Nah an der Sonne gebaut
Es gibt eine Kraft, die alles erträgt.
Fjodor Dostojewski
„Was gibt dir Kraft? Wie schaffst du das bloß?“
Ich habe den Überblick verloren, wie oft mir diese oder ähnliche Fragen schon gestellt worden sind. Aber es ist schwer bis unmöglich, von Kraft zu sprechen, wenn man sich selbst gar nicht sonderlich kräftig fühlt. Ich verstehe jedoch, warum die Leute die Antwort interessiert, also versuche ich es mal wieder:
Früher war ich es gewohnt, meine Woche mit mindestens 12 sportlichen Trainingseinheiten vollzupacken. Dazu kamen diverse Wettkämpfe im In- und Ausland.
Als mir mit zirka 13 Jahren meine Eltern aus finanziellen Gründen verwehrten, zum Snowboarden zu gehen, beschloss ich, fortan eigenes Geld zu verdienen, um nie wieder Lebensqualität in Form von schönen Aktivitäten mit Freunden zu verpassen. Daher begann ich neben dem Training, dem Feiern und Gemeindeaktivitäten zu arbeiten. Wenn dann noch Zeit blieb, ging ich in die Schule.
Daher stellt sich mir heute meist gar nicht die Frage: „Woher nehme ich die Kraft?“, sondern eher: „Wohin mit meiner (jetzt überschüssigen) Kraft?“ Kraft im Sinne von Energie habe ich mehr als genug; eher habe ich Schwierigkeiten, diese zu kanalisieren. Sicher ist ein großer Anteil dieses inneren Antriebs in vielen Jahren Turntraining entstanden, das von Disziplin und Ehrgeiz geprägt war. Den sogenannten Drill später bei der Bundeswehr empfand ich als ziemlich lasch im Vergleich zum Turntraining und erst recht zur Erziehung meiner Mutter.
Etwas anderes ist die innere Kraft, auch weniger schöne Dinge auszuhalten und nicht daran zu verzweifeln. Woher diese kommt, ist wohl von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Niki Lauda zum Beispiel hat mir einmal erzählt, dass er seit seinem Unfall, bei dem er fast komplett verbrannte, viel von seiner Kraft aus der Wut zieht, die er immer noch auf Gott hat. Das fand ich spannend, weil es so ganz anders ist als bei mir.
Auch Huschan, den ich in der Reha-Klinik in Nottwil kennenlernte, ließ sich von seiner Wut antreiben. Er war beim Kirschenpflücken vom Baum gefallen und ist seitdem gelähmt. In seiner Heimatstadt Teheran hätte er als Paraplegiker große Schwierigkeiten gehabt. Deshalb schrieb ich in „Zwei Leben“, dass er dringend eine nette Schweizerin sucht, die er heiraten kann. Tatsächlich hat er eine gefunden. Heute leben sie gemeinsam in der Nähe von Winterthur.
In Nottwil sagte Huschan einmal: „Samuel, brauche Benzin!“
„Wozu denn?“, fragte ich ihn.
„Für Kirschebaum.“
„Wie jetzt? Willst du den Kirschbaum anzünden?“
„Nein. Nur draufschütten. Stirbt Kirschebaum ganz langsam.“
„Stell dich nicht so an!“
Ich habe sicher eine ziemlich robuste, positive Grundpersönlichkeit. Gerne antworte ich auf Fragen wie: „Wieso strahlst du eigentlich ständig so?“ mit: „Na ja, weißt du, ich bin eben nah an der Sonne gebaut.“ Das ist mir einerseits in die Wiege gelegt und andererseits durch Erziehung „auferlegt“ worden.
Ein typisches Beispiel dafür: Wir fuhren zu meiner Oma; ich muss so um die sieben, acht Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter saß am Steuer, ich auf dem Beifahrersitz. Eine meiner kleinen Schwestern, ich weiß nicht mehr, welche, saß im Kindersitz auf der Rückbank und trat von hinten gegen meinen Sitz, immer wieder, penetrant, die ganze vierstündige Fahrt lang. Nachdem ich mich vergebens bei ihr beschwert hatte, wandte ich mich an meine Mutter. „Die hört nicht auf damit! Das nervt mich!“
Ihre Antwort war: „Stell dich nicht so an. Das ist ein Kind und so was machen Kinder halt.“
Diesen oft gehörten Satz fand ich damals nicht schön, aber heute hilft es mir oft, wenn ich mir selbst sage: „Stell dich nicht so an!“ Es gäbe jeden Tag genug Gründe für mich, nicht zur Arbeit zu erscheinen. Allen voran Schmerzen, die ich immer noch fast ständig habe, oder einfach nur der Wunsch, zu Hause zu bleiben, wo mich niemand anstarrt und alles eingespielt und bequem ist. Wenn ich es darauf anlegen würde, könnte ich mich ständig krankschreiben lassen. Aber da ich das noch nie gemacht habe, gestatte ich es mir auch jetzt nicht. Man kann sich auf eine gesunde Art selbst manipulieren, indem man sich nicht so anstellt. Ich rationalisiere vom Verstand aus und ändere damit erfolgreich das „Ich glaub, heut geht’s mir nicht so gut“-Gefühl.
Einer der weiteren prägenden Sätze meiner Mutter war: „Es ist nicht zum Tode.“ Diesen hat sie zwar eingedämmt, seitdem bei mir viele Situationen doch akut lebensgefährlich waren. Aber mittlerweile entfaltet er wieder seine beruhigende Wirkung, denn die meisten Sachen sind ja tatsächlich halb so schlimm.
Kraftquellen
Es gibt auch konkrete Dinge, die die innere Aushalte-Kraft bei mir stärken. Nach den vielen Begegnungen mit ebenfalls körperlich eingeschränkten, anders Versehrten und vom Schicksal tief geschlagenen Menschen kann ich mir aber nicht anmaßen, zu dieser Thematik allgemeingültige Antworten, Lösungen, geschweige denn einen Tipp zu geben. Leidenswege und Schicksale sind, auch wenn es plump klingt, stets individuell zu betrachten. Ich stelle immer wieder fest, dass Methoden, die mir aus „tiefen Momenten“ helfen, für andere genau das Falsche sein können und Tipps, die ihnen wiederum helfen, mich nur runterziehen. Und sogar bei mir selbst kann eine Maßnahme an einem Tag hilfreich sein und am nächsten genau das Gegenteil bewirken.
Dies vorweggeschickt, kann ich also sagen, dass es mir hilft: mich in Geduld zu üben, Schmerzen auszuhalten, selbst zu denken, gegen Widerstände zu kämpfen, still zu sein, allein zu sein, in Gesellschaft zu sein, zuzuhören, mich aus meinem Wohlfühlbereich herauszubewegen, aktiv zu sein, mir Beschäftigung zu suchen, unvernünftig zu sein, höflich zu sein, diplomatisch zu sein und ab und zu mal zu schlafen.
Nicht allein
Die wichtigste Antwort, die ich auf alle Fragen der Art „Wie schaffst du das?“ gebe und auch geben muss, lautet:
Nicht allein!
Das gilt gleich in vielerlei Hinsicht. Wofür würde es sich sonst zu leben lohnen, wenn nicht mit oder vor allem für andere Menschen?
In der Akutphase nach meinem Unfall und vor allem in den ersten Monaten meiner Rehabilitation, die ich völlig unbeweglich auf dem Rücken liegend verbrachte, waren es meine Freunde, meine Familie sowie verschiedene Pfleger und Therapeuten, die mich auf positive Weise ablenkten, auf andere Gedanken brachten, mit mir spielten, sangen, beteten und mich trotz großer Schmerzen zum Lachen brachten. Ich glaube, Leid ist kaum nachhaltig zu ertragen, wenn man nicht auch Freude erlebt. Man verliert jedweden Lebensmut, wenn man nicht irgendwo Energie und Spaß tanken kann. Und tatsächlich ist es zu meinem eigenen Erstaunen rückblickend so, dass ich seit dem Unfall keinen einzigen Tag ohne Lachen erlebt habe. Und wenn es nur ein dummer Wortverdreher von meiner persönlichen Lektorin war.
Für mich war es auch eine Art Gnade, von grausamen Diagnosen verschont zu werden und nicht gleich alles zu erfahren. Wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass ich vier ganze Jahre gelähmt bleiben muss, hätte ich gedacht: Das halte ich nicht durch, holt den Tierarzt, nie im Leben schaffe ich das! Aber rückblickend kann ich sagen, dass ich in diesen Jahren auch viele Stunden erlebt habe, die schön waren und friedlich und gut und die mich all die Verzweiflung haben vergessen lassen. Das hätte ich in der Klinik nicht gedacht, dass es solche Momente geben würde, für die es sich zu leben lohnt.
Eine weitere Dimension der „Nicht allein“-Bewältigungsstrategie ist die Freude daran, anderen Menschen helfen zu können. Dies ist immer ein Geben und Nehmen, finde ich. Wenn es mir gelingt, jemandem Mut zu machen, macht mir das wiederum auch Mut.
Das Beste kommt erst noch
Was mir wohl am meisten hilft, ist die Aussicht auf „mehr“. Wenn ich denken würde, dass mein Leben in der Wiege beginnt und im Sarg endet und ich mich damit zwangsläufig selbst in den Mittelpunkt setze, wäre dieses Leben ganz schön „wenigdimensional“ und armselig.
Da ich aber überzeugt davon bin, dass dieses Leben nicht alles ist, muss ich nicht krampfhaft versuchen, es möglichst vollzupacken oder zu verlängern. Und es hängt auch nicht mehr so viel davon ab, immer und überall die optimalste, ökonomischste und Erfolg versprechendste Entscheidung zu treffen. Wenn man konsequent davon ausgeht, dass das Beste erst noch kommt, relativiert sich nicht nur vieles Unschöne, sondern die gesamte Perspektive auf das Leben verändert sich. Das klingt vielleicht im ersten Moment etwas kompliziert, führt aber im Grunde dazu, dass man sich öfter mal sagt: „Na und?“, statt endlos über eine suboptimale Angelegenheit verärgert zu sein.
Stattdessen verschiebe ich meine Perspektive lieber auf die schönen Dinge im Leben. Dazu versuche ich zum Beispiel regelmäßig Dankbarkeitslisten zu erstellen. Ich zähle mir – ein bisschen selbstmanipulativ – Dinge auf, für die ich dankbar bin: Sei es die Schönheit der Schöpfung oder die Entdeckung der Mikrowellen, die so schnell ein Kirschkernkissen aufheizen können, das dann meinen Nacken wärmt. Oder meine Wohnung, warme Socken, Saunas, Vogelgezwitscher am Morgen, Chris, Jonathan, Seb, Alex, Sarah, Gergö, Facebook, Touch-Displays, Mama, Papa, mein Bruder, Naomi, meine Schwestern und ihre hoffentlich guten Jungs, Cousinen, Cousins, Oma und Opa, Onkel und Tanten, Bavaria, Ufa, Til, Christoph, Physiotherapie, Simon, Isa, Sonnenaufgang, Sarah, Fahrtwind, Manuel, Pfefferminztee,...