1. Den Geist vorbereiten
«Unser unbewusstes Denken unterscheidet sich
in einem ganz wichtigen Punkt nicht von
unserem bewussten Denken: Es ist lernfähig.»
Malcolm Gladwell
Er war, wie man in seiner Muttersprache sagt, «bien baraqué». Gross, breitschultrig, schwarzes Haar, buschige Augenbrauen, markantes Kinn. Ein wenig erinnerte er mich an Leonid Breschnew, zu dieser Zeit der erste Mann der Sowjetunion. Er hatte etwas Herrisches, konnte aber, wohl im Unterschied zu Breschnew, ausgesprochen charmant sein. Pierre Arnold war in den 1980er-Jahren Chef der Migros, des grössten Detailhändlers der Schweiz. Er galt als Archetyp des Topmanagers (CEOs gab es damals noch nicht). Pierre Arnold war auch Vizepräsident des Verwaltungsrats der Schweizerischen Bundesbahnen und in dieser Funktion stellte er sich zur Verfügung, mir das ABC des Topmanagements beizubringen. Ein halbes Jahr konnte ich ihm auf Schritt und Tritt folgen. Durch seine Sachkenntnis hat er mich beeindruckt und geprägt. Man musste schon perfekt vorbereitet sein, um ihm argumentativ die Stange halten zu können. Die Migros ist eine Genossenschaft und ihre Oberen müssen sich immer wieder vor ihren Genossenschaftsrätinnen und -räten rechtfertigen. Darin war Pierre Arnold ein Meister. Ich bewunderte vor allem eine seiner Eigenschaften: Je mehr er unter Beschuss kam, desto mehr lief er zur Hochform auf. Einmal wagte ich es, ihn darauf anzusprechen. Er erklärte mir, er liebe den Widerstand. Sein Motto laute: «Enfin les difficultés commencent» – endlich beginnen die Schwierigkeiten. Ich habe das Motto übernommen und hatte dann auch genügend Gelegenheit zum Üben. Viele Jahre später entdeckte ich, dass die Devise von keinem Geringeren als von Niccolò Machiavelli stammt.1
Was hat sich Machiavelli dabei gedacht? Er wird sich überlegt haben, dass der Fürst erst in schwierigen Zeiten seine Fähigkeiten beweisen kann. Und dass ihm das umso besser gelingt, je mehr er sich gedanklich mit möglichen Schwierigkeiten auseinandergesetzt hat. Es braucht Kreativität, um sich alle Eventualitäten vorzustellen. Für jede dieser Möglichkeiten gilt es, Reaktionsweisen zu definieren. Vor dem inneren Auge spult man alle möglichen Abläufe ab. Wenn dann einer dieser Fälle auftritt, sind alle Sinne geschärft. Endlich kann der Fürst zeigen, was er kann.
Auch Machiavelli hat sich mit seiner Losung in der Vergangenheit bedient und einen Leitsatz der Antike adaptiert: «Halte dich bereit!»2 Das war die Devise des Stoikers Epiktet. «Wenn aber der Steuermann ruft, so eile zum Fahrzeug, lass alles zurück und sieh dich nicht um.» Epiktet und die Stoiker haben eine fundamentale Tatsache ins Zentrum ihrer Lehre gestellt: «Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.»3 Wenn man bedrängt, unruhig oder betrübt sei, solle man die Ursache nicht in etwas anderem suchen, sondern in den eigenen Vorstellungen. Denn Gott habe den Menschen das Herrlichste und Erhabenste in ihre Gewalt gegeben: den Gebrauch ihrer Vorstellungen.4 In die moderne Terminologie übertragen bedeutet das, dass der Mensch über die Fähigkeit zur Selbststeuerung verfügt.
Hinter dieser Aussage steht die Überzeugung, dass der Mensch mit seinem freien Willen sein Schicksal beeinflussen kann. Wissenschaftlich ist diese Hypothese allerdings auch zweitausend Jahre nach Epiktet nicht bewiesen.5 Diese Debatte soll uns nicht kümmern. Allein schon, weil die Vorstellung der Fremdbestimmung und die dadurch implizierte Opferrolle zu einem traurigen Leben führen würden. Der Neurobiologe Joachim Bauer stellt den freien Willen ins Zentrum seines Konzepts über die Selbststeuerung.6 Für ihn ist der Determinismus, der den freien Willen negiert, «eine Ideologie, die jede Initiative, Kreativität und Entschlossenheit lähmt» und die eine «Tendenz, sich in allen Belangen als Opfer [zu sehen], aber für nichts verantwortlich zu sein», sanktioniert.7 Ohne die freie Willensentscheidung, so Bauer, wäre es nicht möglich, spontane Impulse zu bremsen.8
Fakt ist, dass wir jeden Tag Tausende Entscheidungen treffen, zum grössten Teil intuitiv, aber auch nach mehr oder weniger sorgfältigem Abwägen von Optionen. Dass wir Verantwortung für unser Tun und Lassen tragen, ist Teil unseres kulturellen Selbstverständnisses. Mit Viktor E. Frankl werden wir uns noch befassen. Der renommierte Psychologe überlebte das Konzentrationslager Auschwitz und schrieb ein bewegendes Buch, in dem er nicht nur seine Erlebnisse beschrieb, sondern sie auch aus psychologischer Sicht analysierte.9 Sein Credo fasst er in einem Satz zusammen:
«Die geistige Freiheit des Menschen, die man ihm bis zum letzten Atemzug nicht nehmen kann, lässt ihn auch noch bis zum letzten Atemzug Gelegenheit finden, sein Leben sinnvoll zu gestalten.»10
Michel de Montaigne, der tiefsinnige Essayist aus dem 16. Jahrhundert, hat eine seiner Betrachtungen mit dem Titel «Schwierigkeiten steigern unser Verlangen» überschrieben. Unser Wille, schreibt er, werde erst recht erhitzt, wenn ihm etwas entgegenstehe. Einer leichten Befriedigung folge schnell der Überdruss. Angestachelt werde der Wille durch ungewöhnliche Schwierigkeiten. Auch Montaigne liefert damit eine Begründung für eine Haltung des Endlich beginnen die Schwierigkeiten. Erst die Überwindung von Hindernissen führt zu echter Befriedigung. Montaigne illustriert seine These mit der Brautschau. Ein Freier, der seine Angebetete ohne Anstrengung erobern könne, würde seiner Liebsten bald überdrüssig werden. Unnahbarkeit hingegen erwirke Hochschätzung für die Begehrte. Sättigung führe zu Überdruss, die Leidenschaft wird «stumpf und dumpf, schläfrig und schlaff». Deshalb die Empfehlung von Montaigne:
«Spann den Freier auf die Folter, sage nein;
Ohne Leiden, Galla, schläft die Liebe ein.»11
Von zwei Handlungen ist diejenige erstrebenswert, welche die grössere Belastung mit sich bringt. Auch dazu äussert sich Montaigne in Gedichtform:
«Denn umso reiner, umso heller strahlt
die Tugend uns, je teurer sie bezahlt.»12
Weshalb leisten Menschen Aussergewöhnliches? Die Forschung hat sich intensiv mit den Ursachen für überdurchschnittliche Leistungen auseinandergesetzt. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass es primär drei Faktoren sind, die zum Erfolg führen: Talent, langes und systematisches Lernen und der Zufall.13
Unter Talent verstehen wir eine besondere Stärke. Schon Epiktet hat empfohlen, das zu tun, worin man tüchtig sein wolle.14 Um ein Talent ausschöpfen zu können, muss man es zuerst entdecken, und das ist nicht immer einfach. Für die Psychologin Carol Dweck hängt das Erkennen von Potenzialen mit dem Selbstbild eines Menschen zusammen. Sie hat dafür ein theoretisches Konstrukt entwickelt. Darunter versteht man eine Hypothese über nicht beobachtbare Vorgänge im Gehirn, also eine Art Hilfskonstruktion in Ermangelung des Wissens über die exakten Zusammenhänge. Dweck sieht ihr Konstrukt durch zwanzigjährige Forschungsarbeit bestätigt. Sie unterscheidet zwischen einem statischen und einem dynamischen Selbstbild. Bei einem statischen Selbstbild wird davon ausgegangen, dass die persönlichen Eigenschaften fest gegeben sind. Menschen mit einem dynamischen Selbstbild hingegen sind überzeugt, dass das wahre Potenzial zunächst verborgen ist und durch eigene Anstrengungen weiterentwickelt werden kann.15 Zwar kann nicht jeder ein Einstein oder Beethoven werden. Es lässt sich aber auch nicht vorhersagen, was ein Mensch durch «Jahre der Leidenschaft, Einsatz und Übung alles erreichen kann».16
Der zweite Faktor ist die Lernbereitschaft. Für das lange und systematische Lernen hat sich eine Metapher herausgebildet, von der man immer wieder hört: Zehntausend Stunden sind notwendig, um eine Sache wirklich zu beherrschen. Zehntausend Stunden haben Sie erreicht, wenn Sie fünfeinhalb Jahre lang ohne Unterbrechung jeden Tag fünf Stunden geübt haben. Das genügt aber nicht. Auch nach diesem Effort darf man mit dem Lernen nicht nachlassen und sollte dabei stets die Warnung von Kurt Tucholsky beachten: Man kann auch 35 Jahre etwas falsch machen.
Der dritte Faktor ist der Zufall. Dafür gibt es auch andere Namen: Glück oder Schicksal. Der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid spricht von «Zufallsglück».17 Da befinden wir uns wieder vor der philosophischen Frage: Vorsehung oder Eigenverantwortung? Der Volksmund hat aus der philosophischen Frage eine praktische gemacht: «Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.» Oder: «Sein Schicksal in die Hand nehmen». In der griechischen Sage wird Sisyphos von den Göttern dazu verurteilt, einen Felsblock auf den Berg hinaufzuwälzen, von dem er immer wieder hinunterrollt. Sisyphusarbeit ist zum geflügelten Wort für sinnentleerte, nie endende Arbeit geworden. Aber auch in einer so trostlosen Situation spielen die Vorstellungen eine Rolle. «Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen», das ist das Fazit von Albert Camus in seinem Essay Der Mythos des Sisyphos. In diesem Satz komme die stoische Schicksalsverachtung des lungenkranken Autors zum Ausdruck, schreibt seine Biografin.18
Der Zufall spielt uns Gelegenheiten zu. Erkennen und ergreifen müssen wir sie selber. Das Wesentliche am Zufallsglück sei seine...