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E-Book

Gehen, um zu bleiben

Wie ich in die Welt zog, um bei mir anzukommen

AutorAnika Landsteiner
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641203016
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Wie weit müssen wir fahren, um irgendwann einmal anzukommen? Die Antwort auf diese Frage muss jeder selbst herausfinden, doch das Wichtigste ist erst einmal das Losfahren. Denn wer nicht wegfährt, kann auch nicht heimkommen. Für Anika Landsteiner ist Reisen eine Herzensangelegenheit, die sie bereits um die ganze Welt geführt hat. Nur wenn man das warme Nest zu Hause verlässt, kann man sich für die Welt öffnen und das entdecken, was man liebt - auch wenn es manchmal mit Strapazen verbunden ist. Mit ihren Beobachtungen und Gedanken zeichnet sie manchmal das große Bild, manchmal spürt sie Zwischentöne auf - ob auf Dschungelpfaden in Kolumbien oder einem staubigen kalifornischen Highway. Der richtige Zeitpunkt zum Losfahren? Immer genau jetzt!

Anika Landsteiner absolvierte eine Ausbildung zur Schauspielerin, ehe sie sich dem Schreiben zuwandte. Seit 2010 schreibt sie für verschiedene Online- und Printmedien wie Jolie, ze.tt, welt.de und Qiio. Außerdem hat sie zwei Jahre das renommierte Münchner Stadtmagazin MUCBOOK geleitet und den Reiseblog Ani denkt entwickelt. Ihr erstes Buch 'Gehen, um zu bleiben' erschien 2017, ihr Debütroman 'Mein Italienisches Vater' 2018. Zudem moderiert Anika Landsteiner den Podcast ÜberFrauen, in dem sie weibliche Gäste interviewt.

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Leseprobe

FREIHEIT
oder
Warum ein Roadtrip ein gebrochenes Herz heilen kann.

USA, August 2010

Wenn mich jemand, damals wie heute, fragen würde, was mich wirklich glücklich macht, dann würde ich Folgendes antworten: ein Roadtrip mit einem Menschen meines Vertrauens in einem Ford Mustang Cabrio V8, Baujahr 67, einem verdammt guten Woodstock-Mixtape und einem Ziel: Kalifornien.

Diesem Bild, meinem persönlichen Sinnbild von Freiheit, bin ich im Sommer 2010 ziemlich nahe gekommen. Zwar fuhr anstelle des schicken Oldtimers ein beliebiger Geländewagen vor, dafür saß aber eine gute Freundin darin, was bedeutete: zwei gebrochene Herzen auf dem Weg von Los Angeles nach San Francisco. Es war der vielleicht kürzeste Roadtrip der Welt, ein Tag Freiheit, und doch veränderte er so viel in mir. Weil er den Grundstein legte für alle Reisen, die noch folgen würden, und in mir die Leidenschaft für das Aufbrechen weckte.

Das Jahr 2010 hatte furchtbar begonnen. Nach einem monatelangen Kampf war im Frühjahr meine fünfjährige Beziehung zerbrochen, und ich brauchte Wochen, um wieder auf die Beine zu kommen. Es war mein Abschlussjahr an der Schauspielschule, und so kam es, dass ich den Sommer über an einem Seminar an der Hochschule für Fernsehen und Film München teilnahm und im Rahmen dessen Kurzfilme drehte. Ich fand zu dieser Zeit langsam wieder zu mir selbst zurück und versuchte, mir klarzumachen, was ich konnte und, vor allem, was ich wollte.

Was ich in erster Linie wollte, war, diese schlimmen Monate mit einem richtig fetten Knall zu beenden, am besten mit einem Urlaub in Kalifornien – ich wollte schon immer dorthin.

Meine Hände am Hollywood Walk of Fame in die von großen Vorbildern legen und durch San Franciscos Haight-Ashbury schlendern, das Viertel, das in den 60er Jahren nicht nur Wohnort von Jimi Hendrix und Janis Joplin war, sondern weltweit zur Geburtsstätte der Hippiebewegung avancierte. Die Golden Gate Bridge im morgendlichen Nebel sehen und mit dem Auto die Küste entlangfahren und das Gefühl von Freiheit spüren, mit dem Kalifornien so viele Menschen anzieht. Ich wollte meine Haare durch die Sonne bleichen sehen und das Salz auf meiner Haut spüren. Für mich waren und sind auch heute noch Tage am Meer Tage von Freiheit, und Tage von Freiheit sind Tage des Glücks. Und von Letzterem kann man nie genug haben.

Ich fragte meine Freundin und Schauspielkollegin Lisa, ob sie nicht mitkommen wolle, doch meine Pläne kollidierten mit ihren, also blieb mir nur die Wahl, meinen Traum aufzuschieben oder spontan zu sein und alleine zu gehen. Aber ganz ehrlich: Ich hatte zu dem Zeitpunkt zu oft Thelma & Louise gesehen, um auch nur eine weitere Sache von jemand anderem als mir selbst abhängig zu machen.

Ich buchte einen Gabelflug, weil ich in Los Angeles starten und in San Francisco meinen zweiwöchigen Urlaub beenden wollte. Als ich beim Sommerfest der Hochschule dem Leiter des Seminars von meinen spontanen Reiseplänen erzählte, steckte er mir einen Zettel mit einem Namen und einer E-Mail-Adresse zu und sagte: »Kommt nicht infrage, dass du da alleine bist. Melde dich bei meinem Freund, er ist Agent. Bei dem kannst du schlafen.«

So weit, so gut, das Glück schien endlich wieder auf meiner Seite und ein Agent in Los Angeles hörte sich für mich nach einem verdammt guten Start an. Also stieg ich ins Flugzeug, landete nach knapp vierzehn Stunden, und als ich mein Handy anschaltete, leuchtete eine SMS von Lisa auf: »Tomatensaft, bitte. Ich komme in einer Woche.«

Erst als ich in der glattgebügelten Siedlung mit den hübschen, kleinen Villen und den dazugehörigen, wie mit dem Lineal gezogenen Vorgärten ankam, kam ich auch wirklich in L.A. an. Es war unerträglich heiß, und das, was ich aus dem Taxifenster hatte sehen können, entsprach genau meiner Vorstellung von der Millionenstadt. Anders gesagt: Zu viele Filme wurden hier gedreht. Wer hollywoodaffin ist, kennt die Stadt schon vor der Ankunft.

Mit dem hinterlegten Schlüssel öffnete ich die Tür und war erst einmal überrascht, wie karg und lieblos das von außen so schöne Haus eingerichtet war. Ein Golden Retriever stürmte auf mich zu und sprang an mir hoch, dabei wirbelten riesige Staubflusen über den Parkettboden. Fast alle Räume waren, bis auf das Nötigste wie ein Bett, Schrank oder ein Tisch im Esszimmer, vollkommen leer. Keine Fotos oder Bilder an der Wand, keine persönlichen Gegenstände bis auf zwei Gitarren. Entweder hatte dieser Mensch keine Persönlichkeit oder er war schlichtweg nie zu Hause – ich wusste nicht, was davon ich trauriger fand, als ich dort stand und den schwanzwedelnden Hund kraulte, der vor Euphorie, eine ihm fremde Person zu sehen, immer wieder so rasant über den Holzboden schlitterte, dass er kaum abbremsen konnte und manchmal gegen Möbelstücke stieß. Er tat mir leid.

Steve, der Agent, stand mir dann am Abend gegenüber und bemühte sich nicht einmal, seine allgemeine Gleichgültigkeit zu kaschieren. Er tippte auf seinem Blackberry herum, während er mich begrüßte, und wir schafften es nicht mal, uns durch etwas Smalltalk zu hangeln, der Versuch eines Gesprächs stoppte irgendwo zwischen Hey, how are you? und der Frage nach dem nächsten Supermarkt.

Obwohl ich ihn unsympathisch fand, bewunderte ich gleichzeitig seine amerikanische Mentalität, mich einfach zu sich einzuladen, ohne mich zu kennen oder sich zuvor zumindest mal kurz mit mir auszutauschen. Es machte für ihn keinen Unterschied, ob ich hier war oder nicht, doch ich war hier und sein Haus war eben kein Hotel. Ich konnte daraus, so unwohl ich mich in seiner Gegenwart fühlte, etwas Positives ziehen. Zumindest für den Moment.

Als er am Abend erneut das Haus verließ und ich nicht wusste, ob und wann er wiederkommen würde, tat ich etwas, worüber ich heute nur schmunzeln kann. Weil ich wegen des Jetlags keinen vernünftigen Gedanken auf die Reihe bekam, fing ich an zu zweifeln, ob ich wirklich in der Villa bleiben sollte. Und aus Zweifeln wurde schließlich Angst, weil ich die Situation nicht einschätzen konnte und mir immer wieder vor Augen führte, dass ich alleine im Haus eines fremden Mannes schlafen würde. Also tat ich das für mich in dieser Situation einzig Richtige: Ich entschied mich für Hilfe zur Selbsthilfe, suchte in der Küche nach einem großen Messer, legte es unter mein Kopfkissen und schlief gegen neun Uhr ein.

Um sechs Uhr wurde ich von Schritten auf dem Flur geweckt. Ich lag mit angehaltenem Atem und unfähig, mich zu bewegen, in meinem Bett und lauschte, wie der Golden Retriever hinter Steve hertrottete. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, döste ich wieder ein, und als Steve eine halbe Stunde später wieder nach Hause kam und ich kurz darauf die Dusche hörte, zog ich mir vor Scham die Bettdecke über den Kopf: Er war mit seinem Hund joggen gegangen. Und das tat man in einem Sommer in Los Angeles so früh oder so spät wie möglich.

Ich brauchte einige Tage, um mich zu akklimatisieren. Die Zeitverschiebung von neun Stunden haute mich um, hinzu kam die Hitze. Und weil ich unter fünfundzwanzig war und ein Mietwagen deshalb für mich fast das Doppelte kostete, verzichtete ich auf diesen Komfort und war damit womöglich der einzige Mensch, der in dieser Stadt jemals eine Strecke zu Fuß gegangen ist.

Ich liebte es, spazieren zu gehen, von mir aus auch stundenlang, aber per pedes durch eine der weitläufigsten Städte überhaupt, das war eine vollkommen absurde Idee. Manchmal, vor allem, wenn ich nach Santa Monica oder Venice wollte, nahm ich den Bus. Ein sagenhaftes Upgrade, das sicherlich nur ich so empfand, denn den Bus nutzen in Los Angeles nur diejenigen, die sich kein Auto leisten können.

Los Angeles ist der Inbegriff von Gegensätzlichkeit. Während dieser langen Fahrten konnte ich mir relativ schnell ein Bild davon machen, dass Los Angeles ein komprimiertes Abbild des amerikanischen Lebens darstellte. Der Größenwahn, die Absurdität und Zerrissenheit können anfänglich schockieren. Die Burger passen kaum in den Mund, niemand, absolut niemand, fährt einen Kleinwagen, überall laufen blondierte Babes mit aufgeblasenen Wannabe-Rockys herum, und alle sehen aus, als seien sie dem Tele-Gym entsprungen.

Der Kontrast zwischen Arm und Reich, zwischen Selbstdarstellung und Unsichtbarkeit ist nicht nur extrem, er ist zudem messerscharf. Freundliche Offenheit steht einer hohen Kriminalitätsrate gegenüber und die allgemeine Oberflächlichkeit einer unerschöpflichen Hilfsbereitschaft. Der Schönheitswahn, der Körperkult und der Wunsch, berühmt zu sein, stecken in jeder von Botox verschonten Falte und das wurde mir spätestens klar, als mir ein Mann nach einem netten Gespräch im Bus seine Visitenkarte in die Hand drückte – er war Stand-up-Comedian und Fan-Akquise sollte man bekanntlich nicht unterschätzen.

Los Angeles ist riesig, genauso wie die Träume seiner Bewohner. Ein Melting-Pot, der alle verschluckt, die nicht schnell genug, nicht gut genug sind, oder einfach nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Doch als ich mich erst mal an den Irrsinn gewöhnt hatte, konnte ich die Stadt als ein unterhaltsames Schauspiel betrachten – und spielte mit. Eine Woche lang war ich Stammgast bei irgendeiner In ’n’ out-Burger-Filiale. Danach ging ich entweder in einem der Second-Hand-Läden, für die die Stadt bekannt ist, shoppen oder fuhr nach Venice Beach. Ich beobachtete die Skater und verglich die Muskeln der Rettungsschwimmer mit meinen Kindheitserinnerungen an Baywatch. Ich zwinkerte den oberkörperfreien Rollerbladern zu, lief durch die...

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