Bis zum Ende des Jahrzehnts wird mehr als die Hälfte der Menschheit digital vernetzt leben, lernen und arbeiten. Dieser Teil der Menschheit verwendet Schlagworte wie Social Media, mobile, webbasierte Applikationen, Industrie 4.0, digitale Geschäftsmodelle, Internet der Dinge, Big Data etc., um das Phänomen zu beschreiben, das unser tägliches Leben als Individuum und Teil einer globalen Gesellschaft beeinflusst. Während die digitale Vernetzung für viele von uns bereits allgegenwärtig und zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, ist sie für andere hingegen mit weitreichenden Herausforderungen oder sogar existenziellen Ängsten verbunden. Die Menge an Daten und Informationen, die unsere Vorfahren vor mehr als einhundert Jahren über den gesamten Lebenszyklus erreichte, überflutet heute digital vernetzte Menschen an einem einzigen Tag.
Digital vernetzt zu sein, verändert substanziell die Art und Weise, wie Unternehmen im Wettbewerb erfolgreich sind, was durch einen Blick auf fast 50 Jahre Unternehmensentwicklung deutlich wird (siehe Bild 0.1). Im Zentrum der Betrachtung stehen dabei fünf klassische Managementfragen:
Wie betreiben Unternehmen Vorausschau, um sich mit der Zukunft zu beschäftigen?
Welche Geschäftsmodelle entwickeln Unternehmen?
An welcher Geschäftslogik orientieren sich Führungskräfte, um das Unternehmen zu steuern?
Welche Organisationsform wählen Unternehmen?
Mit welchen IT-Systemen unterstützen Unternehmen die wertschöpfenden Aktivitäten?
Die Antworten auf diese Fragen werden in Bild 0.1 sehr pointiert dargestellt, wohl wissend, dass in der betriebswirtschaftlichen Forschung und Praxis, zeitlich und inhaltlich, eine Vielzahl von Varianten der dargestellten Paradigmen zu finden ist.
Seit den siebziger Jahren haben sich Führungskräfte bei ihrem Blick in die Zukunft mit Studien, z. B. vom Club of Rome „Grenzen des Wachstums“ (Meadows et al. 1972), auseinandergesetzt. Die Geschäftsmodell-Logik war zu Beginn dieses Zeitraums noch stark produktorientiert ausgerichtet. Unternehmen waren nach strategischen Geschäftseinheiten strukturiert, die nach den damals gängigen BCG- oder McKinsey-Portfoliomethoden gesteuert wurden. Hier liegen in vielen Unternehmen auch die Anfänge der industriellen Digitalisierung, entweder in der Steuerung und Automatisierung der Produktion oder aber in der Steuerung der strategischen Geschäftseinheiten im Controlling. In diesem Zeitraum entstanden beispielsweise die ersten Vertriebsdatenbanken. Wissenschaftler versandten bereits die ersten E-Mails. Engpässe der Digitalisierung waren jedoch allenthalben spürbar, weshalb IT-Abteilungen zunächst ihre Aufgaben vorrangig in der Verbesserung der Rechenleistungen von Computern, der Entwicklung von Algorithmen sowie der Optimierung der Datenspeicherung fanden.
Bild 0.1 Transformation der Wertschöpfung (eigene Darstellung)
Bereits Mitte der neunziger Jahre setzte das Vernetzen der von Wissenschaft und Unternehmen geschaffenen, digitalen Inseln ein und das Internet begann, alle bis dahin entstandenen Lösungen zu verdrängen. Manager mussten sich bei ihrer Zukunftsplanung nicht mehr auf einzelne Studien beschränken, sondern konnten nun eine Vielzahl von Megatrends (z. B. Globalisierung) nutzen, um Frühwarnung und Frühaufklärung zu betreiben. Unternehmen ergänzten ihr Angebotsportfolio an Dienstleistungen, um sich im Wettbewerb zu differenzieren und bessere Lösungen als die Wettbewerber anzubieten. Unternehmensleitungen nutzten die entstehende Daten- und Informationsvielfalt, um mithilfe von strategischen Key-Performance-Indikatoren (KPIs) zu planen, zu steuern, zu messen und gegebenenfalls korrigierend einzugreifen. Basierend auf einem nach systemischer Perspektive entwickelten Beratungskonzept von Gemini Consulting wurden Organisationsstrukturen und -prozesse mittels Business Transformation bzw. Business- Process-Reengineering-Programmen zunehmend vernetzt. Dadurch sowie mittels der Einführung von Rückkopplungsmechanismen konnten Unternehmen auf die Dynamiken der Märkte ausgerichtet werden. Die IT-Systeme lieferten Client-Server-Architekturen, Internet/Intranet, EDI (Elektronischer Geschäftsverkehr), elektronische Archive, Produkt- und Dokumentenverwaltung, um diese neu entwickelten Geschäftsprozesse abzubilden und zu unterstützen.
Das Einbrechen der Finanzmärkte und das Platzen der Internetblase in den ersten Jahren des neuen Millenniums haben die Lücke zwischen Börsenwert und wirtschaftlichem Wert vieler Internetfirmen der ersten Generation deutlich gemacht. Sie konnten die Transformation der Wertschöpfung jedoch nicht aufhalten. Die Ausrichtung von Unternehmen an Zukunftsbildern und Szenarien, die Orientierung an den wertvollsten Zielmärkten und Zielkunden sowie die weitreichende Individualisierung (Mass Customization) von Produkten des Pionierunternehmens Dell in der Computerindustrie oder Daimler, BMW, Audi in der Automobilindustrie haben diesen Unternehmen geholfen, eine führende Marktposition im globalen Wettbewerb zu erlangen. Dabei helfen auch Zielgrößen wie der Kundenlebenswert, die Ausrichtung der Unternehmen weiter zu optimieren. Die Fokussierung der Organisationen mittels End-to-End-Prozessen (E2E-Prozessen) auf die Bedürfnisse dieser Zielkunden und die Unterstützung eben dieser Prozesse durch webbasierte Integration haben es Firmen ermöglicht, Zielkunden in Entwicklungs-, Vertriebs-, Produktions- und Serviceprozesse einzubinden. Open Innovation sowie die kundenindividuelle Konfiguration von Produkt- und Dienstleistungsbündeln verändern die Wertschöpfungsnetzwerke vieler Unternehmen und setzen zusätzliche Optimierungspotenziale frei.
Momentan befinden wir uns mitten in diesem weitreichenden Transformationsprozess der Wertschöpfung, der nun in eine nächste Phase eintritt. An dieser Stelle setzt die vorliegende Herausgeberschaft an: Sie liefert einen umfassenden Einblick in aktuelle Entwicklungen und Diskussionen rund um die Thematik „Digital vernetzt“ und hat dabei im Unternehmenskontext nicht nur eine Funktion oder einen Prozess (wie z. B. die Automatisierung im Order Processing) im Blick, sondern bezieht alle Stufen der Wertschöpfung sowie die übergeordneten und notwendigen Managementkompetenzen ein:
Szenarien, Strategien & Geschäftsmodelle, Prozesse & Organisation sowie Informationstechnologien,
den Wertschöpfungsprozess von der Kundenerwartung bzw. der Produktidee zum marktreifen Angebot (Innovation, Produktentstehung),
den Wertschöpfungsprozess vom Kundenverständnis bis zur Kundengewinnung bzw. -bindung (Marketing, Vertrieb, Service) sowie
den Wertschöpfungsprozess von der Bestellung des Produktes zur effizienten Produktion und Auslieferung (Auftragsabwicklung, Produktion, Supply Chain) (siehe Bild 0.2).
Bild 0.2 Wertschöpfungsprozesse von der Kundenerwartung zur Kundenzufriedenheit sowie notwendige Managementkompetenzen (UNITY AG 2015)
Dementsprechend ist das vorliegende Buch auch strukturiert. Das Buch startet mit einer Vorausschau (Themenbereich 1 Szenarien der digitalen Transformation). Eine Einordnung der Herausforderungen der digitalen Vernetzung und strukturierte Zukunftsbilder im globalen Kontext im Kapitel 1 „Zukunftsoptionen Industrie 4.0 ‒ Impulse zur strategischen Positionierung in der globalen Wettbewerbsarena von morgen“ des Heinz Nixdorf Institutes bilden den Ausgangspunkt.
Anschließend gliedert sich der Themenbereich 2 (Optionen der digitalen Transformation) nach den oben beschriebenen notwendigen Managementkompetenzen und einzelnen Stufen der Wertschöpfung (Kapitel 2 bis 10). Hier haben wir jeweils exemplarisch aktuelle Themen und Diskussionen zur jeweiligen Stufe eingebunden, z. B. das Rennen um eine Milliarde Kunden. Darauf aufbauend zeigt der Themenbereich 3 umfangreiche Geschäfts- und Erfolgsmodelle der digitalen Transformation sowie die eingesetzten Technologien aus einer Vielzahl verschiedener Branchen auf (Kapitel 11 bis 22). Dabei werden sowohl Unternehmen, die ihr Pipeline-Geschäftsmodell erweitern, als auch Firmen mit Plattform-Geschäftsmodellen betrachtet. Die Anwendungsfälle sollen eine praktische Anschauung für die laufenden Transformationsprozesse bieten, denn jede der aufgeführten Branchen ‒ von der Medienbranche bis hin zur Beratung ‒ ist derzeit in einem anderen Ausmaß von der Digitalisierung betroffen. Während die Medienindustrie oder der Handel bereits stark von der Digitalisierung erfasst sind, sind andere Branchen noch weit entfernt davon. Wir haben uns bei der Reihenfolge der Kapitel in diesem Themenbereich deshalb an dem „Vortex“ des Global Center for Digital Business Transformation (Bradley et al. 2015) orientiert (siehe Bild 0.3). Dieser zeigt die digitale Disruption für verschiedene Industriezweige auf, wobei das Ausmaß der Digitalisierung der Branchen im Strudel von außen nach innen zunimmt. Mit dieser Anordnung möchten wir auch deutlich machen, dass verschiedene Branchen durch die derzeit unterschiedliche Betroffenheit mit Sicherheit voneinander lernen und...