Integrative Impulse mystischer Traditionen im Judentum (Kabbala und Chassidismus)
Elke Morlok
Zusammenfassung: Der Beitrag gibt einen kurzen Überblick über die wichtigsten Epochen und Strömungen der jüdischen Mystik. Dabei werden deren integrative Impulse, wie sie vor allem im Gebet, der Kontemplation und – im Chassidismus – in der sogenannten „Arbeit in der Materie“ (Avoda beGashmiut, „Dienst mit der Körperlichkeit“) vorkommen, analysiert und für das Thema der Festschrift, eine ganzheitliche Spiritualität, fruchtbar gemacht.
Besonders zwei Punkte sind genauer darzustellen und in ihrer existentiellen Bedeutung für den Mystiker und seine Gemeinschaft zu beleuchten: Die theurgisch-magischen Aspekte der unterschiedlichen kabbalistischen Strömungen mit ihrem Einfluss auf die göttliche Welt der Sefirot (der zehn Seins- oder Handlungsweisen der Gottheit) und die Übung der Kawwanah (Konzentration) in der praktischen Kabbala eines Isaak Luria (1534 – 1572), des Begründers der wichtigsten kabbalistischen Traditionslinie bis heute.
Zur Person: Dr. phil. Elke Morlok, (Heidelberg, jetzt Mainz u. Tübingen), Studium der Ev. Theologie und Judaistik in Tübingen, Heidelberg und Jerusalem; Promotion zu dem mittelalterlichen Kabbalisten Rabbi Joseph Gikatilla bei Moshe Idel; Artikel, Editionen und Übersetzungen zur jüdischen Mystik und Philosophie, Sprach- und Symboltheorie und Auslegungskunst, Forschungsschwerpunkt Kabbala und jüdische Aufklärung (Haskala).
Jüdische Tradition, insbesondere die mystischen Strömungen, entwickelte sich seit der Antike in einem Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft (Knesset Israel) und Individuum, zwischen den Geboten bzw. deren Einhaltung, wie sie in der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, vorgeschrieben wird, und der Freiheit des Einzelnen in seinem persönlichen Streben nach Vollkommenheit (wörtl.: „Ganzheit“, Schlemut) in sämtlichen Bereichen des praktischen Lebens und des theoretischen Denkens. Doch sind dabei, vor allem in der jüdischen Mystik, zahlreiche Elemente eines integrativen Denkens und Seins im Bereich des Göttlichen sowie der irdischen Gemeinschaft in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden, auf die ich im Weiteren eingehe.
Zwei Aspekte haben die meisten Beispiele, die ich aus den unterschiedlichen Epochen von der Antike bis zum Chassidismus des 18./19. Jahrhunderts anführen werde, gemeinsam: mystische Erfahrung und Offenbarung sind nur auf Grundlage eines Lebens nach der Halacha, also den 10 Geboten vom Sinai und ihrer Interpretation in den rabbinischen Schriften zu erreichen. Am Sinai waren laut der rabbinischen Schrift Pirqe Avot, den Sprüchen der Väter, die Seelen der Israeliten aller Generationen anwesend und haben die Weisungen Gottes seit diesem Zeitpunkt sowohl in schriftlicher Form der Tora als auch in mündlicher Form, der exegetischen Interpretation der Traditionsliteratur, erhalten. In den Geboten und der Halacha sind also die Israeliten aller Generationen miteinander verbunden und daher ist ihre Anwendung, besonders in den alltäglichen Ritualen, am Schabbat und an den Feiertagen, essentiell wichtig für das Fortbestehen des Bundes mit Gott bzw. des jüdischen Volkes an sich.
Als zweites ist die Berücksichtigung der zentralen Funktion der hebräischen Sprache als Inkarnation, Materialisierung des göttlichen Wortes zu nennen. Der Mystiker imitiert es und wird damit selbst zum Schöpfer, d.h. im Sprechen und in der Meditation über das hebräische Alphabet bzw. den biblischen Text vollzieht er eine Imitatio Dei, was wir vor allem in der Kabbala des Mittelalters sehen werden. Dabei wurde eine besondere Form der integrativen Hermeneutik entwickelt, auf die ebenfalls im letzten Abschnitt anhand eines Beispiels einzugehen ist.
1. Integrative Impulse in den antiken Traditionen des Judentums
In der sogenannten Weisheitsliteratur der Antike, in den biblischen Büchern Hiob und den Sprüchen Salomos sowie den außerkanonischen Schriften dieser Epoche, etwa der Weisheit Salomos (Sapientia Salomonis) und Jesus Sirach, finden wir eine äußerst interessante Entwicklung im Suchen des Menschen nach Weisheit und deren Ort. Während bei Hiob, besonders in Kapitel 28, die verzweifelte Suche des Menschen nach der Weisheit und deren Ort bei Gott dargestellt ist, die Weisheit aber dort eine abstrakte, unzugängliche Größe bleibt, wird sie in den Sprüchen Salomos zunehmend personifiziert und ist damit erreichbar. Das ist eine einmalige theologische Neuerung im antiken Judentum. Sie wird zur Vertrauten Gottes oder zu seinem Kind (Amon), das vor ihm spielt und ihm Freude bereitet. Sie wurde von Gott vor der Schöpfung hervorgebracht, hatte eine Schlüsselfunktion bei der Schöpfung als „Schöpfungsplan“ oder Beraterin im platonischen Sinne und zieht nun des erfreuten Gottes Aufmerksamkeit auf sich. Zugleich jedoch wendet sie selbst ihre Aufmerksamkeit weg von Gott auf die Menschheit hin. So deutet sich hier eine vermittelnde Funktion der Weisheit zwischen Mensch und Gott an. In der Weisheitsliteratur möchte sie – anders als bei Hiob – erkannt werden, sucht nach der Menschheit, befindet sich auf der Erde und nicht im himmlischen, transzendenten Bereich. Wer auf sie hört, muss auf ihren Wegen wandeln und moralische Vorgaben beachten, dann wird er Weisheit und Glück erlangen. Die Gegenwart der Weisheit bedeutet Leben, und der Anspruch der Weisheit hat eindeutig Heilscharakter; sie ist die Offenbarung Gottes auf Erden und führt zur Kenntnis der Weltordnung, die wiederum vollkommene Harmonie mit dem Kosmos und Gott ermöglicht. Sie ist die Stimme Gottes auf Erden und als seine Tochter seine Verkörperung, seine Materialisierung, seine Menschwerdung, und zwar in weiblicher Gestalt.
In Jesus Sirach sucht Gott eine Ruhestätte für seine Weisheit auf Erden, ein Zelt (ganz gemäß der alten Bundestradition), und sie weilt als Gottes Stellvertreterin unter den Menschen. Dabei soll der Mensch sowohl ihre Früchte genießen, als auch sich gehorsam ihr gegenüber verhalten. Diese Vorstellung stammt ursprünglich aus dem Feld der Toralehrer des alten Israel und lässt einen Ursprung dieser Schrift aus solchen Kreisen vermuten. Die Weisheit verbreitet sich nun durch die Lehren und Weisungen des Weisen (Chacham, dieselbe hebr. Wurzel wie Weisheit: Chochma), der sie zu nutzen und zu erläutern weiß. Er kann die Tora in ein gewaltiges Meer des Wissens aller künftiger Generationen verwandeln und lässt „seine Lehre (paideia) strahlen wie die Morgenröte, verbreitet ihren Glanz in die Ferne“ (Kapitel 24, 32).
In der Sapientia Salomonis wird die Weisheit nun zum Medium der göttlichen Energie. Wenn sie andeutungsweise als Gottes geliebte Gemahlin dargestellt wird, liegt darin eine deutliche erotische Spannung zwischen männlichem und weiblichem Aspekt der Gottheit. Sie wird also als erwachsen vorgestellt im Gegensatz zur Tochter und ist nicht mehr nur Weisheit (sophia), sondern Geist der Weisheit (pneuma sophias). Die Weisheit wird Geist, besitzt aber auch zugleich Geist, wie es in 7, 22 heißt: „In der Weisheit ist ein Geist, gedankenvoll und heilig, einzigartig und doch mannigfaltig, zart beweglich, klar.“ Gleich zu Beginn des Buches ist beschrieben, wie die Weisheit in die Menschen eingeht, weil sie diese liebt (philanthropon) und die Sünde hasst (1, 4-6). Die Metaphorik in 7, 25f deutet auf eine Energie hin, die von ihrer Quelle (Gott) an ihre Empfängerin (Weisheit) vermittelt wird. Gott ist Kraft, Herrlichkeit, Licht, Energie, die Weisheit ist Dampf, Ausfluss und Glanz, der aus der göttlichen Kraftquelle hervorgeht, der Spiegel von Gottes ungetrübter Macht, der diese reflektiert. Als Spiegel bündelt sie diese Energie und spiegelt sie im irdischen Bereich wider. Sie findet Eingang in den Menschen (7, 28f) und verwandelt diesen. Der Mensch wird zu ihrem Freund, und somit zum Freund Gottes, zu seinem Abbild und Ebenbild gemäß Genesis 1, 27. Als Weltenordnerin übernimmt sie Aufgaben, die in Plutarchs Isis/Osiris-Mythos von Isis, der Göttin des Mondes, wahrgenommen werden. Sie empfängt die Strahlen und leitet sie an die irdische Welt weiter.
Wie wir sehen, findet sich in der antiken Weisheitsliteratur des Judentums ein breites Panorama an Weisheitstraditionen. Die Weisheit ist sowohl die in Gottes Schöpfung eingeschriebene Struktur als auch ein geschaffenes, weibliches Wesen, das als Zeugin und Erstgeborene der Schöpfung zugleich als Gottes Stellvertreterin auf Erden fungiert und als Vermittlerin die Kluft zwischen himmlischem und irdischem Bereich überbrückt.
Etwas komplizierter ist die Sachlage bei Philo von Alexandrien (20 BCE – 50 CE), dem ersten und prominentesten jüdischen Philosophen der Antike. Philo, der stark von der hellenistischen Philosophie der Stoa und dem Platonismus beeinflusst war, etabliert im Zusammenhang mit der Weisheitslehre eine ausgefeilte Erkenntnistheorie. Gott und Weisheit sind bei ihm Vater und Mutter, wobei Gott der Architekt ist und die Weisheit sein Wissen (episteme) darstellt. Philo nimmt hier offenbar Vorstellungen aus der Weisheit Salomos auf und entwickelt diese weiter. Dabei fällt auf, dass die Weisheit als weibliche Sophia im Stile der platonischen...