Prolog
Signore Argento, warum haben Sie das gemacht?
„Das Leben ist eine Illusion, eine Falle, und das Kino muss die Verbildlichung dessen sein“, sagte Dario Argento einmal. Dass der italienische Regisseur das Leben als Illusion bezeichnet, mag vor allem an dessen Einsicht liegen, dass es Dinge gibt, die man im kulturellen und gesellschaftlichen mainstream dauerhaft da hin verbannt, wo sie sind und damit so belässt, wie sie sind: unbewusst, verdrängt, verleugnet oder vergessen; Dinge, gegen die unser Alltagsbewusstsein mächtige Abwehrbollwerke errichtet hat. Doch mögen diese Dinge auch noch so unbewusst, verdrängt, verleugnet oder vergessen sein, sie sind gewaltiger, bedrängender, mitunter auch faszinierender und wirklicher als wir es uns zuweilen zugestehen wollen, und diese sind es auch, die uns von Zeit zu Zeit in die Falle unseres eigenen Lebens tappen lassen. Die Gesellschaft hat Instanzen entwickelt, die mit diesen Dingen erklärend oder verstehend umzugehen versuchen, rationalisierend und reflektierend in den Wissenschaften, moralisierend und mythologisierend in den Religionen oder aber erzählend, ästhetisierend und emotionalisierend in den Künsten, der Malerei und Bildhauerei, der Literatur, der Musik, der Fotografie oder dem Film.
Was sind dies für Dinge, die auf uns abstoßend und anziehend zugleich wirken, die seit Menschengedenken die Einbildungskraft, die Sinne und den Verstand zu fesseln imstande sind, die Entrüstung, Begeisterung und Träumereien hervorrufen, die Wissenschaft, Religion und Kunst zu ewigen, unabschließbaren Aufgaben machen? Es sind Träume und Albträume, Chaos und Wahnsinn, dunkle Triebkräfte, Tragik und Zufall; es sind die Verletzlichkeit des Körpers, Krankheit und Tod, diffuse Ängste und konkrete Furcht, Sehnsucht, sexuelle Fetische und Obsessionen; es sind Hoffnung und Fatalismus, das Hässliche und das Schöne, der Rausch und das Mythische und nicht zuletzt die Rätsel der menschlichen Einbildungskraft und Kreativität - willkommen in der Filmwelt des Dario Argento!
An den Titel von François Truffauts Hitchcock-Buch angelehnt zu fragen: „Signore Argento, warum haben Sie das gemacht?“, bedeutet, sich einem der kompliziertesten und innovativsten, aber auch umstrittensten und am schwersten einzuordnenden Regisseuren des Kinos anzunähern. Gerade Argentos Genres - der Horrorfilm und der giallo - und gerade sein bohrendes Insistieren auf jenem Unbewussten, Verdrängten, Verleugneten und Vergessenen, und nicht zuletzt seine ausschweifende Fantasie und atemberaubende Experimentierfreudigkeit, führten dazu, dass die Auseinandersetzung mit seinem Werk hierzulande vor allem zwei Richtungen eingeschlagen hat. Zum einen gibt es zahlreiche publizierte Einordnungsversuche von „Horrorspezialisten“, zum anderen hat die etablierte professionelle Filmkritik Argento en gros entweder in die von vorne herein als minderwertig beurteilte Ecke der splatter-Regisseure abgeschoben oder einfach ignoriert. Was der Aufklärer Lichtenberg jedenfalls einmal über das Lesen von Büchern gesagt hat, gilt diesbezüglich erstrecht für das Anschauen und Beurteilen von Filmen: „Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?“ Erschwerend hinzu kommen die verheerenden Auswirkungen einer langjährigen Praxis von Zensur und Kritik. In Deutschland ist Dario Argento selbst noch in seiner kreativsten Schaffensphase zu einem direct to video-Regisseur herabqualifiziert worden, dessen Arbeit so aus dem allgemeinen Diskurs über das Kino weitestgehend verbannt worden ist. Über Jahrzehnte wurde so einer der großen unzeitgemäßen Filmkünstler seiner Zeit systematisch marginalisiert, verleugnet oder verkannt. Dieses Buch hingegen versucht einen neuen, einen anderen Zugang zu eröffnen und es verlangt dabei im Ganzen nicht mehr und nicht weniger, als es die Filme Argentos auch tun: Hingabe, Reflexion und die Bereitschaft auch unter die sichtbare Oberfläche blicken zu wollen, denn ihre Schlüssel liegen - mehr noch als bei den meisten anderen Regisseuren - oft nicht nur in dem, was sie erzählen, sondern auch in dem, wie sie etwas erzählen.
Dieses Buch ist zudem ein zweifaches Experiment. Zum einen zwingt die unbestreitbare Tatsache, dass Argento nach dreißig Jahren seinen genuinen Zugang zum Filmemachen fast vollständig verloren hat, dazu, diese Untersuchung auf seine Hochphase von Anfang der siebziger Jahre bis zur Jahrtausendwende zu beschränken. Auch in der Kunstgeschichte ist es nichts Außergewöhnliches, dass Künstler unterschiedliche, in ihrer Wertigkeit abweichende Schaffensperioden aufweisen. Darum auch soll dieses Buch keine Werkschau im herkommlichen Sinne präsentieren - die es ohnehin bereits gibt (es sei hier auf den von Michael Flintrop und Marcus Stiglegger heraugegebenen Sammelband „Dario Argento: Anatomie der Angst“ verwiesen) -, sondern ist als eine Studie angelegt, die Anhand einer bewussten Auswahl den auteur-Status Argentos in jener Phase hervorzuheben versucht, in der er diesen auch noch zu erfüllen vermochte. Zum anderen sollte dieses Buch im günstigsten Fall wieder eine Wirkung entfalten, die bereits bei meinen beiden ersten Filmbüchern bemerkt wurde: „Nun auch das... regt zum Nachdenken an und macht Lust, all diese ‚verkannten Meisterwerke’ wieder mal zu sehen. Kann man Schöneres von einem Buch sagen?“ Christoph Dompke, der dies in epd-Film über meine William Castle-Monografie schrieb, spricht hier auch für die Leser, so schrieb mir eine Leserin, nachdem ich mein Buch über Vincent Price veröffentlicht hatte, dass sie seit vielen Jahren eine Art Ritual pflegt: In regelmäßigen Abständen liest sie dieses Buch und benutzt es dabei als Schlüssel zum Wiederansehen der darin besprochenen Filme, um so immer wieder das Besondere dieser Filme, ihre Stimmungen, Hintergründe und ursprünglichen Seherfahrungen wiedererleben zu können. Entlang einer Auswahl von 10 Regiearbeiten Argentos von VIER FLIEGEN AUF GRAUEM SAMT (1971) bis SLEEPLESS (2000) soll dieses Buch daher auch einige dieser Schlüssel für Argentos Werk aufspüren, nicht nur, um das Wiederansehen dieser Filme zu einem nachhaltigen, oder vielleicht auch ganz neuem Erlebnis zu machen, sondern um am Ende auch einige Antworten zu geben auf die Frage: „Signore Argento, warum haben Sie das gemacht?“
Eine Antwort wird man hier allerdings vergebens suchen: Argento hat seine Filme mit Sicherheit nicht gemacht, um die Menschwürde zu verletzen oder um Gewalt zu verharmlosen oder gar zu verherrlichen. Das genaue Gegenteil ist der Fall, wie es Maitland McDonagh in ihrer kompetenten Monografie: „Brocken Mirrors/Brocken Minds. The Dark Dreams of Dario Argento“, einem der bisher aufschlussreichsten Werke über das Filmschaffen des italienischen Regisseurs, eindrucksvoll dargestellt hat. Niemand, der ernsthaft über Argento schreibt, wird dieses Buch ignorieren können, und auch ich bin ihr zu Dank verpflichtet, auch wenn „Der verletzliche Blick“ nicht den Weg der vornehmlich literaturwissenschaftlichen Interpretation McDonaghs einschlagen wird und so gesehen als Ergänzung gelesen werden sollte. Auch der oft vorgenommene, an Freud orientierte psychoanalytische Interpretationsansatz - der exemplarisch etwa in John Martins Aufsatz „What You See is What You Don’t Get“ verfolgt wird - ist hier, auch wenn er eine gewisse Berechtigung hat, nicht der zentrale. Als Vorläufer meiner Untersuchung könnte man am ehesten noch Chris Gallants Essay „The Art of Allusion - Painting, murder and the ‚plan tableau’“ in dem von ihm selber herausgegeben Band „Art of Darkness - The Cinema of Dario Argento“ von 2000 sowie den Aufsatz „Tiefe Fallen“ der Kunstwissenschaftlerin Joanna Barck von 2013 nennen. Wie die Gallants und Barcks, so sind auch meine Argumente vorwiegend ästhetische, sie zielen auf Argentos die verschiedenen Kunstformen verbindende Mise-en-scène ab, auf die starke Affinität des „argentoesken“ Stils zur Malerei, Bildhauer, Fotografie, Architektur und nicht zuletzt zur Oper. Die Wahrheit über Dario Argento ist jedenfalls kompliziert, vielschichtig, auch für das Kino im Allgemeinen bedeutend und sie liegt irgendwo in seinen Filmen verborgen, eine Wahrheit im Übrigen, die direkt mit der Freiheit der Kunst, genauer des Künstlers und seiner selbst gewählten Ausdrucksmittel zu tun hat; denn mit Kunst und deren Erschließung des Menschen und der Welt haben Dario Argentos Filme viel mehr zu tun als es uns so manche Verdikte und in unzähligen Kompendien über den Horrorfilm vergrabene Äußerungen bisher glauben machen wollten.
Dafür, dass dieses Buch in dieser Form möglich geworden ist, möchte ich folgenden Personen meinen...