fand und kaum mehr herausbekam. Das Gras wuchs nicht nur dick und fett, sondern in Kürze hüfthoch. Die Samen für eine zarte Bienenblütenwiese haben die Mäuse wohlig in ihren Mägen verdaut – oder, wer weiß, vielleicht träumen die Samen noch immer im Erdreich von ihrer Blüte.
Wie mein Garten mich träumt
So flossen die Jahreszeiten dahin, Jahr um Jahr drehte sich, und die grüne Kraft war stets findiger als wir. Der Badeweiher wurde grün und schlammig, längst tummelten sich dort Libellen, Salamander, Frösche und Wasserspinnen, gemeinsam mit der Schlammprinzessin – wir ließen ihnen höflich den Vortritt.
Langsam lerne ich, suche mehr und mehr Kompromisse und teile mit den wüchsigen Wesen gewisse Reviere, doch den größten Teil überlasse ich ihnen. Mir scheint, sie sind weiser als wir. Der Versuch, mit ihnen zu »gärtnern«, ist nach wie vor in vollem Gange. Denn noch entspreche ich nicht dem Traum, den mein Garten von mir träumt. Immer wieder erinnert er mich sanft daran, indem er mir zeigt, wie das Richtige oft von selbst geschieht – hätte ich nur die Geduld gehabt, hinzuschauen und auf den richtigen Zeitpunkt zu warten.
Über den...