I Einleitung
„Mein Lehrer war Nicola Perscheid. Diesen Namen hören manche vielleicht das erste Mal, andere hatten ihn wohl schon vergessen, wenige werden noch wissen, wer das war [...]“ Arthur Benda (1885–1969)
Die vorliegende Monografie fokussiert auf vier Jahrzehnte deutsche Atelierfotografie zwischen 1890 und 1930. Obwohl die Fotografie ex termini als serielles Medium aufzufassen ist, steht hier das Einzelbild als autonomes Kunstwerk im Mittelpunkt, da Nicola Perscheid (1864–1930) seine Aufnahmen als Unikate einstufte. Dabei wird der zeitgenössischen Zuschreibungen gefolgt, die Nicola Perscheid als „Künstlerfotograf“ definierten.2 Die Werkübersicht zu diesem Berufsfotografen führt in die Zeit des Deutschen Kaiserreiches und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis in die Weimarer Republik. Nahezu unberührt vom Wechsel der politischen Systeme und der Weiterentwicklung der fotografischen Bildsprache lichtete Perscheid die obere Gesellschaftsschicht ab und schuf damit ein Kaleidoskop der Aristokratie und des Bürgertums seiner Epoche.
I.1 Plädoyer für eine Monografie
Die Dissertation thematisiert erstmals umfassend das fotografische Werk sowie die Lebens- und Wirkungsgeschichte von Nicola Perscheid, der Anfang des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Fotografen in Deutschland gehörte. Als Berufsfotograf entwickelte er sein ästhetisches Formgefühl vor der Jahrhundertwende in der kunstfotografischen Bewegung. Ausgangspunkt für die Stilrichtung der Kunstfotografie, die in Anlehnung an die englischsprachige Bezeichnung auch als Piktoralismus bezeichnet wird, bildete die universelle Ablehnung der normierten Atelierfotografie des 19. Jahrhunderts.3 Vor allem ambitionierte Amateure sahen in deren bezüglich Personeninszenierung, Atelierausstattung, Bildstil und Formaten weitgehend standardisierten Aufnahmen eine Diskrepanz zu ihrem Kunstanspruch an das Medium Fotografie. Sie versuchten, durch die Verwendung verschiedener Edeldruckverfahren Bildstrukturen und Unikate zu erzeugen, die den traditionellen künstlerischen Techniken, wie beispielsweise Malerei und Zeichnung, möglichst nahe kamen, um die Fotografie als künstlerisches Medium zu legitimieren.
Nicola Perscheid entwickelte in diesem Kontext einen eigenen Stil, in dem er die gehobene Gesellschaftsschicht porträtierte. In seinen bildmäßigen Porträtfotografien finden sich Analogien zu den Gemälden bekannter Maler wie Diego Rodríguez de Silva y Velázquez (1599–1660) oder dem Zeitgenossen des Fotografen James Abbott McNeill Whistler (1834–1903). Diese Imitatio Artis, die Nachahmung von Kunstwerken, blieb zeitlebens für den Stil der Porträtfotografie Nicola Perscheids bestimmend. Die konzeptionelle, an den Werken der bildenden Kunst geschulte Auffassung des Berufsfotografen fand vor allem im deutschsprachigen Raum höchste Anerkennung. Die Wiener „K. u. K. Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie und Reproduktionsverfahren“ berief Nicola Perscheid beispielsweise 1909 als Professor für Porträtfotografie.4 In den darauf folgenden Jahren können mehrere kürzere Lehrtätigkeiten im skandinavischen Raum nachgewiesen werden. Perscheid beschäftigte sich außerdem mit fotochemischen und fototechnischen Weiterentwicklungen, wie dem heute seltenen und unter Fotografica-Sammlern hoch geschätzten Nicola-Perscheid-Objektiv.5 Der Nachlass des Fotografen wurde 1943 durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges vernichtet. In einigen Privatsammlungen, musealen Archiven und Bildagenturen lagern jedoch größere Konvolute Perscheidscher Fotografien, die bislang nur marginal bearbeitet wurden. Diese umfangreichen Bestände und die Signifikanz seiner Werke für die Mediengeschichte der Fotografie rechtfertigt die monografische Ausrichtung dieser Arbeit über einen Fotografen, in dessen Nachruf es hieß: „Nicola Perscheid, bedeutendster Lichtbildner unserer Zeit, der aus dem Photographenhandwerk eine Lichtbildkunst gemacht hat.“6
I.2 Forschungsstand
Die spärliche wissenschaftliche Forschungsliteratur führte dazu, dass Perscheid nicht grundsätzlich in fotografischen Lexika und Überblickswerken verzeichnet ist, obwohl er, nicht nur im Kontext der Kunstfotografie, durchaus zum Kanon der Fotografiegeschichte gezählt werden sollte.7 Zu den frühesten Einträgen in Lexika und Enzyklopädien gehört das ab 1905 durch den Leipziger Verleger Herrmann August Ludwig Degener (1874–1943) jährlich herausgegebene, weitverbreitete biografische Handbuch „Wer ist’s?“, in dem die bedeutendsten Zeitgenossen alphabetisch verzeichnet wurden. Perscheid erscheint in diesem Kompendium als Fotograf und Inhaber eines Ateliers für bildmäßige Fotografie mit knappen biografischen Notizen.8 Deutlich ausführlicher waren die Angaben über ihn im „Deutschen Zeitgenossenlexikon“ aus dem gleichen Jahr.9 1910 erschien sein Name im „Lexikon für Photographie und Reproduktionstechnik“.10 Nach 1945 wurden in Deutschland Informationen zu Nicola Perscheid als lexikalischer Beitrag im „Lexikon der Fotografen“ und in der „Neuen deutschen Biographie“ publiziert.11 In internationalen Enzyklopädien hingegen fand Perscheid relativ selten mit biografischen und bibliografischen Einzeldarstellungen Beachtung. Eine Ausnahme bildete die 1985 in der Schweiz veröffentlichte „Encyclopédie internationale des photographes de 1839 à nos jours“.12 Der 2005 in Österreich verlegte Katalog „Portrait im Aufbruch. Photographie in Deutschland und Österreich 1900–1938.“ würdigte Nicola Perscheid ebenso mit einem lexikalischen Eintrag, wie der Bestandskatalog zur Fotografie von 1839 bis 1945 des Dresdner Kupferstich-Kabinetts.13
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Arbeiten Nicola Perscheids war im letzten Jahrhundert marginal, obwohl er bereits im Juli 1900 als „eine der markantesten Erscheinungen der jetzigen Photographengeneration“ bezeichnet worden war.14 Gleichzeitig erfolgte dabei die Aufforderung: „Wenn einmal eine Geschichte der künstlerischen Entwicklung der Berufsfotografie geschrieben wird, dann wird Perscheids Name nicht vergessen werden dürfen!“.15 In Vergessenheit geriet er allerdings bereits wenige Jahre nach seinem Tod. Durch die Auflösung des Ateliers kurz vor dem Ableben Perscheids existiert kein lokal konzentrierter Nachlass des Fotografen. Auftragsbücher und andere Quellen könnten sich zwar weiterhin im Besitz der Familie befunden haben, es ist aber anzunehmen, dass diese Materialien während des Zweiten Weltkrieges verloren gegangen sind, da die Witwe Perscheid 1943 in Berlin ausgebombt wurde und ihren Besitz vollständig verlor. Der Schüler und spätere Mitarbeiter Arthur Benda (1885–1969) erinnerte sich im Alter von über 80 Jahren:
„Mein Lehrer war Nicola Perscheid. Diesen Namen hören manche vielleicht das erste Mal, andere hatten ihn wohl schon vergessen, wenige werden noch wissen, wer das war; und der Nachwuchs des Berufes wird sich erinnern, daß dieser Name auf einem Objektiv steht nach welchem bei den Prüfungen gefragt werden könnte.“16
Bereits neun Jahre nach seinem Tod resümierte eine fotografische Fachzeitschrift:
„Um so mehr ist es zu bedauern, daß keine geschlossene Veröffentlichung, ja nicht einmal eine private Sammlung seiner Meisterarbeiten den jungen Lichtbildnern Gelegenheit zum Studium gibt.“17
1944 schrieb Wilhelm Schöppe, dass im Hinblick auf Nicola Perscheid aus seinem „überreichen Schaffen [...] nur noch klägliche Bruchstücke“ vorhanden seien.18 1964 versuchte der Privatsammler Willem Grütter (1901–1972), anlässlich des 100. Geburtstages von Nicola Perscheid eine Jubiläumsausstellung zu organisieren:
„Im kommenden Jahr ist nun der 100. Geburtstag von Nicola Perscheid. Ich bemühe mich schon, eine Gedächtnisausstellung irgendwo unterzubringen. Herr Rief in Worpswede ist nicht abgeneigt, eine Photo-Ausstellung in Worpswede zu organisieren - zumal Perscheid mehrere Worpsweder Künstler photographierte. Vorerst will ich aber noch mit Herrn Gruber persönlich verhandeln; auch noch mit Herrn Kempe aus Hamburg.“19
Seine Bemühungen führten im Jubiläumsjahr allerdings lediglich zu dem Aufsatz „Über Nicola Perscheid“ des Publizisten und Begründers der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) L. Fritz Gruber (1908–2005) im „Foto-Magazin“, der mit Fotografien aus der Sammlung Grütter illustriert wurde.20 Im gleichen Jahr erwähnte Fritz Kempe (1909–1988), der von 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 die „Staatliche Landesbildstelle Hamburg“ als Direktor leitete, Nicola Perscheid in seinem Ausstellungskatalog zur Kunstfotografie in...