II
Ursächliches
Das Problem im Fokus
1. Innere Auslöser
Ein schweres Erbe – die Schuld der Gene?
Heilung kommt von innen. Das erweist sich grundsätzlich als sehr zutreffend. Auch die Krebsgenese hat eine innere Komponente.
Wie schon kurz angesprochen, haben wir es im engeren Sinne nicht mit etwas »Fremdem« in uns zu tun, sondern mit einer unseligen Veränderung von körpereigenen Zellen, die letztlich zur Todesgefahr werden. Somit findet sich der Feind eindeutig in den eigenen Reihen. Tumorzellen gleichen Überläufern ins »Reich des Bösen«. Doch sollte diese Personifikation, wie gesagt, nicht überstrapaziert werden. Weil das gar nicht so leichtfällt, wird dieses Feindbild immer wieder bemüht. Den inneren Feind besser zu kennen scheint dabei bereits ein Fortschritt zu sein, und die Wissenschaft bemüht sich seit Jahrzehnten um die Aufklärung der Mechanismen. Für die Krebsforschung unabdingbar, für den Betroffenen aber höchstens bedingt von Nutzen.
Rein mental hilft manchem aber der Blick auf die zelluläre und molekulare Ebene des Geschehens durchaus ein wenig weiter, indem er mit dazu beiträgt, die schicksalshaften Verkettungen nachzuvollziehen, die schließlich in Chaos und Katastrophe münden. Wie werden ganz normale, »unschuldige« Zellen zur Quelle (selbst)mörderischer Veränderungen? Wie wird aus Dr. Jekyll schließlich Mr. Hyde? Welche äußeren Einflüsse führen zu einem sich verselbstständigenden Prozess?
Bereits ein kurzer Einblick in die an sich so vielfältige, umfangreiche und komplexe Krebsgenese, wie sie heute vielfach dargestellt wird, dürfte dann übrigens auch wieder zur Prävention sensibilisieren. Plötzlich wird klar, wie empfindlich und beeinflussbar unsere Zellen durch diverse äußere Faktoren sind und welche geringfügigen Veränderungen bereits eine fatale Kaskade auslösen können.
Bei solchen Betrachtungen geht es keineswegs darum, in Wehleidigkeit zu verfallen und übervorsichtig zu werden. So kann kein Mensch leben. Und sowieso bleiben viele Einflüsse des täglichen Lebens trotz allen Bemühens unvermeidbar. Jeder ist in der heutigen Umwelt zahlreichen Alltagsbedrohungen ausgesetzt, die eine erhöhte Krebsgefahr bedeuten. Doch die Minimierung von Risiken, das Vermeiden unnötiger Belastungen, bietet Optionen, die zuweilen sogar darüber entscheiden, ob ein Mensch nun erkrankt oder nicht. Allerdings wird auch schnell klar, dass genetische Prädispositionen existieren oder dass nicht zu beeinflussende äußere Situationen schließlich in die Krise führen.
Es ist doch so: Einer kann sein Leben lang wie ein Schlot rauchen, erkrankt aber dennoch nie an Lungenkrebs. Der andere hat nie auch nur eine einzige Zigarette angerührt, und doch wird bei ihm irgendwann ein Bronchialkarzinom diagnostiziert. Da lassen sich keine Regeln aufstellen, eher schon die Ausnahmen registrieren. Wer würde hierbei nicht sofort an Helmut Schmidt denken? Oder auch an die Französin Jeanne Calment, die mit einem dokumentierten Sterbealter von über 122 Jahren bis dato den Rekord als ältester Mensch der Welt hält?
Jeanne Calment, ob nun wirklich die älteste Person, die je gelebt hat, oder doch »nur« einer der ältesten Menschen, führte zwar bis zu ihrem Tod 1997 ein weitgehend ruhiges und gesichertes Dasein, nahm aber nie besondere Rücksichten auf die Gesundheit.
Calment, die sogar noch Vincent van Gogh kennengelernt hatte, rauchte 96 Jahre (!) ihres langen Lebens, aß viel Schokolade und kümmerte sich auch sonst nicht sonderlich um ihre Gesundheit. Natürlich wurde sie in späten Jahren immer wieder nach ihrem großen Geheimnis gefragt: Was hatte sie so lange gesund erhalten, wie vermochte sie so alt zu werden?
Ein konkretes Rezept konnte sie nicht nennen. Sie wusste es einfach nicht, allerdings schrieb sie persönlich ihr hohes Alter am ehesten dem regelmäßigen Genuss von Olivenöl, Knoblauch, frischem Gemüse und Portwein zu.
Nun mochte das ein Teil des Geheimnisses sein, sicher aber nicht alles. Darüber hinaus fragt sich, ob Jeanne Calment möglicherweise noch älter geworden wäre, hätte sie vor allem aufs Rauchen verzichtet. Es mag Gene geben, die viele Sünden kompensieren und auch einem hohen Alter zuträglich sind. Es ist sogar von Genen die Rede, die starke Raucher vor Krebs bewahren, selbst wenn sie sich jahrzehntelang eine halbe Autobahn quer durch die Lunge teeren. Nur sollte sich wohl kein Mensch auf die Existenz solcher »Zaubergene« verlassen. Für die meisten Zeitgenossen dürften hingegen die üblichen Risikofaktoren gelten.
Was nun aber Krebsgene betrifft, ist allgemein vor allem bekannt, dass zwei Gruppen davon existieren, auf die genau diese Bezeichnung zutrifft, da beide gefährdet sind, zu entarten und zu einem Krebsgeschehen im Organismus zu führen. Wir alle tragen diese Gene in uns. Und selbst, wenn jeder von uns zu jeder Zeit stets auch einige wenige Krebszellen in seinem Körper beherbergt, hält ein gesundes Abwehrsystem diese Gefahrenherde in Schach, sodass sie vernichtet werden, bevor sie wachsen und sich zu Tumoren entwickeln können. Was aber hat es dann mit den »Krebsgenen« wirklich auf sich? Und warum muss unser Organismus solche genetischen »Sollbruchstellen« aufweisen, warum hat die Evolution sie nicht längst ausgemerzt?
Die Antwort gestaltet sich relativ einfach und gut nachvollziehbar: Da beide Gentypen mit dem Wachstum in Verbindung stehen, könnte sich ohne sie kein Organismus entwickeln. Nur muss dieses Wachstum natürlich begrenzt sein, also in strikt kontrolliertem Rahmen ablaufen, was beim Krebs nicht (mehr) der Fall ist. Normalerweise halten die beiden Genarten hier ein sinnvolles Gleichgewicht aufrecht, indem sie im Wachstumsprozess als ebenbürtige Gegenspieler agieren. Gemeint sind auf der einen Seite dieses »Matches« die Proto-Onkogene, auf der anderen die Tumor-Suppressor-Gene.
Der Name sagt es jeweils schon ziemlich deutlich: Proto-Onkogene sind Krebsvorläufergene. Sie bergen also die Gefahr, zu einem krebserzeugenden Gen zu werden. Diese Proto-Onkogene sind für Zellteilung und Zellwachstum mitverantwortlich und treiben diese Prozesse an. Sie gleichen damit einem molekularbiologischen Motor. Doch jedes Fahrzeug sollte bekanntlich auch über wirksame Bremsen verfügen. Diese Funktion übernehmen auf gleicher Ebene die Tumor-Suppressor-Gene, die Unterdrückergene. Normalerweise nicht nötig, da der Motor sich eigentlich selbst zu drosseln imstande ist, werden sie unabdingbar, sobald eine Mutation des Proto-Onkogens daraus plötzlich ein Onkogen werden lässt, dessen Wachstum sich ungezügelt fortsetzt. Wenn aber die Bremsen versagen, wird es wirklich bedrohlich, denn was kann das galoppierende Krebsgeschehen dann noch aufhalten?
Reise ins Ich – die Molekülebene
Krebs kristallisiert sich also anscheinend recht schnell als Ergebnis einer fatalen Verkettung fehlerhafter Programmierung heraus. Faktisch stellt sich die Situation natürlich wesentlich komplexer dar, wobei es eine ganze Reihe an Ansatzpunkten für den Beginn eines Krebsgeschehens gibt. Wie sich später zeigen wird, befindet sich die Forschung mit ihren Erklärungen möglicherweise immer noch auf dem Holzweg, wenn sie bei den Genen verharrt und damit vielleicht nur eine Teilantwort gibt. Denn die Ursachen können auch an ganz anderer Stelle liegen, eingleisig scheint hier ohnehin nichts zu sein. Aber bleiben wir momentan bei der allgemeinen Theorie.
Im Zellverband kommunizieren die einzelnen Mitglieder fortwährend. Im Rahmen dieser Koexistenz müssen sich die Zellen in irgendeiner Weise abstimmen, um zu »wissen«, was im Sinne des Organismus zu tun und was zu lassen ist. Bei den rund 30 Billionen Zellen des menschlichen Körpers schießen hier ständig Myriaden von Informationen und Impulsen umher. Dabei führen lange Signalkaskaden schließlich mitten ins Zellinnere hinein. Selbst wenn heute viele solcher molekularbiologischen Vorgänge bekannt sind, bleibt der größte Teil immer noch rätselhaft und im Verborgenen. Doch das wesentliche, das ausschlaggebende Geschehen scheint bereits recht gut verstanden zu sein.
Auch wenn die Betrachtung auf dieser »Mikroebene« eine etwas distanziertere Haltung zulässt und die Krebsentstehung auf einen biochemisch nachvollziehbaren Vorgang reduziert, nimmt die nüchterne, wissenschaftlich-sterile Sichtweise der Krankheit selbstverständlich kaum viel an Schrecken. Diese Ebene deutet aber das enorme Wunder unseres Organismus und seiner komplexen Funktionen an, die immer auch Chancen bieten.
In diesem individuellen Universum sind vielfältige, hochsensible Sicherheitskräfte im Einsatz, die in aller Regel durch Chemiewaffen von außen, das heißt: durch eine Chemotherapie hoch gefährdet werden. Es scheint damit nur umso plausibler, jede massive Störung dieser Art strikt zu unterlassen. Das vor allem auch, weil sie bis heute nicht ausschließlich auf Tumorzellen fokussierbar ist, sondern immer auch die gesunden Organe und Zellverbände attackiert.
Für gewöhnlich beginnt eine Zelle erst dann zu wachsen, wenn sie vom Umfeld dazu aufgefordert wird, was eben in jener komplexen »Molekülsprache« geschieht.
Rezeptoren, Empfängermoleküle an der Zelloberfläche, übernehmen die Funktion von Antennen. Sie erfüllen dabei verschiedene Aufgaben und können Wachstumsfaktoren aufnehmen – genau jene Moleküle, die von anderen Zellen zu gegebener Zeit ausgesandt werden, um das Zellwachstum anzuregen. Der Rezeptor gibt diese Botschaft in einer vielstufigen Signalkaskade zum Zellkern hin weiter. Dabei kann einiges schiefgehen, sobald ein Proto-Onkogen mutiert ist. Werden dadurch dann Unmengen an Wachstumsfaktoren ausgeschüttet,...