Das Göttliche im Universum findet nur der, der es in sich selbst entdeckt. Was aber im Innern sich als Göttliches ankündigt, ist dasselbe wie das äußere Göttliche. Wenn einem das Göttliche aufgeht, hört eben der Unterschied des Innen und Außen auf; man verschmilzt mit der Außenwelt und lebt sich in das einige Göttliche ein.7
Kapitel I
Die Stufen des Denkens und die höheren Arten des Erkennens
Zum Ausgangspunkt von Rudolf Steiners Erkenntnisbemühungen
Im Jahre 1882 verfasste Rudolf Steiner einen Aufsatz mit dem Titel Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe, den er in dem Vortrag vom 12.5.1917 als „ersten Anfang dessen, was ich als Geisteswissenschaft bezeichnen möchte“8 charakterisiert.
In diesem Aufsatz bezeichnet er die Aufgabe, die sich die moderne Naturwissenschaft gestellt hat, als das Auffüllen der an sich selbst inhaltsleeren Begriffsschemen durch die Sinneserfahrung. Die Grundlage dafür findet er bereits bei Kant:
Kant schränkt das Gebiet der Erkenntnis auf die Erfahrung ein, weil er in dem durch dieselbe vermittelten sinnlichen Stoff die einzige Möglichkeit fand, die in unserer geistigen Organisation liegenden, an sich ganz leeren Begriffsschemen, die Kategorien, auszufüllen. Ihm war sinnlicher Gehalt die einzige Form eines solchen.9
Daraus ergibt sich, dass die moderne Naturwissenschaft als Wirklichkeit nur gelten lassen kann, was den physischen Sinnen wahrnehmbar ist und sich vor diese als ein Zählbares, Messbares und Wägbares hinstellt. Was dagegen dem Denken Begriffe und Ideen sind, kann ihr nur ein von dem Subjekt hervorgebrachtes Abstraktes sein, dem kein objektiver Wirklichkeitsgehalt zukommt.
Diese Anschauung steht in schroffem Gegensatz zur Gedankenrichtung Rudolf Steiners, weshalb er dazu bemerkt:
Ein Objekt der Außenwelt seinem Wesen nach erkennen, kann doch unmöglich heißen, dasselbe mit den Sinnen wahrnehmen und so, wie es sich diesen darstellt, von demselben ein Konterfei entwerfen. Man wird niemals einsehen, wie von dem Sinnlichen eine korrespondierende Photographie entstehen und welche Beziehung zwischen beiden sein könne. Eine Erkenntnistheorie, welche von diesem Standpunkt ausgeht, kann über den Zusammenhang von Begriff und Objekt niemals ins Reine kommen. Wie sollte man die Notwendigkeit einsehen, über das unmittelbar durch den Sinn Gegebene zum Begriff zu gehen, wenn in dem ersteren bereits das Wesen eines Gegenstandes der sinnlichen Welt gegeben wäre? Wozu noch das Begreifen, wenn schon das Anschauen genügte? Es wäre wenigstens der Begriff, wenn nicht eine Verfälschung, doch eine höchst unnötige Zugabe zu dem Objekte. Dazu muß man kommen, wenn man die Konkretheit der Begriffe und Gesetze leugnet. Gegenüber von solchen bildlichen Erklärungen, wie etwa auch die der Herbartschen Schule: der Begriff sei das geistige Korrelat eines außer uns befindlichen Gegenstandes, und das Erkennen bestehe in der Erlangung eines solchen Bildes, wollen wir nun nach einer Realerklärung des Erkennens suchen.10
Eine solche Realerklärung findet Rudolf Steiner dann auch in dem erstaunlichen Gedanken, dass die Objekte der sinnlichen Wahrnehmung ihrerseits nichts anderes als Begriffe und Ideen seien, die gegenüber ihrer ursprünglichen Form in einen anderen Aggregatzustand transformiert erscheinen: Wo Begriffe und Ideen dem Denken ein Umfassendes, Inhaltvolles sind, da liefert die Erfahrung der Sinne dem Menschen ein Gesondertes, Konkretisiertes, das – indem es in die feste Form der sinnlichen Wahrnehmungsobjekte geronnen ist – seines geistigen Inhaltes verlustig gegangen ist.
Damit ist jedoch noch ein Weiteres verbunden: Vermag es der Mensch, das seinen leiblichen Sinnen Gegenübertretende gedanklich zu durchdringen, so kann er wieder an dessen ursprüngliche Form der Begriffe und Ideen herankommen. Der Weg, den ihm seine Organisation vorzeichnet, führt also notwendigerweise von der äußeren Wahrnehmung mittels seiner leiblichen Sinne zur inneren Anschauung des Geistigen der Begriffe und Ideen:
Erst wenn man einsieht, daß es Begriff und Idee ist, was die Wahrnehmung bietet, aber in wesentlich anderer Form, als der von allem empirischen Gehalt befreiten des reinen Denkens, und daß diese Form das Ausschlaggebende ist, begreift man, daß man den Weg der Erfahrung einschlagen muß. Nimmt man aber an, es sei der Inhalt das Maßgebende, dann kann der Behauptung, daß derselbe Inhalt doch auch auf eine von aller Erfahrung unabhängige Weise erworben werden könne, nichts entgegengesetzt werden. [.] Und hier ist es, wo die moderne Naturwissenschaft dadurch, daß sie keinen klaren Begriff von Erfahrung suchte, auf Irrwege kam. [.] Anstatt die Apriorität des Begriffes anzuerkennen und die Sinnenwelt nur als eine andere Form desselben aufzufassen, betrachtet sie denselben als bloßes Derivat der Außenwelt, die ihr absolutes Prius ist. Die bloße Form einer Sache wird so zur Sache selbst gestempelt.11
Aus diesem Aufsatz lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass Rudolf Steiner vom Erleben des Geistigen ausging. Ihm war das Sinnenfällig-Gegebene selbst ein – allerdings in einen anderen Aggregatzustand transformiertes – Geistiges, dem keine eigenständige Wirklichkeit zukommt. Dagegen erhebt die moderne Naturwissenschaft gerade das Umgekehrte zur Realität: Für sie stellt das den Sinnen Gegebene das einzig Wirkliche dar, dem gegenüber den Begriffen und Ideen keine eigenständige Realität zukommt. Sie betrachtet die Letzteren lediglich als Abspiegelungen der Ersteren im menschlichen Subjekt, denen sie für das Zustandekommen des Weltganzen nicht die geringste Bedeutung zuschreibt.
Für Rudolf Steiner war jedoch das Erleben der Wahrheitswelt des Geistigen von frühester Jugend an das Ursprüngliche. Aus diesem Grunde war ihm auch das Widersinnige der Frage der Naturwissenschaft, wie aus der Materie Geist entstehen könne, ohne weiteres einsichtig. Er musste sich vielmehr die einzig berechtigte umgekehrte Frage nach dem Verhältnis des Materiellen zum Geistigen stellen. Denn das Geistige war für ihn erlebte Gewissheit, wogegen ihm das Wesen der sinnlichen Natur ein Rätselhaftes war. In diesem Sinne heißt es in Mein Lebensgang über seine innere Situation der Jahre um 1878:
Geist und Natur standen damals in ihrem vollen Gegensatz vor meiner Seele. Eine Welt der geistigen Wesen gab es für mich. Daß das ‚Ich‘, das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein. (GA 28, S. 52)
Ihre grundsätzliche Auflösung findet dieser Gegensatz in dem Aufsatz Einzig mögliche Kritik der atomistischen Begriffe.
In vollendeter Form klärt sich das Verhältnis geistiger Prozesse zu den feineren Vorgängen des Materiellen für Rudolf Steiner jedoch erst in der Philosophie der Freiheit. In der zweiten Auflage von 1918 heißt es mit Bezug auf das Denken, aber auch mit Blick auf das Verhältnis geistiger Prozesse zu physischen Vorgängen überhaupt:
Wer über einen erweichten Boden geht, dessen Fußspuren graben sich in dem Boden ein. Man wird nicht versucht sein, zu sagen, die Fußspurenformen seien von Kräften des Bodens, von unten herauf, getrieben worden. Man wird diesen Kräften keinen Anteil an dem Zustandekommen der Spurenformen zuschreiben. Ebensowenig wird, wer die Wesenheit des Denkens unbefangen beobachtet, den Spuren im Leibesorganismus an dieser Wesenheit einen Anteil zuschreiben, die dadurch entstehen, daß das Denken sein Erscheinen durch den Leib vorbereitet. (GA 4, S. 147)
Folgt man diesem Ergebnis geistig-seelischer Beobachtung, so kann es nicht mehr verwundern, wenn Gedankenbewegungen bis in physische Vorgänge im Gehirn des Menschen nachgewiesen werden können, wie es der modernen Biologie des Geistes12 anfänglich gelingt und wie es ihr in künftigen Zeiten – allerdings in vielleicht ganz anderer Art, als es ihrem naiv-realistischen Vorstellen gegenwärtig vorschwebt – gewiss mehr und mehr gelingen wird. Man wird dies vielmehr als Selbstverständlichkeit erwarten und wäre verwundert, wenn es sich anders verhielte. Man wird sich jedoch nicht bemüßigt fühlen, aus dieser Tatsache den Schluss zu ziehen, Gedankenbewegungen wären das Resultat physischer Prozesse. Ein solcher Schluss wird einem vielmehr als pure Kinderei erscheinen.
Da für Rudolf Steiner die geistige Wesenheit des Denkens von Beginn an außer jedem Zweifel stand, hatte er es gar nicht nötig, nach deren Grundlegung in der physischen Leiblichkeit des Menschen zu fragen. Das Denken vermittelte ihm vielmehr den Zugang zur eigentlichen Wirklichkeit, die für ihn keine andere als eine rein geistige war, die sich nur dem übersinnlichen Erkennen erschließen kann. Daraus ergibt sich in der Philosophie der Freiheit noch ein weiteres Resultat geistig-seelischer Beobachtung:
Es ist also zweifellos: in dem Denken halten wir das Weltgeschehen an einem Zipfel, wo wir dabei sein...