Eine Einleitung zum Buch
Die Bedeutung von Bewegung als einer biologischen Größenordnung
Für uns als Betrachter bewegen sich im Universum viele Dinge. Aber es zeigt sich, dass nur lebendige Wesen sich selbst bewegen. Moshé Feldenkrais sagt, „Bewegung ist der Schlüssel zum Leben.“ Was könnte er damit gemeint haben? Eine Lebensform, die in der Lage zur Selbsterhaltung ist und sich dabei selbst zu bewegen, muss empfindlich auf ihre Umgebung reagieren, deshalb lautet der Titel des Buchs „Lernen durch Bewegung“. Alles Lebendige bewegt sich und besitzt zumindest etwas Bewegungsautonomie im Verhältnis zu seinem weiteren Lebensumfeld. Der Anthropologe und Wissenschaftsautor Jeremy Narby präsentiert in seinem Buch „Intelligenz in der Natur“ (2006) den wissenschaftlichen und experimentellen Nachweis, dass Intelligenz auf jeder Ebene von Entwicklung vorhanden ist, vom Bakterium bis zum höchstentwickelten Lebewesen in der Evolution. Narby verfeinert die Vorstellung von Intelligenz, indem er sagt, Intelligenz meint die Anpassung und Veränderlichkeit in Reaktion auf die Lebensumstände, in denen Leben erhalten werden kann. Um das zu erreichen, ist Eigenbewegung unbedingt nötig.
Exakte Wissenschaft als Lern-, Denk- und Untersuchungsmodalität ist durch etablierte Gewohnheiten und normative Untersuchungstechniken eingeschränkt. In den meisten Fällen denken wir, dass uns das methodische Vorgehen die „Gedankenfreiheit“ gebracht hat, auf die sich unsere moderne Welt gründet, ihre Begrenzungen nehmen wir eher nicht wahr. Höflicher könnte man sagen, die Tätigkeit, die wir Wissenschaft nennen, hat strenge Vorgehensweisen entwickelt, um das zu etablieren, was in unserer Welt „so“ ist. Wir wollen wissen, dass unsere Konzepte fundiert und richtig sind. Die Erfolge in Physik und Chemie und deren Umsetzung in der Umwelttechnik sind bewundernswert, aber die Anwendung ihrer Methodologie auf lebendige Wesen schafft unerwartete Probleme. Die Methodenlehren der exakten Wissenschaft fixieren ihre Aufmerksamkeit auf isolierte Mechanismen, finden Ursache und Wirkung, verengen Aufmerksamkeit auf begrenzte Gebiete und beschränken Denken auf einen künstlichen Bereich, den man Objektivität nennt. Das heißt nicht, dass das reduktionistische und objektivistische Programm kein Wissen von der lebendigen Welt abwerfen kann. Viele wichtige Entdeckungen über uns selbst und andere lebendige Wesen waren das Resultat. Wir kennen jetzt viele Details über die biologischen Mechanismen der Gene, der Zellaktivität, der Übertragung von Nervenimpulsen und wie Lernen auf der Ebene von strukturellen Änderungen in den Nervenzellen vor sich geht. Es ist etabliertes Wissen, dass viele dieser Details für Organismen von ansonsten erheblich unterschiedlichen Ebenen von Komplexität üblich sind.
Die Vielschichtigkeit selbst hat sich andererseits für die reduktionistischen Modelle als schwierig erwiesen. Die Sache ist die, dass die integrativen und die Beziehungsaspekte lebendiger Systeme mehr verlangen, als einfach die Teile zu addieren. Wir brauchen eine biology of coherence, eine Biologie des Zusammenhangs, um unser Verstehen zu verbessern. Dennoch bilden wir uns ein, dass der im Moment populäre technische Weg unsere Lebensprobleme anzugehen, zu einem weit besseren Leben führen wird. Wir glauben, dass wir weit mehr über uns selbst wissen als unsere Vorfahren. Andererseits produzieren wir immer neue Katastrophen und versuchen unseren Mangel an Verständnis zu vertuschen. Ich erinnere mich oft an Albert Einsteins Aussage „Wahnsinn ist, die gleiche Sache immer wieder zu tun, aber einen anderen Ausgang zu erwarten“, und Moshé Feldenkrais’ Satz, „Ihr seht, es ist auch schwierig, zum ersten Mal einen Gedanken zu haben, der dem entgegengesetzt ist, was allgemein geglaubt wird.“
Die Feldenkrais-Arbeit zu praktizieren, zwang mich dazu, viele anerzogene Denk- und Handlungsweisen, die mir in meiner langen Schulzeit zur Gewohnheit geworden waren, beiseite zu legen. Ich entwickelte in der Folge eine sehr andere Sicht auf das Leben und entdeckte die Notwendigkeit, einfach zu denken: Empfinden, Fühlen und Handeln ohne die Sprache als Vermittler. Man kann das als unmittelbares Denken in Bewegung beschreiben. Die strikte Einhaltung des objektiven Standpunktes stand einer wirksamen Untersuchung der menschlichen Gegebenheiten im Wege – bei mir selbst und bei anderen, die meine Hilfe suchten. Lösungen kamen oft indirekt und ohne, dass ich darüber nachdenken musste, bis ich es verstand. Dieser Perspektivwechsel im Denken und die Rückkehr zur Erfahrung hatten praktische Konsequenzen. Später beim Nachdenken konnte ich zur Sprache zurückgehen. Sie ist wichtig für die Vermittlung von Gedanken. Der Kern von Feldenkrais’ Arbeit war, abstrakte Begriffe konkret greifbar zu machen. Alles in seiner Arbeit konnte vorgeführt werden.
Feldenkrais’ Arbeit, unvergleichlich darin, wie sie Bewegungserkundung als Weg zur Erweiterung von Bewusstheit und Wachstum nutzte, war aber auch Teil eines zunehmenden Trends im modernen Denken. Nicht alle wissenschaftlichen Herangehensweisen blieben beim strikten Objektivismus. Was wertvoll ist, sollte für alle beobachtbar und deshalb auch feststellbar sein. Feldenkrais hatte mit vielen bahnbrechenden Denkern und Wissenschaftlern Kontakt, die wegweisend waren in der Biologie, in der Psychologie und in den Neurowissenschaften. Unter ihnen waren Aaron Katzir-Katchalsky, der am Anfang der dynamischen Systemtheorie stand, Karl Pribram, der zu der Zeit ein Hologramm-Modell der Hirnfunktionen entwickelte, und andere Gründer und Ausarbeiter der kybernetischen Bewegung, Gregory Bateson, Magret Mead, Heinz von Foerster und Francisco Varela. Sie alle schätzten etwas in Feldenkrais’ Arbeit, das einen Widerhall ihrer eigenen neuen Ansätze bedeutete. Wir alle beobachteten, dass er durch die Art, wie er Kontakt zu Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemen knüpfte, allen half, einen Weg zum besseren Umgang mit sich und ihrer Umgebung zu finden, selbst bei denjenigen, denen zuvor keine Intervention Besserung gebracht hatte. Es sah aus wie ein Wunder. Dennoch nutzte er einfach sein außergewöhnliches Einfühlungsvermögen und sein Verständnis der menschlichen Komplexität, um Menschen zur Selbstveränderung zu führen. Er vertraute darauf, dass jede lebende Person über diese Kapazität verfügt – als Konsequenz aus der fundamentalen Fähigkeit zu lernen. Heute nennen das viele Denker Selbstorganisation.
Arbeit, die menschliche Bewegung und Bewusstheit kombiniert, hat eine lange Tradition in der Praxis. Bereits seit den orientalischen Heiltechniken und den Kampfkünsten beinhalten diese somatischen Prozesse Selbstbeobachtung und Bewusstheit. Diese Qualitäten finden sich auch in den zunehmenden Arbeiten aus der Praxis, die sich auf die Werke von Elsa Gindler, Heinrich Jacoby, Ida Rolf und F.M. Alexander gründen. Feldenkrais hat sich mit all diesen Arbeiten beschäftigt. 1975 jedoch war Bewegung in den meisten Disziplinen nicht vorhanden, oder eigenen Feldern zugeordnet, wie dem motor learning (Bewegungslernen) oder der Verhaltensforschung. Im letzten Jahrhundert wurde das, was man heute embodiment3 nennt, vornehmlich von der Phänomenologie, besonders im Werk von Edmund Husserl und Maurice Merleau-Ponty, beschrieben. Es wurde auch in der an die Psychoanalyse angelehnten Arbeit von Wilhelm Reich und Paul Schilder dargestellt. Eine bemerkenswerte Ausnahme in der Wissenschaft war die Pionierarbeit des russischen Physiologen und Psychologen Nicolai Bernstein. Wir werden ihm in einem späteren Teil des Buches begegnen.
Heute verändert sich die Situation radikal. Neurowissenschaftler spekulieren jetzt, dass ohne eine gegenseitige dynamische Verbindung von lebendigem Körper und seiner Umgebung kein Nervensystem funktionieren kann. Professor György Buzsáki, Neurowissenschaftler an der Rutgers-Universität, schreibt in seinem neuesten Buch „Rhythms of the Brain“ (2006, S. 221): „Hingegen kann keine noch so große Menge an sensorischer Stimulation ohne das Ergebnis einer Interaktion von Körper und Umgebung ein brauchbares Hirn produzieren.“4 Und der Professor der Neurophysiologe, Giacomo Rizzolattí von der Universität Parma, sowie der Kognitionswissenschaftler, Professor Corrado Sinigaglia von der Universität Mailand, schreiben in „Empathie und Spiegelneurone: Die biologische Basis des Mitgefühls“ (2008, S. 13): „Die starre Abgrenzung zwischen perzeptiven, kognitiven und motorischen Prozessen entpuppt sich am Ende als weitgehend künstlich. Nicht nur scheint die Wahrnehmung in die Dynamik der Handlung verwickelt und stärker artikuliert zu sein, als man bisher gedacht hat; vielmehr ist das agierende Gehirn auch und vor allem ein verstehendes Gehirn.“
Diese Äußerungen verdanken sich vielen neuen Entdeckungen über das Nervensystem. Allerdings wurde die ganze Frage zum Zusammenhang von Geist und Körper (body-mind) in den vergangenen Jahren von Wissenschaftlern und Philosophen neu überdacht. Das bahnbrechende Buch, das der Idee und Diskussion von der Wahrnehmung von Geist und Körper (embodied cognitive science) in den kognitiven Wissenschaften eine neue positive Richtung gab, war „Der mittlere Weg der Erkenntnis: der Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Theorie und menschlicher...