1. Fragwürdige Theorien
Es gibt einige Theorien, die erklären sollen, warum Menschen altern. Die populärsten gehen davon aus, dass das Altern eine Abwärtsspirale ist, die durch zerstörerische Prozesse und die Akkumulation schädlicher Nebenprozesse in Gang gesetzt wird. Die in diesem Zusammenhang bekanntesten Stichworte sind Oxidation und freie Radikale sowie Antioxidantien, jene Mittel, die uns vor dem Altern schützen sollen.
Antioxidantien – Allheilmittel gegen das Altern?
Im Jahr 1956 veröffentlichte Denham Harman seine Theorie des Alterns im Journal of Gerontology. Harman hatte als Chemiker bei Shell Oil gearbeitet, bevor er an die Stanford Medical School ging und schließlich Wissenschaftler im Donner Laboratory of Medical Physics an der Universität von Kalifornien in Berkeley wurde. Seiner Theorie zufolge zerstören aggressive freie Radikale Bestandteile der Zelle, vor allem deren Membran und die Zell-DNA, was allgemein als »oxidative Schädigung« bezeichnet wird. Diese Defekte akkumulieren sich im Laufe der Jahre, was dazu führt, dass vermehrt Krankheiten auftreten und der ganze Organismus schleichend aber unaufhaltsam geschädigt wird. Beispielsweise werden Organe wie die Leber oder die Lunge, aber auch das Immunsystem in ihrer Funktion beeinträchtigt.
Daraus folgt nach Harmans Theorie, dass Antioxidantien diesen Prozess verlangsamen oder sogar stoppen können. Und wenn der Organismus selbst nicht genügend Antioxidantien produziert, müssen eben entsprechende Nahrungsergänzungsmittel eingenommen werden, die den Alterungsprozess stark abbremsen und dazu führen sollen, dass der betreffende Mensch länger lebt. Eine solche Aussicht generiert natürlich einen entsprechenden Markt und hat dazu geführt, dass etwa drei Milliarden Dollar pro Jahr allein mit Antioxidantien verdient werden. Mittlerweile ist fast alles mit Antioxidantien (Vitamin C, Vitamin E, Betakarotine etc.) angereichert: Marmelade, Frühstückscerealien, die Hautcreme, die wir verwenden, und noch vieles mehr. Alle glauben, dass freie Radikale schlecht und Antioxidantien gut sind, doch leider stimmt das nicht uneingeschränkt. Es gibt neue Erkenntnisse, die uns zum Umdenken zwingen. Was bisher so einfach schien, wird nun sehr komplex.
Ein Beispiel: Reaktive Sauerstoffspezies (ROS) müssen nicht automatisch zu einer Schädigung der Gefäße führen. Richtig dosiert können sie die Gefäße sogar schützen. Wissenschaftler um Henning Morawietz am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden konnten 2015 mittels optischer Kohärenztomografie zeigen, dass der Verlust von Nox4 – eine der wichtigsten natürlichen Quellen von ROS Wasserstoffperoxid in der Gefäßwand – bei Übergewicht zu einer schlechteren Gefäßfunktion und vermehrter Arteriosklerose führt. Es zeigte sich weiterhin, dass Wasserstoffperoxid in niedrigen Konzentrationen sogar den Blutdruck wirksam senken kann. An anderer Stelle lesen wir, dass freie Radikale in moderater Quantität bei der Wundheilung eine begünstigende Rolle spielen.1
Antioxidantien, die zusätzlich zu den im Körper gebildeten aus Nahrungsergänzungsmitteln aufgenommen werden, etwa die Vitamine C und E, Betakarotine sowie Vitamin A und Folsäure, können sogar eine negative Wirkung haben, weil sie ungünstig mit unserem eigenen Abwehrsystem interferieren. Damit haben Krebszellen bessere Überlebenschancen.
Es ist nun nicht etwa so, dass die frühere Forschung bezüglich der Vitamine vollkommen falschlag. Wir wissen heute einfach mehr, weil in der Zwischenzeit weitere Fragestellungen erforscht wurden. So kann bei Jugendlichen eine direkte antioxidative Aktivität, wie sie beispielsweise von Vitamin C oder E ausgeht, durchaus Vorteile bringen, ganz anders als bei Älteren, deren Körper immer auch mehr Krebszellen und ihre Vorstufen beherbergt. Wir werden uns diesen Punkt später noch genauer anschauen.
Das ist nur ein Aspekt. Ein weiterer ist, dass freie Radikale eben nicht die Teufel schlechthin sind, sondern wichtige Funktionen erfüllen. Sie geben uns beispielsweise unverzichtbare Signale für die Regulation von Zellzyklen und wichtigen Immunfunktionen. Wenn wir diese Signale durch Antioxidantien unterdrücken, schädigen wir bestimmte Schlüsselfunktionen, über die wir noch ausführlicher reden müssen. Die Folgen sind Krankheit und schnelle Alterung, auch Krebs.
Einige Ergebnisse im Zusammenhang mit dem Krebsgeschehen: Betakarotine schützen nicht vor Lungenkrebs.2 Die Vitamine C und E schützen keineswegs vor allgemeiner Krebsinzidenz.3 Manche neuere Studien ergaben nicht nur, dass Nahrungsergänzungsmittel (Vitamine mit antioxidativen Eigenschaften) keinerlei präventive Wirkung haben, sondern dass sogar das Gegenteil der Fall ist: Sie sind für eine höhere Mortalität verantwortlich.4
Wir haben demnach ein höheres Risiko, Krebs zu bekommen, wenn wir schon älter sind und regelmäßig Antioxidantien zu uns nehmen. Dies sagen alle Berichte in großer Deutlichkeit, etwa der von Maria Elena Martinez, Universität von Kalifornien, San Diego. In einer dieser Studien wurde bei den Probanden, die regelmäßig Betakarotine einnahmen, gegenüber denen, die Placebos bekamen, ein um 39 Prozent erhöhtes Lungenkrebsrisiko festgestellt.5
Als wir in meiner Arbeitsgruppe zum ersten Mal von diesem Ergebnis hörten, konnten wir es nicht glauben und haben es mit dem Argument wegdiskutiert, dass man ja auch niemals nur ein Antioxidans geben darf. Wenn ein Antioxidans seine Aufgabe erfüllt und ein Elektron zur Neutralisation eines freien Radikals abgegeben hat und somit oxidiert ist, wird es mit seinen nun ungesättigten Elektronen selbst zum freien Radikal und fordert aus seiner Umgebung ein Ersatzelektron aus weiteren Antioxidantien, beispielsweise Moleküle von Vitamin C oder E, um selbst erneut neutralisiert zu werden. Dieser Vorgang einer Elektronenaufnahme heißt Reduktion. Eine möglichst umgehende Reduktion von funktionellen Molekülen ist natürlich immer noch richtig und war nicht der Grund für die negativen Ergebnisse. Das nun vorliegende Gesamtbild lehrt uns eine andere Sichtweise.6
Vor einigen Jahren wurden mehrere kontrollierte klinische Studien zur Wirksamkeit von Multivitaminpräparaten als Nahrungsergänzungsmittel mit sehr vielen Probanden durchgeführt. Kaum jemand war früher auf die Idee gekommen, solche Metastudien anzulegen, denn irgendwie hatte man es für selbstverständlich gehalten, dass die Zufuhr von Vitaminen und Mineralien der Gesundheit nur förderlich sein kann und damit die beste Methode war, um den Alterungsprozess zu verlangsamen.
Als dann die Ergebnisse der klinischen Studien vorlagen, konnte man nur staunen: einstimmige Ablehnung unserer bisherigen Anti-Aging-Medizin. Um der Bildung von Verschwörungstheorien vorzubeugen, sei gleich gesagt, dass keine dieser Studien von »Big Pharma« finanziert wurde. Sie stammen aus öffentlichen Wissenschaftsinstituten in den USA, Europa, Asien, und ihr Ziel war es, die schlimmsten Krankheiten unserer Zeit zu verhindern, nämlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Demenz.
Seit 2013 könnte jedem endgültig klar sein, dass die wahllose Einnahme von Vitaminen nutzlos ist. Die erste Metaanalyse, die 2013 in den Annals of Internal Medicine veröffentlicht wurde, fasst die Ergebnisse von 26 Studien zur Verhinderung chronischer Erkrankungen mit Hilfe von Multivitaminen zusammen. Fazit: Die Einnahme von Multivitaminen hat keinerlei Einfluss auf die Verhinderung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Dann erschien eine weitere Metaanalyse aus Korea, in der 50 randomisierte Studien mit insgesamt 300000 Studienteilnehmern ausgewertet wurden. Alle wurden ohne ihr Wissen in vier Gruppen eingeteilt: Placebo versus Vitaminpräparate und Placebo versus Antioxidantien. Lediglich die Supplementierung von Vitamin B₆ konnte mit einem leicht verringerten Risiko schwerer kardiovaskulärer Erkrankungen in Verbindung gebracht werden.
Zwei weitere Studien aus der Abteilung für Präventivmedizin der Havard Medical School hatten die Herzkrankheiten und Krebserkrankungen von Ärzten in Zusammenhang mit der Einnahme von Multivitaminpräparaten im Visier. Die sogenannte Physicians’ Health Study war prospektiv, randomisiert, doppelblind, placebokontrolliert. Mehr geht nicht, was die wissenschaftliche Sorgfalt betrifft. Außerdem war die Zahl der Teilnehmer an der Studie sehr hoch: 14161 männliche Ärzte im Alter ab 50 Jahren. Die Hälfte bekam ein Multivitaminpräparat des Pharmaunternehmens Pfizer. Die Firma wurde aber weder zur Finanzierung noch zur Planung oder Auswertung der Studie herangezogen. Die Beobachtungszeit nach der akuten Studienphase betrug weitere elf Jahre (Follow-up-Periode). Ergebnis: Die Einnahme von Vitaminen ergab keine Senkung des kardiovaskulären Risikos gegenüber Placebos.
Es hatte vorher schon Megastudien mit gleichem Ergebnis gegeben. Sie wurden ignoriert. Da war die Frauenstudie der Women’s Health Initative (WHI) mit insgesamt 161000 Teilnehmerinnen und acht Jahren Dauer. Auch sie ergab keine Senkung des kardiovaskulären Risikos bei Vitaminzufuhr.
Eine weitere große, prospektive, randomisierte klinische Studie mit Vitamin E aus dem Jahr 2000, die Heart Outcomes Prävention Evaluation (HOPE), wurde in der Öffentlichkeit kaum beachtet. Immerhin nahmen an dieser kanadischen Studie 2545 Frauen und 6995 Männer teil. Sie waren 55 Jahre und älter. Versus Placebo wurde die Einnahme von 400 IE Vitamin E getestet.