ERSTER SPIELER
Christian Kraft
Der Mensch ist, was er hat. Zum Beispiel ein Vermögen von 151 Millionen Mark1 und ein Jahreseinkommen von 7 Millionen Mark; er hat in Oberschlesien mit der Hohenlohe-Werke AG ein Bergbauimperium mit zehntausend Arbeitern und Angestellten sowie eine Residenz in Slawentzitz mit Schloss, Dienerschaft und angeschlossenem Bahnhof, in Javorina in der Hohen Tatra ein Jagdschloss mit 38.000 Hektar Wald – zur Jagd werden Wisente aus Polen, Steinböcke vom Sinai und Hirsche aus dem Kaukasus importiert –, in Franken Schlösser und mehr als fünftausend Hektar Ländereien und in Berlin-Grunewald eine Villa; er hat ein Vollblutgestüt, Automobile und Chauffeure, und er hat sogar, nach kurzem Studium in Bonn, juristische Grundkenntnisse. Er ist einer der größten Zinkproduzenten der Welt, einer der bekanntesten Jäger Deutschlands und Österreich-Ungarns, Vizepräsident des Deutschen Automobilverbandes und Vorsitzender des Berliner Pferderennclubs Union. Er ist Mitglied des preußischen Herrenhauses und des Reichstages. Er ist einer der reichsten Deutschen: Christian Kraft Fürst zu Hohenlohe-Öhringen, Herzog von Ujest.
Seit dem Tod des Vaters, Fürst Hugo, 1897 ist Christian Kraft als ältestes von acht Geschwistern Oberhaupt des fränkischen Adelsgeschlechts. Er wurde am 21. März 1848 in Öhringen geboren, dem Tag, an dem der preußische König Friedrich Wilhelm IV. mit schwarz-rot-goldener Schärpe durch Berlin ritt und scheinheilig »Deutschlands Freiheit, Deutschlands Einigkeit« versprach, drei Tage nachdem seine Soldaten mehr als dreihundert Bürger von den Barrikaden geschossen hatten. Christian Kraft ist also ein Kind der Revolution, ein Revolutionär aber ist er nicht. Wie sein Vater, der Vizepräsident des Reichstages war, beschäftigt er sich zwar mit Politik und ist Abgeordneter der deutschkonservativen Partei, die Bismarck über dessen Tod hinaus treu ergeben ist, doch über die Jahre hat er die Lust daran verloren: »Die Politik wird jetzt so ekelhaft betrieben u. es wird so haarsträubender Blödsinn zu Tage gefördert, dass ich eigentlich gar nicht mehr in den Reichstag gehe.«2 Und wie sein Vater, der 1866 als Generalleutnant an der Schlacht von Königgrätz teilgenommen hatte, war auch Christian Kraft in die Reichsgründungskriege gezogen, hatte aber auf eine militärische Laufbahn verzichtet.
Weder in der Politik noch beim Militär entwickelt Christian Kraft also besonderen Ehrgeiz. Selbst als er 1894 zum königlichen Oberstkämmerer avancierte – ein Ehrenamt, das ihn immerhin zur ersten Charge am preußischen Hof machte, noch vor dem Ministerpräsidenten, dem Generalfeldmarschall und den Häuptern der fürstlichen Familien3 –, hat ihn das nur wenig beeindruckt. Als es 1899 zu einem Streit mit dem Kaiser kam, legte er das Amt kurzerhand nieder. Schwerer wird ihn die Reaktion Wilhelms II. getroffen haben. Der »nervöse« Kaiser war für seine Schießwut berüchtigt, die Gelegenheit zur Jagd ließ er sich kaum jemals entgehen.4 Aber die Einladung Christian Krafts zur Jagd in Slawentzitz hatte er, wie die Berliner Salonnière Baronin Spitzemberg in ihrem berühmten Tagebuch berichtet, wütend ausgeschlagen, »für die doch der Herzog 16.000 lebende Fasanen hat aufkaufen lassen, die nun ihn fast auffressen, eine Ausgabe von etwa 80.000 M!«5 Das war eine Beleidigung nicht nur des Fürsten, sondern auch des Waidmanns Christian Kraft, dessen »erstklassige Jagderfolge« die europäische Presse feiert: »In der Tatra besitzt Fürst Hohenlohe eines der schönsten Jagdreviere Europas, und hier erbeutete er in der diesjährigen Brunftzeit einen Hirsch, der förmlich an die sagenhaften Gestalten vergangener Jahrhunderte erinnerte. Dieser Riese unter den Cerviden wog nicht weniger als 379 Kilogramm (aufgebrochen 312 Kilogramm), während ein um 100 Kilogramm leichterer Hirsch als Kapitalstück bei uns bezeichnet wurde.«6
Noch populärer als der Jäger ist der Pferderennstallbesitzer Christian Kraft, ein Liebling der Sportseiten der deutschen und österreichischen Presse, die über seine Triumphe ausführlich berichten. Als er sich entschließt, alle Pferde österreichischungarischen Trainern anzuvertrauen, würdigt die Wiener Zeitung Sport und Salon den reichsdeutschen »Sportsman« mit Foto (»Se. Durchlaucht Fürst Christian Kraft zu Hohenlohe-Oehringen«) und einem ausführlichen Artikel: »Jetzt steht die gesamte stattliche Streitmacht, mit welcher der Fürst in diesem Jahre in die Ereignisse unseres und des deutschen Turfs eingreifen wird, in Alag in den Stallungen Charley Planners, zu dessen Hauptpatron der deutsche Grandseigneur geworden ist. Das Lot des Fürsten zählt heuer 16 Köpfe.«7 Zwischen 1903 und 1912 gewinnen 67 Pferde Christian Krafts 76 Rennen auf österreichischen Bahnen und brachten ihm Siegprämien in Höhe von 883.730 Kronen ein.8
Als Jäger und als Sportsmann geht er in die Vollen, in privaten Dingen ist er eher vorsichtig. Er lebt ohne Trauschein mit der zwanzig Jahre jüngeren Gräfin Ottilie Lubraniec-Dambska geb. Brauns zusammen. Die aus dem Bürgertum stammende Geliebte hatte auf Drängen Christian Krafts den buckligen polnischen Grafen Dambski geheiratet, der sich nach der Hochzeit alsbald wieder scheiden lassen und verschwinden musste.9 Aber auch als Gräfin hat Ottilie keine Aussicht, jemals die Frau des Fürsten zu werden – das Gesetz des Fürstlichen Gesamthauses Hohenlohe verbietet es. Als standesgemäß gelten nur Heiraten mit Mitgliedern des hohen Adels, ausnahmsweise auch sonstige fürstliche oder altgräfliche Personen. Ein Regelverstoß würde Christian Kraft Titel und Vermögen kosten. So ist es seinem sechzehn Jahre jüngeren Bruder Prinz Hugo ergangen, der sich seit der Hochzeit mit einer Zirkusreiterin Graf von Hermersberg nennen muss. Auch Christian Krafts wegen Verschwendung entmündigter Cousin Alexander zu Hohenlohe-Öhringen, für den der Fürst die Vormundschaft übernommen hat, ist Opfer des Hausgesetzes geworden: Nach seiner Heirat mit Elsa von Ondarza, der Tochter eines vermögenden Hamburger Kaufmanns, wurde der Prinz zum Freiherrn von Gabelstein herabgestuft.
Die Heirat ist vermutlich das Einzige, worauf Gräfin Ottilie an der Seite Christian Krafts verzichtet. Der Luxus, mit dem er sich umgibt, ist so überwältigend, dass der Theologiestudent und künftige Schriftsteller Heinrich Wolfgang Seidel, der einige Monate in der Residenz Slawentzitz lebt, in einem Brief an seine Eltern kaum Worte findet: »Draußen Elend und Schmutz, innen unerhörte Pracht und Verschwendung. Es lässt sich gar nicht beschreiben, welch ein Paradies dieser endlose Park ist und welch ein Glanz über dem Schloss liegt, wenn die Sommersonne scheint. Der Fürst lebt wie Lukull und wahrscheinlich besser als der Kaiser. Nur für den Herrschaftstisch werden oft täglich 30 Hühner gebraucht, nur für ihn sind im letzten Monat 3000 Eier verschwendet worden. Wenn das Feuer in der Küche nicht brennen will, so fliegt ein Pfund Butter hinein. Heute ist ein Mann aus Berlin da, der dem Fürsten die Haare schneidet – wenn das fertig ist, reist er wieder ab, nachdem er sich vorher noch gehörig satt gegessen hat.« Christian Krafts Chauffeur, schreibt Seidel, rühme sich, »schon auf kürzeren Strecken zehn Hunde totgefahren zu haben; und auch sonst gibt es Dinge, über die die Diskretion schweigt. Jedenfalls ein fabelhafter interessanter Ort«.10
Warum sich Christian Kraft mit sechzig Jahren nicht mit der kommoden Existenz als Großgrundbesitzer und Großindustrieller begnügt, sondern die Abenteuer im Leben eines Großspekulanten sucht, ist nicht bekannt. Einige Zeitgenossen vermuten, der Feudalherr wolle beweisen, dass er die Regeln des Kapitalismus so gut beherrsche wie einige besonders erfolgreiche Standesgenossen.11 Andere glauben, dem Fürsten sei langweilig, er habe keine Lust, »nur als Rentier seiner Jagdleidenschaft nachzugehen«.12 Richtig ist jedenfalls die Diagnose, die Christian Kraft eine »starke und allenthalben sehr wenig glückliche Neigung zu umfassender kaufmännischer Betätigung«13 bescheinigt, mit anderen Worten: Er gefällt sich als Unternehmer und als Spekulant, obwohl er in beiden Rollen eher eine traurige Figur macht. Als er 1908 mit seinem Cousin Max Egon in der Berliner Dorotheenstraße den Fürstentrust eröffnet, hat er durch waghalsige Spekulationen bereits einige Millionen verloren.
Immerhin ein Groß-Projekt ist Christian Kraft in jüngster Zeit gelungen. Er hat seinen gesamten industriellen Besitz in eine Aktiengesellschaft, die Hohenlohe-Werke AG, umgewandelt und dafür 1905 eine einmalige Abfindung von 44 Millionen Mark und eine jährliche »ewige Rente« von jährlich drei Millionen Mark erhalten. Für die Seriosität der Aktion hatte der Chef der Berliner Handelsgesellschaft gebürgt, Carl Fürstenberg, einer der reichsten und respektabelsten...