2. Gastfreundschaft
„Wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit.
Wenn sie etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.“
Thich Nhat Hanh
Gefühle, Erinnerungen, Verhaltensweisen werden dann zum Schatten, wenn sie ins Unbewusste abgedrängt werden. Dort überdauern sie lange Zeit und melden sich –oftmals bei scheinbar völlig unpassender Gelegenheit – unangenehm oder sogar destruktiv zu Wort. Wir meinen, in solchen herausfordernden Momenten unseres Lebens nicht mehr Frau bzw. Herr der Lage zu sein. „Es“ beherrscht“ uns und lässt uns völlig irrational reagieren, als ob eine fremde Macht Besitz von uns ergriffen hätte. Eine Macht namens Schatten.
Dennoch sind wir dem Schatten nicht völlig ausgeliefert. Wenn wir uns bewusst dem Schatten, also unseren inneren Anteilen, nähern, werden wir auch konstruktive Wege finden, auch jene Aspekte von uns zu integrieren, die wir verdrängt oder abgelehnt haben. Im klaren Bewusstsein handelt es sich zumeist um hilfsbedürftige oder vernachlässigte Aspekte unseres Selbst, die durchaus zu positiver Zusammenarbeit bereit sind.
Eine besonders konstruktive Art der Beschäftigung mit dem Schatten – und natürlich auch mit den lichten Anteilen unseres Selbst – habe ich in der Arbeit meiner systemischen Lehrer Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd gefunden: sie sprechen von der Möglichkeit, die Identifikation mit unseren Gefühlen, Anteilen und Teilpersönlichkeiten aufzuheben. Vielmehr sollten wir uns als Gastgeber verstehen. Ein Gastgeber, der all die hellen und dunklen Anteile einladen und auf eine gute Weise damit umgehen kann.
In dieser Zugangsweise verstehen wir uns selbst als Gesamtpersönlichkeit, die viele verschiedene Anteile umfasst. Ein Anteil kann die Fähigkeit zum Mitgefühl sein, ein anderer die Vorliebe für bestimmte Interessensgebiete, eine Teilpersönlichkeit wird im Umgang mit Kindern zu finden sein, eine andere in der professionellen Gestaltung unserer Arbeit. Wir sind nicht eine einzelne, in sich immer gleiche Persönlichkeit. Wir sind ein Konglomerat aus vielen verschiedenen Anteilen. Zu diesen Anteilen gehört das Licht und eben auch der Schatten.
Diese Idee der guten Gastfreundschaft lässt uns die Verwechslung aufheben, die entsteht wenn der Schatten zu übermächtig wird. Wenn ein Anteil zu wird, „verwechseln“ wir uns damit; es scheint, als ob die anderen Anteile unseres Selbst nicht mehr vorhanden wären. Wir verwechseln uns zum Beispiel mit der Verzweiflung oder mit dem Gefühl der Unzulänglichkeit. Eine alte Erinnerung schiebt sich vor das aktuelle Geschehen, ein lange verdrängtes Gefühl bahnt sich seinen Weg in die Gegenwart... und wir fühlen uns, als ob es keinen Ausweg mehr gäbe.
Wenn uns auch in schwierigen Situationen bewusst wird, dass wir mehr sind als unsere Gefühle, unsere Gedanken und unsere Teilpersönlichkeiten, dann bleiben wir handlungsfähig. Wir können als erwachsene Persönlichkeiten auf unsere inneren Prozesse reagieren. Wir können erkennen, dass das momentan vorherrschende Gefühl eines von vielen ist, die momentan prägende Erinnerung eine von zahlreichen anderen. Jener Anteil von uns, der sich gerade in den Vordergrund schiebt, hat durchaus einen Anspruch darauf, anwesend zu sein. Dennoch gibt es gleichzeitig immer auch andere Aspekte, die uns in unserer Vielfältigkeit ausmachen. Dies zu erkennen, erleichtert uns den konstruktiven Umgang mit dem Schatten.
Das Bild vom guten Gastgeber für alle unsere Teile wurde bereits vor ca. 800 Jahren im folgenden Gedicht des persischen Mystikers Rumi beschrieben:
Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.
Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam dein Haus
seiner Möbel entledigt,
selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.
Vielleicht bereitet er dich vor
auf ganz neue Freuden.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.
Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu deiner Führung
geschickt worden aus einer anderen Welt.
Dschalal ad-Din Muhammad Rumi
Wer die muslimischen Regeln für gute Gastgeber kennt, weiß, dass alle Besucher willkommen sind, ganz egal, wie unangenehm sie uns auch sein mögen. Erst nach einer gewissen Zeit und dem Ausschöpfen des Gastrechts, dürfen Besucher wieder verabschiedet werden. Oder als gewandelte Anteile von uns selbst auf eine andere Weise integriert werden.
Gute Gastgeber für unsere inneren Anteile zu sein, bedeutet, dass wir uns intensiv mit allen auseinandersetzen, die an unserer Tür klopfen. Bezogen auf unsere Gefühle weisen wir also weder die Wut noch die Angst ab, lassen auch jenen Anteil in unser inneres Haus, der die größten Selbstzweifel hat, und versorgen auch solche Schatten, die uns besonders abschreckend erscheinen. Sie gehören alle zu uns, sonst würden sie sich nicht bei uns melden. Und wer vor unserer Tür steht, bringt auch ganz sicher ein Gastgeschenk mit. Lassen wir uns also überraschen.
Alle inneren Anteile – jene, die wir mögen, und jene, die wir lieber nicht hätten – gehören zu unserer inneren Familie und haben ein Recht darauf, an unseren inneren Tänzen teilzunehmen. Wenn wir ihnen dieses Recht verwehren, indem wir sie in den Schatten abdrängen und versuchen, sie zu ignorieren, werden sie andere Mittel und Wege finden, um auf sich aufmerksam zu machen. Laden wir sie daher besser gleich ein, denn auf diese Weise wird die Begegnung bei weitem nicht so furchterregend ausfallen.
Alle dieser gemiedenen, verdrängten oder gefürchteten Anteile haben eine interessante Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, an die wir uns vielleicht gar nicht mehr erinnern können und die doch eine wichtige Botschaft für uns hat. Diese Botschaft will gehört und respektiert werden, einen würdigen Platz erhalten. Dazu müssen wir den Ursprung und die jeweilige Geschichte dieses Anteils nicht unbedingt kennen. Im Gegenteil: Die Ausgangssituation zu analysieren, kann sogar hinderlich sein, uns auf das Erspüren und Wahrnehmen des inneren Anteils und dessen Botschaft einzulassen. Die Lernerfahrung braucht keine Interpretation. Alleine anzunehmen, dass es eine Botschaft und einen Sin geben könnte, ermöglicht schon einen veränderten und heilsameren Umgang.
Wir können alle unsere inneren Anteile zu uns einladen, ihnen Gastrecht gewähren und ihrer Geschichte zuhören. Wenn wir uns die Zeit dafür nehmen und unsere Besucher gut versorgen, dann können vielleicht auch Angst einflößende Gäste spannende Begleiter werden. Und wir lernen uns selbst auf diese Weise noch ein wenig besser kennen.
Wie kannst du eine Einladung an alle deine Anteile aussprechen?
Welche Gefühle melden sich gleich auf diese Einladung?
Es gibt immer wieder Situationen in meinem Leben, in denen ich mich völlig überfordert und verzweifelt fühle. Sei es, wenn ich Schwierigkeiten in einer Beziehung habe, sei es, wenn mein Computer abstürzt und ich Angst bekomme, alle meine Daten zu verlieren, oder sei es, wenn ich vor einem wichtigen Vortrag auf die Bühne gehen muss. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, dass sich der Erdboden unter mir auftut. Welche Botschaften könnten diese Situationen für mich haben?
Ich sehe die Botschaft und das Geschenk darin, mit meiner Verletzlichkeit konfrontiert zu werden. Ganz egal, wie viele Bücher ich schon geschrieben habe, ganz egal, wie viele öffentliche Reden ich halte, ich bin ein Mensch. Dies ist ohnehin das größte Geschenk von allen. Wenn ich dann auch noch der Verzweiflung zuhöre, die mir erzählt, dass sie sich gerade ganz klein und ganz jung fühlt, kann ich bereits als freundliche Erwachsene darauf reagieren. Und die Verzweiflung beruhigt sich wieder.
Karla ist eine Klientin von mir, die mit großer Bereitschaft zur Schattenarbeit in meine Praxis gekommen ist. Sie kennt vor allem die Wut als unerwünschten Besucher. In Situationen, die ihr gegen den Strich gehen, fühlt sie unbändige Wut in sich aufsteigen. Nachdem diese Wut Karlas Empfinden nach viel zu zerstörerisch ist, um ausgelebt oder ausgedrückt zu werden, hat sie die Wut bis jetzt möglichst unterdrückt und ignoriert. In der bewussten Einladung an die Wut erkennt sie, dass diese Wut eigentlich nur eine Schutzfunktion hat. Dort, wo Grenzen überschritten sind, meldet sich die Wut. Wenn Karla ihre Angst vor der Wut verliert, kann sie schneller und konstruktiver darauf reagieren.
Wer ist der Gastgeber?
Sind wir uns bewusst, dass wir selbst der Gastgeber für alle unsere Anteile sind, können wir die Verwechslung mit unseren Gästen aufheben. Als Gastgeber sind wir unseren Anteilen und Gefühlen nicht ausgeliefert. Wir haben sie bewusst oder unbewusst eingeladen, wir versorgen sie und wir dürfen sie auch wieder verabschieden, wenn die Zeit gekommen ist.
Bewusste Gastgeber können wir allerdings nur dann sein, wenn wir nicht mehr vollständig mit unseren Gefühlen identifiziert sind. Wir haben Gefühle und gleichzeitig ein Bewusstsein von uns selbst, das über diese Gefühle hinausgeht. In der buddhistischen Philosophie spricht man von einem Zeugenbewusstsein, das in bedingungsloser Liebe alles neutral beobachtet, was geschieht. Auch dieses Bewusstsein des Zeugen ist ein Teil von uns selbst, vielleicht ein spiritueller Anteil, vielleicht unsere innere Weisheit. Es handelt sich dabei um einen Aspekt in uns, der über...