3. Praxis der Biografiearbeit
Im anschließenden Abschnitt wird auf die Formen, Rahmenbedingungen und Methoden der Biografiearbeit eingegangen. Dieses Wissen ist erforderlich, um ein qualitativ ansprechendes Biografieseminar zu planen, durchzuführen und zu evaluieren. In den folgenden Ausführungen beschränkt sich die Autorin überwiegend auf die inhaltliche Durchführung des Biografieseminars.
3.1 Das Menschenbild
Die Wurzeln der Biografiearbeit liegen, auf Grund des Menschenbildes, in der Humanistischen Psychologie begründet. Die Humanistische Psychologie sieht den Menschen als ein Wesen, dass ein angeborenes Bedürfnis besitzt, sich zu entwickeln und zu entfalten. Dies wird Aktualisierungstendenz genannt. Damit diese Selbstentwicklungsbestrebungen gefördert werden, sind passende äußere Bedingungen erforderlich. Der Mensch wird als ein interdependentes und autonomes Wesen betrachtet, dass in bestimmten Grenzen freiheitlich Entscheidungen treffen kann. In gewissen Grenzen ist das Leben zwar vorbestimmt, beispielsweise durch die Zeit in der wir geboren wurden, dennoch liegt es in unserer Hand, wie wir mit den aktuellen Lebenssituationen umgehen (vgl. Kriz, 2001, S. 15). Menschen handeln ziel- und sinnorientiert. Dies ist im gemeinsamen Miteinander nicht immer gleich zu erkennen. Hier ist es die Aufgabe danach zu suchen, warum der Mensch in dieser Situation so handelt wie er handelt. Nicht die Ablehnung des Menschen sondern die Suche nach dem Sinn des Handelns des Anderen helfen, ihn zu verstehen (vgl. Miethe, 2014, S. 57). Ebenso ist „Der Mensch (…) eine psychobiologische Einheit, das heißt Körper, Seele und Geist sind gleich wichtig für die Entwicklung und müssen im Laufe eines Lebens möglichst gleichmäßig weiter entwickelt werden.“ (ebd., 2014, S. 57) Deshalb ist es sinnvoll in der Biografiearbeit kreative Methoden einzusetzen, die es ermöglichen, mit allen Sinnen ins Gespräch zu kommen und den Körper explizit miteinzubeziehen (vgl. ebd., 2014, S. 57).
Das oben beschriebene Menschenbild gibt Grundprämissen für die Planung eines Biografieseminars vor. Diese werden im Folgenden dargestellt.
Teilnehmer, welche freiwillig an einem Biografieseminar teilnehmen, haben das Bedürfnis nach Weiterentwicklung. Dies bedeutet, dass lediglich eine förderliche Umgebung geschaffen werden muss, damit sich die Teilnehmer öffnen und erzählen trauen. Wenn die Umgebungsfaktoren günstig sind, werden die Teilnehmenden von sich aus erzählen, wie es ihnen im Moment ergeht und der eigenen Entwicklung dienlich ist (vgl. ebd., 2014, S. 69).
Das Gelingen hängt weniger vom Einsatz der Methoden und Techniken ab, als viel mehr von der Haltung der leitenden Person. Die Humanistische Psychologie betont die Selbstreflexion der leitenden Person welche als Basis zum Aufbau einer authentischen Beziehung zu den Teilnehmern erforderlich ist. Es bedarf immer der angemessenen Haltung und passenden Methode (vgl. ebd., 2014, S. 69).
Der Expertenstatus der leitenden Person, so wie dieser in der Humanistischen Psychologie gesehen wurde, wird abgelegt. Für den Beziehungsaufbau ist es erforderlich, dass sich die Leitung als Person mit Erfahrungen, Gefühlen und Grenzen zeigt. Sie muss sich selektiv und authentisch in den Gruppenprozess miteinbringen. Dies fördert die Öffnung der Teilnehmenden und minimiert Übertragungsphänomene (vgl. ebd., 2014, S. 69).
Die Teilnehmenden sind die Experten ihrer Biografie. Die Leitende Person hört genau zu, beobachtet und verhilft den Biografen, „(…) den Sinn eines Verhaltens oder Ereignisses selbst finden [zu] können.“ (ebd., 2014, S. 69)
3.2 Gegenstand und Funktionen der Biografiearbeit
Gegenstand der Biografiearbeit ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte. Dies kann in Einzel- oder Gruppenarbeit geschehen. Um die eigene Lebensgeschichte zu planen bedarf es biografischer Selbstreflexion. Hölzle und Jansen (2011) definieren den Gegenstand der Biografiearbeit wie folgt:
„Gegenstand der Biografiearbeit ist die methodische Anleitung und Begleitung biografischer Selbstreflexion durch professionelle Fachkräfte in pädagogischen und psychosozialen Arbeitsfeldern. Im Mittelpunkt steht die konstruktive Aufarbeitung, Bewältigung, und Planung der eigenen Lebensgeschichte.“(ebd., S. 34)
3.2.1 Identitätsentwicklung und Integration von Erfahrungen
Biografiearbeit verhilft dazu, die gesammelten Erfahrungen in das eigene Lebens- und Selbstkonzept aufnehmen zu können. Besonders zum Tragen kommt diese Funktion bei unvorhersehbaren, lebenseinschneidenden Situationen (vgl. Hölzle/Jansen, 2011, S. 35). Allheit (2003) postuliert, dass die „biografische Arbeit an Diskontinuitäten“ (ebd., S.13) dazu verhilft Lebensumbrüche besser bewältigen zu können und gleichzeitig die Identitätsentwicklung gestärkt wird. Mit den Fragen: Wer bin ich? Was ist mir wichtig? Wer will ich sein? ist das Bedürfnis verbunden nach Selbsterkenntnis und dem Finden der eigenen unverwechselbaren Identität. Ebenso wie die Suche und Vergewisserung nach den eigenen Werten, die für eine Neuorientierung des Lebens hilfreich sein können (vgl. Hölzle/Jansen, 2011, S. 35 f). Da die „Normalbiografie“ nur noch selten anzutreffen ist und es eine immer größere Fülle an Lebensgestaltungsmöglichkeiten gibt, ist der Wunsch nach Unterstützung bei „ (…) der Entwicklung einer einigermaßen tragfähigen Identität (…)“ (Gudjons/Wagener-Gudjons/Pieper, 2008, S. 23) groß. Markowitsch und Welzer (2005) meinen sogar,
„dass es heute überhaupt keine (traditionelle) IchIdentität mehr gäbe, sondern dass es in Wahrheit doch ein sehr multiples Ich ist, das sich geschmeidig durch alle Rollen und Lebensphasen bewegt und nur deswegen, weil auch die anderen sich in derselben Zeit verändern, als etwas erscheint, das sich gleich bleibt, eine Identität hat. Das ist mit der heute verbreiteten Rede von der „Bastel-Identität“, der „Identität als Baustelle“ oder der „patchworkidentity“ gemeint.“ (ebd., S. 216)
Sie postulieren ob es überhaupt noch eine Antwort auf die Frage gibt: Wer bin ich? Markowitsch und Welzer betonen aber auch, dass das autobiografische Gedächtnis diese Leistung vollbringen, und dieses „multiple Ich“ integrieren kann. Hierdurch können anstehende Entwicklungsaufgaben und die Lebensgeschichte verknüpft werden. Menschen suchen oft nach Orientierung für die vor ihnen liegende Lebensphase. Diese Orientierung kann durch Reflexion des bisherigen Lebensweges und der Suche nach Rhythmen oder Muster die das Leben bisher geprägt haben, teilweise gefunden werden. Somit kann sich der Rückblick in die Vergangenheit positiv auf die Zukunft auswirken und stark machen (vgl. Gudjons/Wagener-Gudjons/Pieper, 2008, S. 23 f).
In Bezug auf die Identitätsentwicklung hat Erik Erikson das Stufenmodell zur Identitätsentwicklung erstellt. Er verbindet die Sozialisationstheorie mit seiner Entwicklungstheorie der Identität. Dieses Modell besagt, dass auf den verschiedenen Altersstufen unterschiedliche Entwicklungsaufgaben bewältigt und bearbeitet werden müssen (vgl. Erikson, 1974, S. 56). Eine Übersicht des Stufenmodells der Psychosozialen Entwicklung nach Erik Erikson ist im Anhang zu finden.
Biografische Wendepunkte können eine Bedrohung für das Identitätsgefühl darstellen. Hier unterstützt Biografiearbeit, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine Ordnung gebracht und aufeinander bezogen werden. So kann trotz sich permanenter Veränderung ein Gleichbleibendes „Ich“ generiert werden. Als Ziele können hier der Erhalt und die Stärkung des Selbstwertgefühls genannt werden (vgl. Gudjons/Wagener, Gudjons/Pieper, 2008, S. 23).
3.2.2 Stabilisierung und Hilfe zur Bewältigung von Lebensereignissen
Menschen bei der Bewältigung einschneidender Erlebnisse zu begleiten und zu stabilisieren ist eine weitere Funktion der Biografiearbeit (vgl. Hölzle/Jansen, 2011, S. 39). „Eine konstruktive Begleitung im Rahmen von Biografiearbeit setzt das Verständnis der innerpsychischen Regulationsprozesse voraus, die bei der Bewältigung von Belastungen von Bedeutung sind.“ (ebd., S. 39) Wie Menschen auf kritische Lebensereignisse reagieren ist abhängig vom subjektiven Erleben von Stress. Nach Greve (2008) umfasst „Bewältigung (…) alle Formen der Auseinandersetzung mit Belastungen, Gefühlen oder Ereignissen, die eine Person in ihrer Handlungsfähigkeit oder ihrem Wohlbefinden bedrohen oder einschränken, d.h. ihre aktuell verfügbaren Ressourcen übersteigen.“ (ebd., 2008, S. 925) Das subjektive Erleben von Stress hängt von der primären und sekundären Bewertung des Individuums ab. Unter primäre Bewertung fällt die Bedeutung, die das Individuum einem Ereignis im Hinblick auf das eigene Wohlbefinden zumisst. Die sekundäre Bewertung beinhaltet die Einschätzung der eigenen Kompetenzen und Ressourcen, die Situation meistern zu...